Titelthema
Das kulturelle Herzstück Europas
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts erschien Russland auf der Kulturlandkarte Europas, zunächst ganz am Rand, später im Zentrum. Zu verdanken ist das den Viardots, dem Dichter Iwan Turgenjew und einigen anderen.
Am 3. November 1843 gab die großartige Sopranistin Pauline Viardot ihr Debüt in Russland als Rosina in „Der Barbier von Sevilla“. Zar Nikolaus hatte ein Vermögen bezahlt, um den damals 22-jährigen Jungstar mit der italienischen Truppe von Giovanni Rubini nach St. Petersburg zu holen. Solche Ausgaben seien aufgrund des Prestiges, das die italienische Oper in die russische Hauptstadt gebracht habe, völlig gerechtfertigt, meinte der Sprecher des Zaren, Faddei Bulgarin, der in The Northern Bee schrieb: „Ohne eine italienische Operntruppe würde es immer so aussehen, als ob in der Hauptstadt des führenden Weltreiches etwas fehlen würde! Es gäbe keinen Brennpunkt für Opulenz, Prunk und kultivierte Zerstreuung. In allen Hauptstädten Europas drückt sich die Raffinesse der Kultur der Gesellschaft besonders in der italienischen Oper aus.“
Gemeinsam mit Turgenjew
Russland war das letzte der großen europäischen Länder, dass der Begeisterung für die italienische Oper erlag. Es lag an der kulturellen Peripherie Europas und wurde von den Europäern als ein „barbarisches“ und halbasiatisches Land betrachtet. Pauline und ihr Ehemann Louis Viardot, ein linksgerichteter Journalist, Hispanist und Kunstexperte, hatten mehr als drei Wochen gebraucht, um von Paris aus dorthin zu reisen. Da es für den letzten Teil ihrer Reise von Berlin aus keine Eisenbahn gab, fuhren sie die verbleibenden 1600 Kilometer nach St. Petersburg mit der „Schnellpost“ und dann mit dem „Kibitka“, einem geschlossenen Wagen, der von Pferden über schlammige, holprige Straßen gezogen wurde.
Alternde Stars waren schon früher gekommen, um ihren Ruhm zu vergolden. Aber Viardot war die erste große Opernsängerin, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere auf Russisch sang. Die drei Spielzeiten, die sie dort verbrachte, blieben den Russen als eine Zeit in Erinnerung, in dem ihre Musikkultur einen europäischen Status erlangte, der den Opernhauptstädten Paris, London, Wien und Berlin ebenbürtig war. Und auch ihre eigene Karriere wurde dadurch in diesen europäischen Hauptstädten vorangetrieben. Denn über ihre Triumphe in St. Petersburg wurde in den Zeitungen berichtet, was 1848 zu ihrem ersten Engagement an der Pariser Opéra führte, und zwar in der Hauptrolle in Meyerbeers Oper „Le Prophète“.
Die Eisenbahn und die Presse brachten Russland im 19. Jahrhundert dem Westen näher. Auf ihrer ersten Reise nach St. Petersburg hatten die Viardots den damals wenig bekannten Dichter Iwan Turgenjew kennengelernt, der bald zum berühmtesten russischen Schriftsteller Europas werden sollte. Seine Aufzeichnungen eines Jägers wurden innerhalb von fünf Jahren nach ihrer Veröffentlichung 1852 in Russland (zweimal) ins Deutsche, (zweimal) ins Französische und (schlecht) ins Englische übersetzt.
Obwohl die Aufzeichnungen gewöhnlich als das „russischste“ Werk Turgenjews gelten, entstanden sie meist in Courtavenel, dem Landhaus der Viardots südöstlich von Paris, wo er 1849 in der Nähe von Pauline seinen, wie er es nannte, glücklichsten Sommer verbrachte. Wie viele Männer vor und nach ihm verliebte sich Turgenjew in sie während ihrer ersten Reise nach St. Petersburg. In den nächsten 20 Jahren folgte er den beiden durch ganz Europa, bevor er sich 1863 zusammen mit ihnen in Baden-Baden niederließ, nachdem Pauline sich von der Pariser Bühne zurückgezogen hatte. Als die Viardots 1871 nach Paris zurückkehrten, zog er bei ihnen ein und bewohnte zwei Zimmer im obersten Stockwerk ihres Hauses in der Rue de Douai.
Es begann mit Pauline und Liszt
Mittlerweile gab es eine Eisenbahnverbindung, die es ihm ermöglichte, jedes Jahr nach Russland zurückzukehren. Die Reise verkürzte sich auf nur drei Tage. Auf seinen Reisen lernte er die Musik der „Mächtigen Fünf“ – Balakirew, Cui, Mussorgski, Borodin und Rimski-Korsakow – kennen. Er schickte ihre Musik an Pauline, die sich zusammen mit Liszt als erste für die Sache der russischen Musik in Europa einsetzte. 22 dieser importierten Partituren landeten im Pariser Konservatorium, wo sie von Debussy studiert wurden, der sie wahrscheinlich schon bei seinem Abschluss 1879 kannte, als er als Musiklehrer und Begleiter von Nadezhda von Meck, einer Mäzenin von Tschaikowsky, nach Russland ging.
Turgenjew war von dem jungen Tschaikowsky noch mehr begeistert als von den nationalistischen Komponisten der Mächtigen Fünf. Tschaikowsky war ein russisch-europäischer Komponist, ausgebildet an der von Deutschen dominierten Akademie in St. Petersburg, kein russischer Nationalist.
Plötzlich populär in Frankreich
Turgenjew hatte bei seinen Besuchen in Russland ein besonderes Augenmerk auf Tschaikowskys Musik. Besonders beeindruckt war er von den Sechs Romanzen Op. 6, die er 1871 bei einem Tschaikowsky-Konzert in Moskau hörte. Er schickte die Musik an Pauline. Und ihr gefielen die Stücke so gut, dass sie diese in ihr Konzertrepertoire aufnahm und sie in Frankreich populär machte.
Als Turgenjew im Sommer 1874 wieder in Russland auf Reisen war, schickte er Pauline eine Klavierbearbeitung von Tschaikowskys symphonischer Dichtung Romeo und Julia, die sie bei den öffentlichen Klavierabenden spielte, für die sie damals besonders in Paris bekannt war. (Sie hatte eine Ausbildung als Pianistin absolviert, wurde von Liszt unterrichtet und hätte gut als Pianistin Karriere machen können).
Von Turgenjew ermutigt, komponierte Pauline auch Lieder im russischen Stil mit Worten der großen russischen Dichter, die Turgenjew in einer russischen Albenreihe veröffentlicht hatte. Pauline schrieb bereits seit ihrer Teenagerzeit Lieder und Kammermusik. Nachdem sie sich von der Bühne zurückgezogen hatte, begann sie verstärkt zu komponieren und schuf unter anderem mehrere Operetten mit Turgenjew als Librettisten.
Die Tür öffnete sich
Die russischen Emigranten in Paris nannten Turgenjew scherzhaft den „Botschafter der russischen Intelligenz“. „Für durchweg alle Russen, die in irgendeiner Weise mit dem Schreiben, der Kunst oder der Musik in Verbindung standen, setzte sich Turgenjew ein“, schrieb der Soziologe Maxim Kowalewski 1908.
So förderte Turgenjew den jungen Maler Alexej Charlamow in Paris. Er beauftragte Charlamow, Porträts von Pauline, Louis und ihm selbst zu malen, die zusammen im Salon in der Rue de Douai aufgehängt wurden. Mit Unterstützung von Louis, einem anerkannten Kunstexperten, öffnete er mehreren russischen Künstlern (Charlamow, Archip Kuindschi, Mark Antokolski und Wassili Wereschtschagin) die Tür zum Pariser Kunstmarkt. Zu dieser Zeit wuchs das europäische Interesse an russischer Kunst.
Russische Kunst war en vogue
1878 organisierte Turgenjew eine groß angelegte Ausstellung von Wereschtschagins Werk, schaltete Anzeigen in den Zeitungen, verfasste unterstützende Artikel und überzeugte über 30 Kritiker davon, die Pariser Ausstellung in der französischen und internationalen Presse zu rezensieren. Diese Ausstellung war ein voller Erfolg und zog 50.000 Besucher an, die in langen Schlangen am Cercle artistique de la rue Volney warteten, um die überdimensionalen Leinwände mit Szenen von zentralasiatischen Steppen und Schlachten zu sehen. Vergleichbare Erfolge konnte Wereschtschagin 1881 in Wien verbuchen, wo schätzungsweise 130.000 Menschen, ein Sechstel der erwachsenen Stadtbevölkerung, die Ausstellung besuchten, und dann im folgenden Jahr in Berlin, wo 134.000 zahlende Besucher seine Werke bewunderten.
Und dann kam die Literatur
Turgenjew förderte auch russische Schriftsteller in Europa. Er handelte Buchverträge für Ostrowski, Gontscharow, Alexej Tolstoi und Saltykow-Schtschedrin aus – sie alle verdankten Turgenjews Agentur ihren Eintritt in den europäischen Literaturmarkt. Sein wichtigster Beitrag bestand jedoch darin, die Aufmerksamkeit der europäischen Leserschaft auf Tolstois Roman Krieg und Frieden (1865) zu lenken. Wann immer er bei Soirées, bei Abendessen und in den Salons jemandem begegnete, sprach er über dieses Buch. Als 1878 endlich eine französische Übersetzung erschien, kaufte er so viele Exemplare wie möglich auf, um sie an seine literarischen Freunde zu schicken: etwa an Flaubert und Zola, deren Werke er in Russland bekannt machte, oder an Bodenstadt und Fontane. Die erste Übersetzung des Romans ins Deutsche erschien 1885, drei weitere folgten vor dem Ersten Weltkrieg. Die Russen waren in der europäischen Literaturszene angekommen.
Turgenjew starb 1883, Louis Viardot im selben Jahr, doch Pauline lebte noch weitere 27 Jahre. So konnte sie noch miterleben, wie die „Ballets Russes“ Paris im Sturm eroberten. Als sie 1910 starb, nahm Russland keine Randstellung mehr in der europäischen Kultur ein – es war das Herzstück.
Buchtipp
Orlando Figes
Die Europäer: Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur
Hanser Berlin 2020,
640 Seiten, 34 Euro
Orlando Figes ist seit 1999 Professor für neuere und neueste russische Geschichte am Birkbeck College an der Universität von London. Er zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens und zu den herausragenden Publizisten zur russischen Geschichte.
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