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Der große Knall

Titelthema - Der große Knall
Scheinbare Idylle in Degerloch: Die Bewohner, offenbar aktiv in der Bettlerszene, sind ins Visier der Polizei geraten. © Dennis Orel und Benjamin Tafel (alle)

Cem Özdemir triumphierte bei der Bundestagswahl in seinem Stuttgarter Wahlkreis. Ist das mehr als ein Wetterleuchten?

Armin Käfer01.11.2021

Stuttgart ist der Politik seiner Zeit öfter mal einen Schritt voraus gewesen. Das war schon vor mehr als 100 Jahren so. 1918 begann die Novemberrevolution, die den Deutschen die Demokratie brachte, am Neckar ein paar Tage früher als in Berlin. Damals war ein Missverständnis schuld, dass Stuttgarter zu Vorkämpfern wurden. Hier erschien in jenen Tagen übrigens auch die erste Ausgabe der Roten Fahne, des revolutionärsten aller Revolutionsblätter. Erst danach zog die Revoluzzer-Redaktion in die Reichshauptstadt um. Für die linken Heroen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war die Rote Fahne also gewissermaßen ein schwäbischer Import.


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Avantgarde ist Stuttgart auch bei einer aktuellen politischen Modefarbe. Ausgerechnet in der Automobilmetropole ist Deutschland früher und intensiver ergrünt als anderswo. Hier verbuchte Cem Özdemir bei der Bundestagswahl vor wenigen Wochen das beste Erststimmenergebnis für die Grünen zwischen Flensburg und Oberammergau: glatte 40 Prozent. Das ist mehr als im multikulturellen Kreuzberg, im hippen Berlin-Mitte oder im studentisch-alternativen Heidelberg. In den Stuttgarter Innenstadtbezirken waren es sogar bis hin zu knapp 47 Prozent – ein Wert, auf den die CDU selbst zu Helmut Kohls Zeiten stolz gewesen wäre.

Der Stuttgarter Özdemir schaffte 1994 auch deutschlandweit als erster Kandidat mit Migrationshintergrund den Sprung in den Bundestag. Der Südwesten ist ein Nährboden für die Grünen, solange es diese gibt. Sie hatten unweit von Stuttgart ihren ersten Bundesparteitag: 1980 in Karlsruhe. Noch im gleichen Jahr zogen sie in den Stuttgarter Landtag ein – und damit erstmals in das Parlament eines deutschen Flächenstaats. In Oberschwaben wurde 1991 der erste Grüne zum Bürgermeister gewählt. Seit 2011 residiert Winfried Kretschmann als erster grüner Ministerpräsident in der Villa Reitzenstein hoch über dem Stuttgarter Talkessel.

Ein Jahr danach wählten Stuttgarts Bürger mit Fritz Kuhn den ersten grünen Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt. Stuttgart ist überhaupt die einzige unter den zehn größten Städten Deutschlands, in der die Grünen den Chefsessel im Rathaus erobern konnten. Das ist – in Ermangelung eines geeigneten Nachfolgekandidaten – freilich auch schon wieder Geschichte.

Auf den ersten Blick spielt diese grüne Erfolgsgeschichte am falschen Ort: Warum gerade in der Industriestadt Stuttgart, wo die Fabrikhallen von Daimler das Neckarufer verschandeln, es zum guten Ton gehört, ein Auto mit Mercedesstern oder einen röhrenden Porsche zu fahren, und 58 Jahre lang ohne Unterbrechung die CDU regiert hatte? Das hat historische, strukturelle, aber auch personelle Gründe – und zufällige.

Hüter der schwäbischen Tugenden

Baden-Württemberg war der erste Abenteuerspielplatz der Grünen, bevor sich diese überhaupt so nannten und als Partei formiert hatten. Einer der grünen Wege zum Erfolg begann in Wyhl am Kaiserstuhl. Dort war in den 1970er Jahren ein Atomkraftwerk geplant. Es wurde das erste in Deutschland, das am Protest scheiterte. Der erfolgreiche Widerstand gegen dieses Projekt war ein Biotop, aus dem die Grünen wenige Jahre später als neue politische Spezies erwachsen sind. Schon in Wyhl hatte sich gezeigt, dass ein Geheimnis ihres Erfolgs im Zusammenwirken von ländlichen und urban-universitären Milieus liegt – man könnte auch sagen: von eher biederen Leuten mit tendenziell konservativen Motiven und solchen, die man heutzutage als Hipster bezeichnen würde.

Der Spruch „Atomkraft, nein danke!“ ist in Baden-Württemberg fast so populär wie die Gedichte des Schwaben Friedrich Schiller, weil das Land bis vor Kurzem in einer Weise von Kernenergie abhängig war wie sonst allenfalls die Nuklearnation Frankreich. Es gab drei Atomkraftwerke im Südwesten, dazu mit Fessenheim einen besonders maroden und pannenanfälligen Meiler jenseits des Rheins in Frankreich sowie zwei weitere auf Schweizer Terrain unweit der Grenze zum Schwarzwald. Der Anti-Atom-Reflex gehört zur Identität vieler Badener und Württemberger – erst recht zum Gencode der Grünen-Wähler.

Der grüne Triumph bei der Landtagswahl 2011 schien für das politische Establishment, das bis dato schwarz durchfärbt war, zunächst wie ein Betriebsunfall. Und ein solcher ging ihm auch voraus – 9500 Kilometer Luftlinie weiter im Osten. Die Reaktorkatastrophe in Fukushima kurze Zeit vor der Wahl wirkte wie Reklame für eine Partei, die ihre Existenz dem Protest gegen diese Technologie verdankt. Die Ländle-CDU hatte sich zuvor für einen Aufschub des Atomausstiegs stark gemacht.

Zudem hatte in ihrem Namen mit Stefan Mappus der bis dahin unbeliebteste Ministerpräsident kandidiert. Sein brachiales Ungeschick bei dem Versuch, das Terrain für das Milliardenprojekt Stuttgart 21 zu planieren, schürte einen Unmut, der auch bürgerliche Kreise infizierte, in denen Protestwähler bis dahin selten waren. Die Kosteninflation bei dem ohnehin umstrittenen Bahnhofsneubau sind eine Provokation für jeden Schwaben. Auch in den Halbhöhenlagen der Hügel rund um die Stuttgarter City, wo die Villen angesiedelt sind, wuchs das Unverständnis für ein Vorhaben, das die Stadt für anderthalb Jahrzehnte in eine Großbaustelle verwandeln sollte.

Die Grünen waren die einzige Partei von Belang, die Stuttgart 21 kritisch gegenüberstand – insofern Adressat jener keineswegs unbedeutenden und schon gar nicht schweigsamen Minderheit der Projektgegner, die bei der Volksabstimmung 2011 in der Stadt auf immerhin 47,1 Prozent anschwoll.

Während Mappus wie eine Dampfwalze den bürgerlichen Rückhalt der CDU zermalmt hat, erwies sich Winfried Kretschmann für die Grünen als richtiger Mann zur richtigen Zeit. Er ist das Gegenteil eines Bürgerschrecks: Häuslebesitzer und Mercedesfahrer, so kauzig wie viele Schwaben, wegen seines biederen Habitus, seiner religiösen Bindungen, seines unverwechselbaren Dialekts als bodenständig ausgewiesen – und damit wählbar auch für den Teil der CDU-Klientel, die wegen Fukushima, Mappus und Stuttgart 21 ihr Kreuz anderswo hinsetzen wollten.

2021, titelthema, käfer
In der Stadt mit Deutschlands wohl ältestem Hundesalon, wurden Pudel früher als Polizeihunde eingesetzt.

Während die Grünen etwa in Frankfurt, Berlin oder Hamburg ein eher antibürgerliches Image pflegen, haben sie sich in Stuttgart dank Kretschmann als bürgerliche Partei neuen Typs etabliert. Sie waren in ihrem Heimatland Baden-Württemberg nie ein linkes Projekt, vielmehr „eine Volkspartei der Akademiker und Dienstleister“, wie der Politologe Reinhold Weber sie umschreibt. Beide Zielgruppen sind in Stuttgart zahlreich vertreten. Die Automobilmetropole gilt auch als Stadt mit der größten Architektendichte. Sie verfügt wegen ihrer Prosperität und vieler Sponsoren über eine breit gefächerte Kulturszene. Die Mehrheit verdient ihr Geld nicht in der Industrie, sondern im Dienstleistungssektor. An den zwei Stuttgarter Universitäten und fünf staatlichen Hochschulen studieren und lehren knapp 70.000 Menschen – was fast 20 Prozent der Wahlberechtigten entspricht.

Kretschmann verkörpert die „kulturelle Nähe“ der baden-württembergischen Grünen zur CDU, auf die der Meinungsforscher Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach verweist. Er gebärdet sich gerne als Hüter schwäbischer Tugenden. Kretschmann etablierte sich in Stuttgart wie ein besserer CDU-Ministerpräsident. So redet er und so tritt er auf.

Habecks Masche ist ein alter Hut

Die Autoindustrie hat von ihm nichts zu befürchten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung attestiert ihm, er sei ein „grüner Wirtschaftsversteher“. Vor der letzten Landtagswahl hat er eine Art konservatives Manifest veröffentlicht und damit eine Marktlücke gefüllt, welche die CDU nicht mehr glaubwürdig bewirtschaftet hat. Untertitel des Buches: „Für eine neue Idee des Konservativen“. Auf Plakaten warb er mit einem Spruch von Angela Merkel: „Sie kennen mich.“ Ähnlich talentiert merkelt allenfalls noch Olaf Scholz.

Grün ist in Stuttgart das neue Schwarz. Die Grünen nennen sich selbst „Baden-Württemberg-Partei“. Die Oberrealo-Manier, in der Robert Habeck neuerdings bürgerliche Wechselwähler umwirbt, pflegen seine Kollegen im Südwesten schon lange – wenn sie diese nicht gar erfunden haben. Wegen der geringen Arbeitslosigkeit, vieler gut dotierter Jobs auch für Nichtakademiker und einer wenigstens in dieser Hinsicht vorausschauenden Wohnungsbaupolitik, die keine sozialen Ghettos entstehen ließ, sind die Schattenseiten eines Einwanderungslandes hier weniger offenkundig als vielerorts. Das erweist sich für eine Partei, die für Multikulti einsteht, als segensreich.

Wie tief das Land schon grün durchfärbt ist, wird sich zeigen, wenn Kretschmann in Rente geht. Lange hat es an geeigneten Nachfolgern gefehlt. Cem Özdemir zierte sich, der Freiburger Grünen-OB Dieter Salomon machte sich unbeliebt, sein Tübinger Kollege Boris Palmer, einst ein Kretschmann-Schützling, ist in der eigenen Partei inzwischen unvermittelbar. Die grünen Hoffnungen ruhen jetzt auf dem neuen Finanzminister Danyal Bayaz, der bürgerliche Attitüde (Familienmensch) mit einem szeneadäquaten Auftreten verbindet und auch genügend MultikultiFlair mitbringt, was in einer Stadt, in der bald jeder Zweite über einen Migrationshintergrund verfügt, nur nützlich sein kann.

Bei der OB-Wahl im vergangenen Jahr hat sich freilich gezeigt, dass der grüne Lack vielleicht auch nur ein dünner Firnis ist. Mit einer Verlegenheitskandidatin erlitten die Grünen in der Hauptstadt ihres Erfolgs Schiffbruch. So ist es ihnen auch in Freiburg und Konstanz ergangen – zwei Städten, die noch früher als Stuttgart ergrünt waren. 


Wahlergebnisse der jüngsten Bundestagswahl

Zweitstimmenergebnisse der gesamten Stadt
Bündnis 90/ Die Grünen: 25,1 %
SPD: 21,1 %
CDU: 20,7 %
FDP: 16,0 %
AfD: 5,6 %
Die Linke: 5,1 %
Die Wahlbeteiligung lag bei 78,5 %.

Wahlkreisgewinner Stuttgart I
Cem Özdemir (B90/ Die Grünen): 40 %

Stuttgart II
Maximilian Mörseburg (CDU): 25,9 %

Quelle: stuttgart.de


 Fotoprojekt


Die Fotos der Titelstrecke stammen aus dem Buch Stuttgart! Eine Stadt im Süden Deutschlands von Dennis Orel und Benjamin Tafel, 2015 erschienen im Hatje Cantz Verlag, 256 Seiten. Es ist vergriffen, aber evtl. noch erhältlich bei ZVAB oder anderen Antiquariatsportalen.

Armin Käfer
Armin Käfer arbeitet seit 1989 für die Stuttgarter Zeitung. Von 2005 bis 2016 leitete er das Korrespondentenbüro in Berlin. Seit 2016 ist Käfer Titelautor der Stuttgarter Zeitung. 2011 und 2017 war er für den Theodor-Wolff-Preis nominiert.