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Ursachen des Vertrauensverlust

Die Krise der Amtskirche

Friedrich Wilhelm Graf03.06.2011

Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist Religion in die öffentlichen Debatten vieler westlicher Gesellschaften zurückgekehrt. Hatten Sozialwissenschaftler seit den 1950er Jahren immer wieder behauptet, dass die gesellschaftliche Modernisierung und vor allem die bis in den Alltag zahlloser Menschen hinein beobachtbare Verwissenschaftlichung des Weltumgangs zwangsläufig zu einem Schwund an religiösem Glauben führen werden, so wird nun von akademischen Kulturdeutern gern von einer „Rückkehr der Religion“ oder „Wiederkehr der Götter“ gesprochen. Die noch in den 1980er Jahren von vielen Soziologen vertretene Annahme, dass Religion zumindest in den technologisch führenden kapitalistischen Gesellschaften des Westens nach und nach verschwinden werde, hat sich nur als ein gelehrter Irrglaube erwiesen. Spätestens seit dem 11. September 2001 ist auch den ganz gottesfernen Zeitgenossen deutlich bewusst, dass frommer Glaube eine starke, auch politisch äußerst wirkmächtige „Kulturpotenz“ (Jakob Burckhardt) eigener Art ist, die keineswegs an öffentlicher Bedeutung verloren, sondern, genau umgekehrt, neue Geltung gewonnen hat und über hohe, konfliktträchtige Sprengkraft verfügt. Kaum ein Tag, an dem im Politik-Teil der großen Tageszeitungen oder in ihren Feuilletons nicht über Religionskonflikte oder streitbare Religion berichtet würde. Selbst aggressive Atheisten oder entschiedene Säkularisten lassen auf ihre Weise, durch mehr oder minder pathetische, nicht selten auch fanatische Negation und Kritik erkennen, dass man religiösen Glauben ernst nehmen muss. Man tut jedenfalls klug daran, in glaubenserregten Zeiten die Frommen, welcher konfessionellen Herkunft und politischen Couleur auch immer, nicht zu unterschätzen. Sie verfolgen zumeist höchst konsequent ihre Ziele, haben in aller Regel klare sozial- und kulturpolitische Programme und wollen, wie andere zivilgesellschaftliche Akteure auch, ihren Einfluss stärken, um ihre Konzepte durchzusetzen. Dies gilt für die christlichen Kirchen im Lande ebenso wie für die diversen muslimischen Akteure. Wer hohe Kirchenvertreter und auch muslimische Funktionäre aus einiger Nähe kennt, kann nicht selten ihr stark ausgeprägtes Machtbewusstsein wahrnehmen. Klerikalmacht unterliegt in der deutschen Gesellschaft kaum öffentlicher Kontrolle. So haben sich in den Kirchen, aber auch in den muslimischen Verbänden mancherlei autoritäre Strukturen verfestigen können.

Verkrustete Strukturen

So viel inzwischen über die „Rückkehr der Religion“ geredet wird, so schlecht wird zugleich von den beiden großen christlichen Kirchen gesprochen. Allerorten kann man in „den Medien“ von „der Kirchenkrise“ lesen und die zum Teil aggressiven Stimmen frustrierter Gläubiger vernehmen, die von ihrer „Amtskirche“ tief enttäuscht sind. Gerade Menschen, die sich ernsthaft als Christen verstehen und intensiv in ihren Kirchengemeinden engagiert hatten, äußern verstärkt harte Kritik. Sie leiden unter den verkrusteten Strukturen in ihrer Kirche, diagnostizieren einen „Reformstau“ und verachten manche prominente „Kirchenführer“ ob ihres ebenso autoritären wie eitlen Gehabes. Diese Frommen „an der Basis“ fühlen sich nicht ernst genommen, beklagen Gesprächsverweigerung und benennen mit oft scharfem, bisweilen auch unbarmherzigem Blick die vielen Missstände, die sich im Alltag der „Amtskirchen“ beobachten lassen. Dabei werden sie – und dies verdient eigene Beachtung – nicht selten von Gemeindepfarrern und, im protestantischen Deutschland, Gemeindepfarrerinnen unterstützt, die sich aufopferungsvoll darum bemühen, ihre Gemeinde zu stärken, einladende Gottesdienste zu feiern und sich trotz ihrer starken Arbeitsbelastung intensiv um Seelsorge bei Kranken, Schwachen, Alten zu kümmern. In Protestantismus wie Katholizismus stellt sich das kirchliche Leben höchst vielfältig, bunt und widersprüchlich dar. Es gibt blühende Gemeinden mit vielen jungen Familien, gut besuchte Gottesdienste nicht nur an den hohen Festtagen des Kirchenjahrs und gelungene Kasualien – Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung –, die auch kirchenferne Beteiligte als feierlich, erhebend, würdig erleben. Lange gewachsene volkskirchliche Strukturen sind in manchen Regionen der Bundesrepublik durchaus intakt. Aber es lassen sich verstärkt auch Traditionsabbruch, Sprachlosigkeit, Verfall der Liturgie und Tendenzen zu weiterer Milieuverengung erkennen. Und immer wieder wird die genuin religiöse Kommunikation, die Verkündigung der befreienden Jesus-Botschaft – „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ – durch einen trivialen Moralismus und eine politisierende Rhetorik des „Sich-Einmischens“ in alle möglichen gesellschaftlichen Probleme und Konflikte ersetzt. Eine nahezu alles besser wissende Klerisei suggeriert dabei eine Problemdeutungskompetenz, über die sie genau besehen gar nicht verfügt. Wer am Karfreitag in den Gottesdienst geht, will etwas vom Sinngehalt des Kreuzestodes Jesu, von der theologischen Deutung dieses Todes, hören und erfahren, nicht aber mit autoritär verkündeten bischöflichen Stellungnahmen zur Präimplantationsdiagnostik behelligt werden. Und Ostern geht es um die radikale Negation des Todes, um Auferstehung, Aufbruch aus den Gräbern von Anpassung, Bequemlichkeit und status quo, um einen ganz anderen, neuen, unkonventionellen, befreienden Blick auf unser endliches Leben – und gewiss nicht um eine Stellungnahme zum Libyenkonflikt, obendrein noch mit der nur trivialen Empfehlung, dass reden besser als schießen sei. Die Gründe der aktuellen Kirchenkrise sind vielschichtig und zu einem erheblichen Teil kaum erkundet. Man muss, schon um gebotener Fairness willen, zunächst darauf hinweisen, dass auch andere gesellschaftliche Institutionen und weltanschauungsbezogene Organisationen in den letzten Jahren kontinuierlich an Bindungskraft eingebüßt und Mitglieder verloren haben, etwa die Gewerkschaften und die Volksparteien. Die Bereitschaft, sich ein für allemal und lebenslang an eine Organisation zu binden, nimmt im Interesse von Selbstbestimmung und freier Individualität bei sehr vielen Menschen, gerade den jüngeren, mobileren, dynamischen, ab. Aber dennoch lässt sich die Kirchenkrise nicht allein auf gesellschaftliche Megatrends wie Individualisierung der Lebensstile, verstärkten Pluralismus der moralischen Überzeugungen, Globalisierung und Migration zurückführen. Gewiss spielt dies alles eine gewichtige Rolle. Wo Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenleben und Mobilität fortwährend zunimmt, werden nun einmal Traditionen geschwächt und eine „Man kann auch ganz anders“-Haltung gestärkt. Und in einer polyethnischen Gesellschaft gibt es immer schon sehr viele religiöse Vielfalt, die auch die verschiedenen konfessionellen Christentümer in sich pluraler, bunter, spannungsreicher werden lässt.

Verantwortung der Amtsträger

Aber dennoch sind die großen Kirchen im Lande für die Kirchenkrise entscheidend mitverantwortlich. Sie haben in der Geschichte der Bundesrepublik alle möglichen sozialdiakonischen Aufgaben an sich gezogen, ihre Bürokratien ausgebaut und lange über ihre Verhältnisse gelebt – aber zugleich ihr religiöses „Kerngeschäft“ vernachlässigt. Und sie haben, besonders fatal, viel zu wenig dafür getan, den Beruf des Pfarrers, bzw. im protestantischen Deutschland auch der Pfarrerin, attraktiv, einladend zu gestalten. In einer offenen, in sich durch einen starken Pluralismus ganz unterschiedlicher Frömmigkeitsstile und Partizipationsformen geprägten Volkskirche ist der Beruf des Pfarrers schon deshalb immer schwieriger geworden, weil der Pfarrer nun mit Kirchenmitgliedern ganz unterschiedlicher Art und Herkunft sensibel umgehen können muss. Dennoch haben beide Kirchen nur wenig in die Bildung der Pfarrer investiert, und nicht selten haben sie die Pfarrergehälter deutlich abgesenkt. Der Priestermangel in den römisch-katholischen Diözesen Deutschlands ist inzwischen dramatisch. Dennoch werden alle Debatten, die Priesterrolle neu zu definieren und das Amt etwa auch für sogenannten „viri probati“, kirchlich erfahrene verheiratete Männer mit theologischer Kompetenz, zu öffnen, in der Deutschen Bischofskonferenz mit trauriger Regelmäßigkeit abgewürgt. Man kann diese Verweigerungshaltung nur noch als Realitätsverlust oder Wirklichkeitsflucht bezeichnen.

Auch wenn die Situation im protestantischen Deutschland sich hier ganz anders darstellt: Die Krise der Kirchen liegt entscheidend darin, dass ihre führenden Vertreter sehr viel reden, aber nur wenig hören und wahrnehmen. Für eine „denkende Religion“ (G. W. F. Hegel), die von „Geistesgegenwart“ zu künden hat, ist dies auf Dauer gefährlich. Es sind nicht irgendwelche bösen Mächte der Moderne, sondern die Kirchen selbst, die ihre Zukunftsfähigkeit gefährden.

Friedrich Wilhelm Graf
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik in der Evangelisch- Theologischen Fakultät der LMU München und ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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