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Titelthema

Der Rechtsstaat unter Druck

Eines der wichtigsten Fundamente unserer Demokratie ist das Recht. In jüngster Zeit wird jedoch das Verständnis davon – von innen wie außen – infrage gestellt.

01.09.2017

Neben dem Föderalismus ist der Rechtsstaat der wohl wichtigste Beitrag, den das deutsche Staatsrecht zur Hervorbringung des modernen Verfassungsstaates westlicher Prägung geleistet hat. Mit der im 19. Jahrhundert etablierten Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes, mit ihrer Erstreckung auf die Rechtsprechung und der nach 1949 etablierten Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gehört er zum änderungs- wie integrationsfesten Kern unserer Verfassungsordnung (Art. 79 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG).

 

Teil der nationalen Identität

Das Verfassungsrecht besteht bekanntlich nicht nur aus den einzelnen Normen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus sie verbindenden, innerlich zusammenhängenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die das vom Verfassungsgeber vorgefundene Gesamtbild geprägt haben. Das gilt namentlich für das Rechtsstaatsprinzip, das sich aus einer Zusammenschau der Bestimmungen von Art. 20 Abs. 3 GG, der Bindung der einzelnen Gewalten und den Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 Satz 1 GG sowie aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes ergibt.

Eine wesentliche Konsequenz dieses Rechtsstaatskonzeptes ist es, dass das Recht als Bindung der Politik verstanden wird, nicht als ihr williger Vollstrecker. Das schließt es zwar nicht aus, es auch als Steuerungsressource zu begreifen und seine Bereitstellungsfunktion zu betonen; im Rechtsstaatsprinzip wird man diese Dimension jedoch schwerlich verorten können.

Der Rechtsstaat im formellen Sinne ist nicht nur Teil der Verfassungsidentität des Grundgesetzes, sondern gehört auch in einem weiteren Sinne zur nationalen Identität Deutschlands. Letztere ist die Frucht einer „öffentlichen Erzählung“, die sich anhand einer Anzahl von „Einträgen in eine Art ,kollektives Wörterbuch’“ gebildet hat und – so sagen Sozialpsychologen – bis zu 400–500 Jahren zurückreichen kann.

Fragt man vor diesem Hintergrund nach den Wurzeln der im deutschen Kulturkreis besonders ausgeprägten Neigung, Politik zu binden, so haben die Deutschen – anders als ihre Nachbarn in den anderen Nationalstaaten des Westens – die Erfahrung gemacht, dass sich die komplexe politische Herrschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nur mit dem Mittel des Rechts einigermaßen bewältigen ließ und dass Gerichte – etwa das Reichskammergericht (1495) oder der Reichshofrat (1497/98) – wichtige Garanten der Interessendurchsetzung waren. Noch heute geläufig sind die Legende vom Müller von Sanssoucis und der ihm zugeschriebene Ausspruch „Il y a des juges à Berlin“ oder zentrale Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 – das Verhältnismäßigkeitsprinzip (§ 10 II 17 ALR) oder die Statuierung von Kompensationsansprüchen bei staatlichen Eingriffen in die Rechtsgüter des Einzelnen (§§ 74, 75 Einleitung PrALR) – die auf die gerichtlich durchsetzbare Bindung und Mäßigung der monarchischen Exekutive setzten. Nicht von ungefähr konnte Immanuel Kant daher ausgangs des 18. Jahrhunderts formulieren: „Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden.“

Dieser Ansatz hat in (öffentlich)rechtlicher Hinsicht auch das 19. Jahrhundert geprägt. Nach vereinzelten Ansätzen im Vormärz kam es im Gefolge der Revolution von 1848/49 zu jenem „historischen Kompromiss“ zwischen monarchischem und demokratischem Prinzip, das Deutschland den Rechtsstaat in seiner formellen oder spezifisch etatistischen Variante beschert hat. Mit Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes wurde die monarchische Exekutive nicht nur im Sinne des Legalitätsprinzips gebunden, sondern dem Bürgertum auch weitgehende persönliche Freiheiten als (unvollständiges) funktionales Äquivalent für die Demokratie garantiert. Dem (Verwaltungs-)Recht kam dabei – um ein Wort Otto Mayers aufzugreifen – die Aufgabe zu, „die flutende Masse der Verwaltungstätigkeit“ einzudämmen; den nach und nach entstehenden Verwaltungsgerichten die Aufgabe, die Regeln des Rechtsstaats zu operationalisieren. Die NS-Diktatur hat dieses Erbe dann verraten.

 

Die Bundesrepublik als Rechtsstaat

Die Jahre nach 1949 sind geprägt durch den Aufbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine flächendeckende Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und eine Perfektionierung des gerichtlichen Rechtsschutzes. Sie erscheinen insoweit als konsequente Fortsetzung und Vollendung des bereits im 19. Jahrhundert eingeschlagenen Weges. Das öffentliche Recht der „alten“ Bundesrepublik, Bundesverfassungsgericht, die Staatsrechtslehre jener Jahre, prägend unter ihnen Ernst Wolfgang Böckenförde, Konrad Hesse, Peter Häberle und Peter Lerche, aber auch Zivilrechtler wie Claus Wilhelm Canaris konzentrierten ihre Energien auf die immer üppigere Entfaltung der Grundrechte, auf die Konstitutionalisierung der (einfachrechtlichen) Rechtsordnung und auf eine kontinuierliche Ausweitung subjektiver öffentlicher Rechte. Zweifel an dieser Entwicklung gab es kaum. Erst gegen Ende der 1980er-Jahre tauchen Klagen über eine Hypertrophie des Rechtsstaates und eine mangelnde internationale Anschlussfähigkeit der deutschen Grundrechtsdogmatik auf sowie Warnungen vor einem „gouvernement des juges“, einem Rechtswege- und Richterstaat.

Mit anderen Worten: Politik in Deutschland war schon immer nicht nur das demokratische Ringen um politische Mehrheiten, sondern auch Problembewältigung mit Hilfe des Rechts und der Gerichte. Dieser Akzent auf einem regelorientierten, die Politik begrenzenden Verständnis des Rechts zwingt die Rechtsprechung allerdings auch in die Rolle einer strukturellen Opposition zu den herrschenden Mehrheiten. Nicht von ungefähr wird der Schutz der Grundrechte daher als Minderheitenschutz verstanden. Auch die bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren zum Maastrichter Vertrag, zur Euro-Einführung, zum Vertrag von Lissabon, zur Griechenland-Hilfe und zur EFSF, zum ESM und zum OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank haben – faktisch und ungewollt – die Funktion erfüllt, Defizite des politischen und parlamentarischen Prozesses zu kompensieren und damit nicht unerheblich zur Akzeptanz der in Rede stehenden Entscheidungen beigetragen.

 

Druck von außen

Die deutsche Rechtsstaatskonzeption ist jedoch unter Druck geraten. Auf europäischem Parkett stößt sie an unterschiedliche Grenzen, aber auch im nationalen Kontext ist eine Erosion zu beobachten. Dazu trägt zunächst bei, dass auf der Ebene der Europäischen Union Kompetenzzuweisungen und Verfahrensanforderungen laxer gehandhabt werden als im nationalen Kontext, während bei materiellen Wertentscheidungen eine eher formalistische, am Wortlaut haftende Herangehensweise vorherrscht.

Das zeigt insbesondere die anhaltende Finanzkrise, deren Bewältigung unter juristischem Blickwinkel eher französischen als deutschen Denkmustern zu folgen scheint. Diese Diskrepanz dürfte eine wesentliche Ursache vieler Missverständnisse, Konflikte und Enttäuschungen sein. Sie erklärt aber, warum der Europäische Gerichtshof den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) mit einer relativ lapidaren Begründung billigen konnte, obwohl damit – jedenfalls nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – die Bedeutung des in Art. 125 AEUV niedergelegten „Bail-out“-Verbots grundlegend verändert wurde, und weshalb er sich mit einer eher vordergründigen Betrachtungsweise begnügte, die darauf abstellte, dass mit den Hilfsmaßnahmen des ESM keine Schuldenübernahme im engeren Sinne stattfinde. „Hinter die Fassade“ der Regelungen zu schauen, wie es der irische Supreme Court in seinem Vorabentscheidungsersuchen genannt hat, die Wertungen der Verträge zu entfalten und der Politik Grenzen zu setzen, widersprach wohl (noch) dem Selbstverständnis des Gerichtshofes. Deshalb hatte er auch keine Bedenken dagegen, dass – außerhalb des Rechtsrahmens der Verträge – völkerrechtliche Anbauten wie der ESM-Vertrag stattfanden, obwohl es gerade aus seiner Sicht nahegelegen hätte, die Bestimmungen über Vertragsänderungen – Art. 48 EUV – als abschließende Regelung zu verstehen. In diesem Fall hätten Briten und Tschechen den ESM-Vertrag freilich blockieren können.

Es versteht sich von selbst, dass sich das deutsche Rechtsstaatskonzept in einer Europäischen Union von 28 Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres durchsetzen konnte. Es lässt sich aber auch nicht feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland etwa im Zusammenhang mit der Finanzkrise besondere Anstrengungen unternommen hätte, ein rigideres Verständnis der Verträge geltend zu machen oder durchzusetzen, wie es der Herangehensweise nach deutscher Lesart entsprochen hätte.

Auch im Innern hat die Bindung der Politik durch das Recht an Wirkmächtigkeit verloren. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie reichen von einer überbordenden Komplexität des Rechts, die zwar der immer komplizierteren Lebenswirklichkeit, divergierenden Vorgaben unterschiedlicher Ebenen und der offeneren Programmierung moderner Gesetze geschuldet ist, seine Gebote und Verbote jedoch verunklart, bis zur gesellschaftlichen Marginalisierung der Juristen und ihrer Verdrängung aus den Vorstandsetagen der Unternehmen, der steuer- und wirtschaftsberatenden Berufe und zunehmend auch der Verwaltung.

 

Erosionstendenzen im Innern

So mehren sich die Fälle, in denen die Recht- und Verfassungsmäßigkeit des Handelns von Regierung und Parlament mit gewichtigen Argumenten bezweifelt wird. Stichworte aus den vergangenen Jahren sind die Aussetzung der Wehrpflicht, der Atomausstieg, die Euro- oder die Flüchtlingskrise sowie die Tätigkeit nicht nur der deutschen Geheimdienste. Auch an den unzureichenden oder illoyalen Vollzug von – politisch nicht genehmem – Bundesrecht durch einzelne Länder haben wir uns längst gewöhnt.

Zwar gehört es im freiheitlichen Verfassungsstaat des Grundgesetzes gerade wegen des an sich hohen Stellenwerts des Rechtsstaats zum gängigen Arsenal politischer Auseinandersetzungen, die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns in Frage zu stellen; 137 Bände der amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Das Interesse der Öffentlichkeit an den deutlichen Erosionstendenzen des Rechtsstaats jedoch sinkt. Sie nimmt diese vielmehr mit gelangweilter Indifferenz zur Kenntnis.

Das berühmte Resümee Bärbel Bohleys – wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat – ist nach 1990 wohl nicht nur als lakonischer Hinweis darauf verstanden worden, dass es auch im Rechtsstaat des Grundgesetzes Ungerechtigkeiten gibt, sondern als Legitimation, sich im Interesse individueller Gerechtigkeits- oder Moralvorstellungen über das Recht auch einmal hinwegsetzen zu dürfen. Das hat dazu beigetragen, dass das Verständnis für die Bedeutung von Form-, Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften geschwunden ist und diese manchem als juristische Quisquilien erscheinen. Damit gerät jedoch nicht nur aus dem Blick, dass gerade diese formellen Anforderungen des Rechtsstaats Garanten von Legitimität und Rechtssicherheit der staatlichen Ordnung sind. Da es in ihm keine verbindliche Moral gibt, kann die Berufung auf individuelle Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen oder politische Opportunitätserwägungen die Abweichung vom Recht auch nicht rechtfertigen. Der Rechtsstaat existiert durch das Gesetz oder er existiert nicht!