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Das lateinische Gesicht Europas

Forum - Das lateinische Gesicht Europas
Dr. Friedemann Richert ist seit 2011 Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Künzelsau. Der Theologe ist Autor mehrerer Bücher und lebt mit seiner Ehefrau Barbara in Künzelsau. © Eva Bild

Psychologie, Zeiteinteilung, Mentalität: Wenn wir das gute Leben Europas bewahren wollen, müssen wir seine Latinität erhalten

01.10.2020

Bis heute erklingt in Europa der hohe Ton eines guten Lebens. Begründet ist dieser in seinem lateinischen Erbe, welches heißt: lateinische Kirche, lateinische Schrift, lateinisches Recht. Diesem Erbe entstammt – im Wechselspiel mit der griechischen Antike – die Idee des freien und würdigen Bürgers, der vom Staat geschützt wird. Im lateinischen Gesicht Europas leuchtet uns diese Idee bis heute hell entgegen und lädt jeden Menschen ein, sich dieser anzuschließen, sofern er selbst dieses lateinische Gesicht mit seinem Lebensvollzug achten will. Denn der Gründungsidee Europas liegt die wahrhaftige Einsicht zugrunde, dass der Mensch nicht etwas, sondern ein jemand ist. Dafür steht der kirchlich geprägte Begriff der Person. Person zu sein, heißt, in Menschenwürde zu leben, heißt, als Seelenwesen geachtet zu werden.

Geboren in der Beichte

So nimmt es nicht wunder, dass die europäische Psychologie, das moderne Standbein Europas, ein Kind der Kirche ist: Von den geistigen Lehrern Platon und Aristoteles in Seelsorge, Theologie, Ethik und Politik bestens geschult, betrachtete die lateinische Kirche die Seele des Menschen als sein himmlisches Lebensprinzip. Diese Erkenntnis schlug sich dann in den Beichtspiegeln des Mönchtums nieder. Denn nicht der Körper, sondern die Seele ist der Wesenskern des Menschen. Daher kommt die treffende, kirchliche Definition der Seele: „anima forma corporis est“, die Seele ist die Form des Körpers. Daher gilt es, die Seele zu pflegen. Hierfür dient die Beichte. Insofern ist die Beichte als Geburtsort des Individuums auszumachen. Und das ist wiederum ein Signum Europas. Und der Clou hierbei ist, dass alle, die eine persönliche Kritik an der Kirche und dem Glauben formulieren, sich nolens volens kirchlichen Denkens bedienen.

Herrscher über alle Zeiten

Auch unsere Zeiteinteilung ist ein Erbe der lateinischen Kirche: Mit ihrem linearen Zeitverständnis nach Zukunft und Vergangenheit hat die Kirche eine geistige Beweglichkeit in die europäische Kultur eingetragen, die ihresgleichen sucht. Diesem Zeitverständnis wird Christus als Pantokrator zugrunde gelegt, der somit Herrscher über alle Zeiten ist. Christus aber wird als Zeitenherr wiederkommen. Deswegen ist die Zukunft an sich gut, eine Einsicht, die sich in den Adventssonntagen und den Weihnachtstagen niedergeschlagen hat. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt; erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür. Dieser Kinderreim benennt trefflich das Gute der Zukunft als Güte in der Zeit: Christus selbst ist der Gewährsmann für die gute Zeit, die sich von der bösen abhebt. Erst dadurch verbreitete sich in Europa ein geordneter Umgang mit dem Zählen der Zeit nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bis hin zur grammatikalischen Höchstform des Futurperfekts, also der Erkenntnis: Ich werde gewesen sein. Das zu denken setzt ein höchst gebildetes, intentional-abstraktes Denkvermögen voraus. Solches wurde in den kirchlich gegründeten Schulen und Universitäten Europas gelehrt. Man bedenke einmal: Schule und Universität sind Gründungen der lateinischen Kirche!

Die Kategorie der Nichtzeit

Ein völlig anderes Denken begegnet uns im afrikanischen und arabischen Zeitverständnis. Dort wird das, was noch nicht geschehen ist, der Kategorie der Nichtzeit zugeordnet. Diese Nichtzeit kann darum nicht gedacht und geplant werden. So schreibt der afrikanische Religionsphilosoph John S. Mbiti: „Der lineare Zeitbegriff im westlichen Denken mit unbegrenzter Vergangenheit, flüchtiger Gegenwart und unendlicher Zukunft ist der afrikanischen Mentalität völlig fremd. Die Zukunft scheidet praktisch aus, da in ihr liegende Ereignisse nicht stattgefunden haben, unverwirklicht sind und daher keine Zeit darstellen können.“ Ganz anders unsere lateinische Zeit: In ihr werden Zeit und Zukunft als Maß für das gute Leben verstanden. Nicht umsonst sind die Begriffe Fortschritt und Entwicklung unserem europäischen Denken geschuldet. Wenn wir also das gute Leben Europas bewahren wollen, müssen wir seine Latinität erhalten. 

Dr. Friedemann Richert 


Buchtipp


Friedemann Richert

Das lateinische Gesicht Europas – Gedanken zur Seele eines Kontinents

Georgiana, Evangelische Verlagsanstalt,

200 Seiten, 20 Euro

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