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Titelthema

Der Widerstand steht für Rechtsstaat und Toleranz

Titelthema - Der Widerstand steht für Rechtsstaat und Toleranz
In den 1950er Jahren gab die Bundesregierung eine Briefmarke heraus, um der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 zu gedenken. © Adobe Stock Photo

Über den Missbrauch des Widerstands: Wie Rechtspopulisten sich auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus berufen

10.07.2024

Grundsätzlich wurde der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den westlichen Besatzungszonen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer noch direkt vom NS-Regime geprägten Gesellschaft mit nur wenigen Ausnahmen negativ bewertet. Es war das Odium des "Verrats" und des "Eidbruchs", das die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer lange Zeit umgab. Hierunter hatten nicht nur die unmittelbar beteiligten Überlebenden selbst zu leiden, sondern auch die Familienangehörigen der Menschen, die von der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz ermordet worden waren. Sie wurden vielfach gesellschaftlich ausgegrenzt und erhielten keine oder nur sehr spät eine materielle Entschädigung.

Die Bundesrepublik Deutschland tat sich sehr schwer mit der Anerkennung des gegen das NS-Regime gerichteten Handelns. Dies wurde auch in der Debatte um "Entschädigungsleistungen" seit den späten 1940er Jahren deutlich. So stellte 1951 die Oberfinanzdirektion München die Unterhaltszahlungen an die Witwe eines Obersten, der im Oktober 1944 vom "Volksgerichtshof" zum Tode verurteilt und Berlin-Plötzensee erhängt worden war, mit der Begründung ein, das Recht auf Fürsorge erlösche "mit dem Tag, an dem ein Fürsorge- und Versorgungsempfänger wegen eines Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt worden ist". Die nationalsozialistische "Rechtsprechung" galt in vollem Umfang weiter.

Der Deutsche Bundestag konnte sich übrigens erst 1998 dazu entschließen, die Urteile des "Volksgerichtshofs" und der Sondergerichte aufzuheben. Und erst 2002 hob er die Urteile der Militärjustiz auf, erst 2009 auch die Urteile wegen sogenannten "Kriegsverrates", – einer von den Nationalsozialisten eingeführten Norm, die immer weiter ausgeweitet wurde. Seit 1941 genügte – so ein zeitgenössischer Kommentar – für ein Todesurteil wegen "Kriegsverrats" – "jegliche Unterstützung der Ziele des Bolschewismus". Hunderte von Widerstandskämpfern wurden nach dieser Norm zum Tode verurteilt und ermordet – erst seit 2009 kann dieses Unrecht auch Unrecht genannt werden.

Doch es war lange Zeit einfacher, den Umsturzversuch entweder zu heroisieren, ihn zu entpolitisieren oder als "falsch und zu spät" zu diskreditieren. Tatsächlich handelte es sich um ein Attentat als Voraussetzung für einen Staatsstreich. Eine Militärherrschaft war nicht das Ziel der Verschwörer, sondern bestenfalls Mittel für einen gesicherten Übergang zu einer zivilen Nachkriegsregierung. Auch die zentrale Persönlichkeit des Umsturzversuches, Claus Schenk Graf von Stauffenberg wurde vielfach nur auf einige Facetten seiner Persönlichkeit und seiner Entwicklung reduziert.

Seit einigen Jahren ist der Widerstand gegen den Nationalsozialismus einer neuen Instrumentalisierung ausgesetzt, dieses Mal von der rechten bis rechtsextremen Seite des politischen Spektrums. Diese Strömungen überlappen sich und unterscheiden sich oftmals in Nuancen. Das Sprachrohr der "Neuen Rechten", die Junge Freiheit (JF), versucht seit mehr als 20 Jahren, den 20. Juli in ihrem Sinne zu deuten. Dieter Stein, maßgeblich daran beteiligt, formulierte seine Intentionen in dem von ihm herausgegebenen Band "Helden der Nation. Beiträge und Interviews zum 20. Juli 1944" im Jahr 2008 offen: "Noch immer hat es das heutige, wiedervereinigte Deutschland nicht vermocht, den Patriotismus und Widerstandsgeist des 20. Juli 1944 ins Zentrum der nationalen Erinnerung zu stellen. Immer noch befindet sich das Land im Bann einer kollektivistischen Schuldhaftung, wie sie in ihrer Totalität dem Tyrannen, der vor sechszig [!] Jahren beseitigt werden sollte, wohl gefallen hätte. Die Zusammenarbeit, die die deutschen Kriegsgegner einer möglichen Regierung des deutschen Widerstands versagt haben, verweist auch darauf, daß es im Zweiten Weltkrieg nicht in erster Linie darum ging, eine verbrecherische Regierung zu beseitigen und Deutschland zu befreien, sondern das Deutsche Reich zu zerschlagen und zu besetzen." Das ist Geschichtsrevisionismus pur.

Damit einher geht eine Glorifizierung und Enthistorisierung Stauffenbergs, die ich nur an einigen Beispielen deutlich machen kann: Karlheinz Weißmann, langjähriger JF-Autor, reklamierte in "Cato. Magazin für neue Sachlichkeit" Stauffenberg nicht nur für die "Konservative Revolution", sondern verbindet die Kritik an Thomas Karlaufs Stauffenberg-Biographie von 2019 mit einer scharfen Ablehnung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland: "Wer wie er (Karlauf) die Auffassung teilt, daß die Gegenwart das Ziel der Geschichte und die beste aller denkbaren Welten ist, findet keinen Zugang zu den Motiven Stauffenbergs. Denn die Stärke und Kompromisslosigkeit, die Verweigerung des Konsens und das Einzelgängertum, die Entschlossenheit und der Mut der Männer des 20. Juli wie ihr Ceterum censeo – ‚Wir glauben an die Zukunft der Deutschen‘ –, zog Kraft aus Reserven, über die eine liberale Gesellschaft nicht verfügt, die sie nur verachtet und gleichzeitig verzehrt."

Hajo Funke hat jüngst zu Recht darauf hingewiesen, dass hierbei die "neuen Rechten" einer zentralen Vermittlungsfigur der historischen Radikalnationalisten, nämlich Armin Mohler, folgen. Dieser habe "schon wenige Jahre nach 1945 Personen wie Jünger oder Schmitt zur sogenannten ‚Konservativen Revolution‘ erklärt, um sie – abgesetzt vom Nationalsozialismus – für die extreme Rechte nach 1945 als ideologische Figuren neu präsentieren zu können." Hierfür wird jetzt auch Stauffenberg beansprucht.

Beklemmend ist ein anderer Versuch der Symbolpolitik. Bei den "Pegida"-Demonstrationen wird immer wieder die sogenannte "Wirmer-Fahne" geschwenkt. Der Widerstandskämpfer Josef Wirmer hatte diese Fahne mit einem schwarz-goldenen Kreuz auf rotem Grund als Zeichen der Erhebung gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime entworfen. Die Farben Schwarz-Rot- Gold als Rückbesinnung auf die Weimarer Republik und das christliche Philippus-Kreuz als Kontrapunkt gegen das Hakenkreuz. Wirmer hatte diese Fahne als ein Symbol für eine rechtsstaatliche und freiheitliche Gesellschaft entworfen.  Sie heute für extremistische und fremdenfeindliche Zwecke zu missbrauchen, verhöhnt diese Überlegungen.

Neben der "Neuen Rechten" und ihrem Umfeld versucht auch die AfD, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus für sich zu instrumentalisieren. Das fängt mit einer kruden Begriffsverwirrung an: Es sei "Widerstand" gegen die "Merkel-Diktatur" oder die "Kanzlerinnendiktatur" notwendig.

Dies verwechselt grundsätzlich den Widerstand gegen eine Diktatur mit Opposition und Widerspruch in einem demokratischen Rechtsstaat. Aber es steckt System hinter der Symbol- und Begriffsokkupation. Im Jahr 2018 begann die hessische AfD ihren Landtagswahlkampf ausgerechnet am 20. Juli mit einem Abend zum Thema "Widerstand heute? Von Graf Stauffenberg zum Grundgesetz Artikel 20 IV", auf dem auch Beatrix Storch sprechen sollte.  

Anfang Juli 2019 rief der brandenburgische AfD- Landesvorsitzende Andreas Kalbitz, neben Höcke Anführer des "Flügels", auf dem Kyffhäuser-Treffen zum "Widerstand" auf und forderte einen "Paradigmenwechsel für unser Land".

Auch andere Persönlichkeiten als Stauffenberg werden von der AfD vereinnahmt. Die AfD Nürnberg postete 2017 ein Foto von Sophie Scholl mit dem Hinweis "Sophie Scholl würde AfD wählen." Erst nach heftigen Protesten wurde der Beitrag gelöscht. Ein Pressesprecher der AfD, Roland Gläser, kommentierte dies so: "Zunächst einmal liegt dieser Bezug zu den Scholls für mich auf der Hand. Auch wir leisten Widerstand aus dem rechten Lager. Der Freiheitsbegriff, wie ihn die Scholls vertraten, ist auch für die AfD prägend. Wir sehen uns genauso im Widerspruch zum Mainstream, wie sie es taten. Wir sind klar gegen den Zeitgeist von heute inklusive Multikulturalismus und Willkommenskultur. Auch die Geschwister Scholl haben sich mutig dem Zeitgeist widersetzt, so wie heute die AfD." – Nein, diese haben sich nicht in einem demokratischen System "dem Zeitgeist widersetzt", sondern in einer Diktatur die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen angeprangert und dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Das Kalkül der Neuen Rechten, der AfD und der Identitären ist klar: im freiheitlichen Staat der Bundesrepublik eine "Diktatur" (in der vorherigen Legislatur mit einer "Kanzler-Diktatorin" – so Höcke und Gauland) zu sehen und sich über den Bezug zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine eigene Legitimität für politische Aktivitäten zu verschaffen.

Dies ist durchsichtig, historisch falsch und unangemessen. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus steht für Freiheitswillen, Rechtsstaat und Toleranz. Er steht für Verständnis und Integration, nicht für Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Es bleibt nur, immer wieder der Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu widersprechen. Helmut Hübener, im Alter von 17 Jahren vom "Volksgerichtshof" zum Tode verurteilt und 1942 in Berlin-Plötzensee enthauptet, schrieb in einem seiner Flugblätter: "Darum rufen wir euch zu: Lasst euch euren freien Willen, das kostbarste, was ihr besitzt, nicht nehmen." Genau das ist das Erbe des Widerstands, das wir annehmen können und sollen – nicht seine Instrumentalisierung und Missinterpretation.

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Johannes Tuchel © GDW

Johannes Tuchel


Prof. Dr. Johannes Tuchel ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Er hat zahlreiche Beiträge zu Verfolgung und Widerstand in der nationalsozialistischen Diktatur veröffentlicht.