Standpunkt
Das Präsenzrecht ist ein Privileg
Wichtiger als ein strenges Präsenzen-Regime ist ein positives Umdenken, um Meetings nicht länger als Pflicht zu begreifen. Ein Update von Paul Meie
Der Gesetzgebende Rat von RI, das Council on Legislation, verabschiedete 2016 eine neue, beinahe schon revolutionäre Weisung bezüglich der Präsenzvorgaben. „Clubs können ihre Präsenz- und Ausschlussregeln (bei unzureichender Präsenz) beliebig lockern oder straffen. Sie müssen aber nach wie vor Präsenzberichte an den Governor schicken. Es steht Clubs frei, sich nach wie vor an die traditionellen Regeln zu halten“, so berichtete die Zentrale in der deutschsprachigen Ausgabe ihres Resümees über die CoL-Beschlüsse. In der englischen Fassung fehlt übrigens das Wort „beliebig“. Im gleichen Jahr entschied die verfassungsgebende Versammlung von RI eine weitere Neuerung: „Clubs können ihre Meetings ändern, umlegen oder absagen, solange sie sich mindestens zweimal im Monat treffen. Clubs steht es aber auch frei, weiterhin die traditionellen Regelungen zu Meetings und Absagen zu befolgen.“
Englische Begriffe setzen den Maßstab
So weit, so gut. Die einzelnen Clubs wären somit berechtigt, selbst zu entscheiden, wie sie die Präsenzpflicht ihrer Mitglieder handhaben wollen. Die Betonung liegt auf „wären“, zumal RI über die „Einheitliche Verfassung für Rotary Clubs“ immer noch an Prozentsätzen festhält. „Mindestens 60 Prozent“, schreibt Rotary International in Artikel 10, Absatz 1, Abschnitt a, „mindestens 50 Prozent“ in Artikel 13, Absatz 4, Abschnitt a, Ziffer 1 und „mindestens 30 Prozent“ in Ziffer 2. Stephanie Theobald vom Europa/ Afrika-Büro von RI in Zürich erklärt dazu: „Die unterschiedlichen Prozentsätze beziehen sich auf zwei unterschiedliche Aspekte. Bei den 60 Prozentpunkten geht es darum, wie lange man an einem Meeting dabei sein müsse, um eine offizielle Präsenz erwirken zu können. Der Artikel 13 definiert die Anzahl der besuchten Clubtreffen pro Halbjahr – mindestens 50 Prozent generell und mindestens 30 Prozent der Treffen des eigenen Clubs.“ Bei all diesen Zahlen handle es sich um Richtwerte, die vom Club in eigener Kompetenz angepasst werden können.
Übrigens verlockt die Übersetzung von RI-Akten zu unterschiedlichen Interpretationen. Ein Beispiel dafür ist die deutschsprachige Fassung der Musterstatuten. In Artikel 10, Absatz 1 heißt es: „Jedes Mitglied sollte an den regulären Zusammenkünften dieses Clubs oder an denen des Satellitenclubs teilnehmen und sich bei den Dienstprojekten und anderen Veranstaltungen und Aktivitäten dieses Clubs einbringen.“ Rocco Olgiati, Co-Delegierter des Distrikts 1980, Rechtsanwalt und Mitglied des RC Lugano-Lago, hat verschiedene Sprachversionen miteinander verglichen. In der englischen Variante lautet der entsprechende Begriff „should“, in der italienischen „deve“, in der französischen „doit“, in der spanischen „déberan“. Sollen oder müssen? Englisch ist die offizielle Sprache am Council on Legislation. Rotary International besteht darauf, dass maß gebend sei, was in englischsprachigen Dokumen ten veröffentlicht werde. RI bewertet die Wörter „should“ und „must“ als gleichwertig, die Übersetzung von „should“ mit „sollte“ sei in diesem Kontext nicht adäquat.
Rechte und Pflichten gleichermaßen
Mit der Aufnahme in einen Rotary Club erklärt man sich dazu bereit, Verpflichtungen zu akzeptieren, sich mit rotarischen Werten zu identifizieren, Projekte mitzutragen und Chargen zu übernehmen. Gleichzeitig profitieren die Mitglieder von Privilegien: Sie erhalten den Zutritt zu einem breit gefächerten gesellschaftlichen und beruflichen Netzwerk, wie es nur ein Serviceclub offerieren kann. Und sie sind legitimiert, überall auf der Welt an Meetings von Clubs, von Distrikten, von Rotary International teilzunehmen, Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen, Sprachregionen und Generationen zu pflegen und auf diese Weise ihren Horizont zu erweitern.
Der Begriff „Präsenzpflicht“ entpuppt sich in diesem Sinn als Unwort, denn es ist schließlich ein großartiges Recht, das den Mitgliedern eingeräumt wird, und müsste signifikant höher gewichtet werden. Die Erfahrungen im rotarischen Alltag zeigen aber leider das Gegenteil: Vielen von uns fehlt die Courage, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, eigene Clubgrenzen zu überschreiten. Eine Umfrage nicht nur bei deutschsprachigen Clubs würde vermutlich ergeben, dass das Gros der Mitglieder noch nie einen Fuß in einen Nachbarclub gesetzt, geschweige denn auf Reisen von seinem Gastrecht Gebrauch gemacht hat. Bedauerlicherweise. Daher: Wenn in einem Club das Thema „Präsenzen“ zu einem Dauerbrenner ausartet, ist das kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. „Auf ihren Treffen kommen die Mitglieder freundschaftlich zusammen, man spricht über anliegende Dinge, bildet sich fort durch anregende Vorträge – und tauscht Ideen zum humanitären Engagement aus“, schreibt RI auf seiner Webseite. Diskussionen um Statuten und Präsenzregeln sind damit sicherlich nicht gemeint.
Diskutieren Sie mit und beteiligen Sie sich an unserer Meinungsumfrage zu diesem Standpunkt: rotary.de/#umfrage
Paul Meier, RC Solothurn-Land, Past-Governor D1980 (Schweiz/ Liechtenstein) 2012/13