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Titelthema

Der Mensch als secundus deus

Titelthema - Der Mensch als secundus deus
© Illustrationen: Gabriele Dünwald, generiert mit Midjourney

Wer trägt eigentlich die Verantwortung für die praktischen Folgen einer Entscheidung, die nicht ein denkender Mensch, sondern eine als autonom konzipierte Software trifft? Gedanken zur Schöpfungslehre

Friedrich Wilhelm Graf01.12.2024

5. Tag
Dann sprach Gott: „Im Wasser soll es von Leben wimmeln, und Vogelschwärme sollen am Himmel fliegen!“ „Vermehrt euch und füllt die Meere, und auch ihr Vögel, vermehrt euch auf der Erde!“


„Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde“, bekennen Christen aller Konfessionen im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Auch Juden, Muslime und die Frommen zahlreicher anderer Glaubensgemeinschaften bekunden in uralten Mythen und heiligen Riten ihr Vertrauen auf einen Schöpfergott. Doch ist Schöpfung keineswegs nur ein religiöser Grundbegriff. Schöpfungssprache prägt auch moderne ästhetische Debatten, etwa in der Vorstellung des genialen Künstlers als eines secundus deus, und die gelehrten Diskurse moderner Wissenschaften, zum Beispiel in der Rede von der „Verfassungsschöpfung“ bei den Staatsrechtslehrern oder Joseph Schumpeters „kreativer Zerstörung“ in den Wirtschaftswissenschaften. Zudem ist Schöpfung spätestens seit 1700 zu einem Grundbegriff politischer Sprachen geworden: „We hold these truths to be selfevident that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness“, heißt es in der Unabhängigkeitserklärung der USA aus dem Jahre 1776. Hier dient Schöpfungssprache dazu, eine prinzipielle Gleichheit aller menschlichen Geschöpfe als gottunmittelbarer Ebenbilder ihres himmlischen Vaters zu begründen und aus dieser prinzipiellen Gleichheit der menschlichen Gottesgeschöpfe eine Gleichheit vor dem Gesetz und eine demokratisch gleiche Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger abzuleiten.

Missbrauchter Begriff

Schöpfung ist ein schillernder, mehrdeutiger und deshalb fortwährend umkämpfter Begriff. Mit Schöpfungssprache konnten nicht nur demokratische Bürgerrechte eingeklagt, sondern auch das Gegenteil, der gottgewollte Vorrang von Monarch und Adel vor dem gemeinen Volk oder, evident rassistisch, eine immer schon gegebene, als natürlich behauptete Überlegenheit der Weißen über die jeweils anderen, vor allem die Schwarzen, behauptet werden. Zum Streit um den Begriff trug bei, dass manche Gläubige und auch einige akademische Theologen die beiden in der Genesis, dem ersten Buch der Hebräischen Bibel, überlieferten Schöpfungsmythen mit ihren Vorstellungen von sechs Schöpfungstagen, der Erschaffung von Adam und Eva, dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies als eine Art religiöser Erklärung der Entstehung des Universums und des Menschen in seiner Welt lasen. Naturwissenschaftliche Theorien wie insbesondere die entscheidend von Charles Darwin geprägte moderne Evolutionslehre galten ihnen dann als irreligiöse, unchristliche Gegenentwürfe zur religiösen Schöpfungslehre; das klassische Beispiel dafür sind die diversen von christlichen wie muslimischen und hinduistischen Fundamentalisten verkündeten modernen kreationistischen Glaubenslehren, deren Verkünder lautstark und geschäftstüchtig den genau besehen nur absurden Anspruch erheben, die bessere, weil einzig wahre Wissenschaft zu sein. Für diese Kreationisten ist ihr starker Glaube ein der Wissenschaft mit ihrem methodischen Zweifel und ihrer offenen Erkenntnissuche überlegenes Wissen.

Frei, aber abhängig

Der vermeintliche Gegensatz zwischen Glauben und Wissen löst sich auf, wenn man die mythische Struktur der uralten religiösen Erzählungen ernst nimmt. Mythen sind keine vorwissenschaftlichen Erklärungen der physischen Welt, sondern Symbolisierungen eines guten Urzustandes des Lebens, in dem alles Negative – etwa Naturkatastrophen, Seuchen und Pandemien – noch keinen Ort hatte. Mythische Erzählungen vom Anfang der Welt wollen die Einsicht kommunizieren, dass trotz der elementaren Widersprüche und Negativerfahrungen endlichen Lebens die uns vorgegebene, geschaffene Ordnung insgesamt gut ist. Mythen sind deshalb Erzählungen von einer ganz grundlegenden Ordnung der Welt, die allem menschlichen Handeln immer schon vorgegeben ist. Das gilt gerade auch mit Blick auf uns selbst als endliche Vernunftwesen. Wir beanspruchen Freiheit und definieren uns selbst als autonom. Doch im Entscheidenden sind wir zugleich existenziell abhängig. Niemand hat sich selbst das Leben gegeben. Jede und jeder ist sich selbst immer schon als frei gegeben. Jede und jeder lebt aus Voraussetzungen, die er oder sie selbst nicht zu garantieren vermag. Jeder und jede sollte sich deshalb zu diesem Sichselbstgegebensein verhalten, am besten reflexiv, nachdenklich. Genau darum geht es im jüdischen, christlichen und auch muslimischen Schöpfungscredo: um die je eigene, individuelle Existenz. „Individuum est ineffabile“, der/die Einzelne lässt sich nicht in irgendwelchen allgemeinen Begriffen in seiner/ihrer Individualität angemessen erfassen. Der individuelle Mensch ist in seiner Einzigartigkeit unbeschreiblich.

Wer kontrolliert wen?

Die Geschichte der Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist durch eine schnelle, folgenreiche Expansion der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen geprägt. Wir Heutigen wissen mehr als je zuvor, und wir können ungleich mehr als die Menschen vergangener Zeiten. Wissenschaftliche Erkenntnis und deren praktische Anwendung etwa in Gestalt neuer Kommunikationstechniken prägen weite Bereiche unserer alltäglichen Lebensführung. Man geht mit der Prognose nicht fehl, dass die weitere Entwicklung von Systemen künstlicher Intelligenz die Wissenschancen und technischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen noch einmal signifikant steigern werden. Allerdings: Wer mehr kann als Frühere, hat auch mehr Anlass, darüber nachzudenken, was er tun oder aber besser unterlassen soll. Die Steigerung von Handlungsmacht fordert unumgänglich auch die Stärkung von ethischer Reflexionskraft. Man soll nicht alles, was man machen kann, auch tatsächlich tun.

Genau hier liegt das Grundproblem des weiteren und technisch zunehmend effizienteren Einsatzes von KI. Wer trägt die Verantwortung für die praktischen Folgen einer Entscheidung, die nicht ein denkender Mensch, sondern eine als autonom konzipierte Software trifft? Wie lässt sich hier überhaupt eine moralisch relevante Zurechenbarkeit einer Handlung zu einem verantwortlichen Akteur denken und technologisch gestalten? Die alte „Zauberlehrlings“-Angst scheint nicht unberechtigt, nämlich dass die Konstrukte unseres Könnens sich gegenüber ihrem Urheber verselbstständigen und nur sehr schwer kontrollierbare (oder gar unkontrollierbare) Macht über ihren Produzenten gewinnen. Wirklich überzeugende Lösungen sind noch nicht in Sicht. Es steht leider zu vermuten, dass die bei vielen Menschen verbreiteten Ängste vor einer weiter steigenden Komplexität des Lebens zunehmen werden. Keine leichten Zeiten für die religiöse Schöpfungsbotschaft, dass im Entscheidenden alles gut sei.

Friedrich Wilhelm Graf
Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

© Christian Ukherjee

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