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Titelthema

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Titelthema - Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Spärlich besuchter Gottesdienst: „Statt intellektuell anspruchsvoller Glaubenskommunikation werden oft nur Trivialbotschaften verkündet“ © Stefan Volk/laif

All zu oft erfüllt die Kirche die von ihr proklamierten moralischen Vorgaben selbst nicht. Was sie jetzt braucht, ist eine ehrliche, klare Ausrichtung, mehr Transparenz und eine Konzentration auf das Religiöse.

Friedrich Wilhelm Graf01.06.2019

Kaum hatten führende Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland über die Studie des Freiburger „Forschungszentrums Generationenverträge“ informiert, derzufolge sich die Zahl der Kirchenmitglieder bis 2060 halbieren werde, setzte der bayerische Landesbischof und derzeitige Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm auf Schönfärberei. In der Mai-Ausgabe der Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wurde jedenfalls berichtet, dass nach Ansicht des Landesbischofs die „Ausstrahlungskraft und Relevanz der Kirche ... nicht in erster Linie von großen Mitgliederzahlen“ abhänge. Immerhin räumte er mit Blick auf die Freiburger Studie, in der als Gründe für den zu erwartenden starken Mitgliederverlust neben der demographischen Entwicklung ausdrücklich auch steigende Austrittszahlen und der Rückgang der Taufen genannt wurden, ein, dass „die Kirche nach Wegen suchen müsse, wie sie künftig ihre Ausstrahlungskraft steigern könne“. Welche Wege dies sein könnten, sagte er aber nicht.
Dabei liegt eine relativ einfache Antwort nahe: „Die Kirche“, die es empirisch gesehen ja nur in einer Vielzahl ganz unterschiedlicher, oft auch hart miteinander konkurrierender und bisweilen auch hasserfüllt verfeindeter Organisationen gibt, definiert sich seit gut 2000 Jahren als jene Institution, die für die immer neue Verkündigung und Tradierung der befreienden Botschaft des Evangeliums zuständig ist. „Die Kirche“ soll den Glauben frommer Menschen an Gott und dessen bedingungslose Güte und Gnade fördern und stärken. Sie soll dazu beitragen, dass nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in ganz anderen Lebenswelten die christliche Symbolsprache eine Sinn stiftende, gerade in existentiellen Krisen hilfreiche Deutung der Kontingenz unseres nun einmal endlichen, durch Krankheit, Leid und Tod bestimmten Lebens zu entfalten vermag. Kirchen sind ihrem Auftrag nach religiöse Organisationen. Ihre „Ausstrahlungskraft“ hängt entscheidend von ihrer genuin religiösen Kommunikationskompetenz ab.
Sehr viel stärker als die Kirchen in anderen europäischen Ländern haben die beiden großen Volkskirchen in Deutschland seit den 1950er Jahren zahlreiche neue Aufgaben übernommen. Mit Caritas und Diakonie sind sie zentrale Akteure des bundesdeutschen Sozialstaatskorporatismus, mit der Folge, dass sie nach Bund, Ländern und Kommunen der größte Arbeitgeber im Lande sind. Auch im Bildungswesen sind sie vielfältig präsent: Sie unterhalten nicht nur Kindergärten und Schulen, sondern auch diverse Fachhochschulen und, im Fall der römisch-katholischen Kirche, gar eine eigene Universität. Auch schreiben sie sich selbst ein ethisches Mandat zu, bisweilen mit der autoritären Formel vom „Wächteramt der Kirche“. In klerikaler Eitelkeit bekunden sie gern ihren Stolz darauf, sich ins politische Geschäft „einmischen“ zu wollen. So gibt es zu allen möglichen mehr oder minder wichtigen aktuellen Streitfragen Stellungnahmen und Verlautbarungen der Kirchen, von Kontroversen in der Bio- und Medizinethik bis hin zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen.
In solchen Texten lassen sich oft viel Moralismus und ein eher willkürlicher Gebrauch religiöser Pathosformeln, aber nur wenig analytische Differenzierungskraft beobachten. Man weiß, was man politisch durchsetzen oder verhindern will, und sucht sich dann ein paar religiöse Vorstellungen, um das Gewollte als „theologisch begründet“ erscheinen zu lassen. Der Heidelberger Systematische Theologe Klaus Tanner hat dies als „Präambeltheologie“ kritisiert, die nur dem Missbrauch religiöser Sprache Vorschub leiste.

Tendenzen der Bürokratisierung
Die Vielzahl der Rollen, die die deutschen Kirchen übernommen haben, hat zwar dazu geführt, dass sie in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern präsent sind. Aber sie hat zugleich auch Tendenzen der Bürokratisierung befördert und dazu beigetragen, dass viele Ressourcen nicht den einzelnen Kirchengemeinden zugute kommen, sondern für übergemeindliche Strukturen beansprucht werden. Die Tendenz, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen, ist in den Funktionseliten beider Kirchen stark ausgeprägt. Dieser institutionelle Narzissmus trägt nicht wenig dazu bei, dass selbst viele Kirchenmitglieder ihre Kirche als eine ihnen fremde Welt eigener Art erleben.

Fragen nach dem Sinn des Lebens
Seine These, der prognostizierte Rückgang der Mitgliederzahlen sei gar nicht so schlimm wie von vielen behauptet, begründet der bayerische Landesbischof damit, dass die Kirchen über „eine starke Botschaft“ verfügten. Dass diese Botschaft äußerst komplex, schwierig und in sich widersprüchlich ist, wird dabei unterschlagen. Die Mythen und Legenden des Alten wie des Neuen Testaments sind keineswegs leicht zu verstehen; zu ihrer Deutung bedarf es einiger hermeneutischer Urteilskraft. Auch das christliche Symbolsystem, wie es sich im Prozess der altkirchlichen Bekenntnis- und Dogmenbildung entwickelte, ist nur schwer verständlich. Weshalb soll der eine Gott als „dreieinig“ gedacht werden müssen? Ist er wirklich „allmächtig“? Wie verhält sich die religiöse Rede von „Gottes guter Schöpfung“ zur elementaren Erfahrung, dass es im menschlichen Leben auch zerstörerische Kräfte des Bösen gibt? Wie kann der jüdische Wanderprediger Jesus von Nazareth zugleich „Sohn Gottes“ oder „Messias“ sein? Wie hat man sich die Wirksamkeit des „Heiligen Geistes“ vorzustellen? Was genau ist gemeint, wenn in den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen von der „Auferstehung von den Toten“ oder vom „ewigen Leben“ geredet wird?
Seit Jahrhunderten werden Fragen dieser Art von Menschen gestellt, die auf der Suche nach Lebenssinn sind und in den alten christlichen Symbolen nur noch zum Teil (oder überhaupt nicht mehr) eine hilfreiche Antwort finden. Gerade in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, in der vorstaatliche Freiheitsrechte institutionalisiert sind und viele Menschen ihr Leben bewusst selbstbestimmt, in selbst gewählter Autonomie, führen wollen, sind kritische Skepsis gegenüber den Wahrheitsansprüchen religiöser Organisationen weithin selbstverständlich geworden. Die Ansprüche an religiöse Kommunikation sind seit der Aufklärung des späten 17. und 18. Jahrhunderts deutlich gestiegen, und in einer Wissensgesellschaft, in der eine immer größere Zahl von Menschen die Institutionen höherer Bildung durchläuft, kann es nicht überraschen, dass religiöses Heilswissen immer wieder dem kritischen Test reflektierten Bildungswissens ausgesetzt wird. Genau hier haben die Kirchen weithin versagt. Statt intellektuell anspruchsvoller Glaubenskommunikation werden oft nur Trivialbotschaften verkündet. Dass Frieden besser ist als Krieg, leuchtet ja ein. Aber bedarf es zu dieser Einsicht notwendig des Bezugs auf das Neue Testament? Wenn Glaubenssprache nur noch dazu dient, das zu affirmieren, was sich von selbst versteht, leistet sie nur ihrer Entleerung Vorschub und macht sich überflüssig. In beiden großen Kirchen lässt sich ein allzu gedankenloser Umgang mit den eigenen symbolischen Traditionsbeständen beobachten. Wer das Sperrige, Widerständige, auch Unverständliche uralter religiöser Mythen und Riten abschleift, darf sich nicht wundern, dass sie nur wenige noch ernsthaft interessieren.
Im Neuen Testament wird „die Kirche“ immer wieder als eine Institution vorgestellt, die das „Wort der Wahrheit“ zu verkünden hat. Empirisch gesehen kann man in den deutschen Kirchen aber viel Schummelei, Selbstbetrug und bisweilen auch vorsätzliches Lügen wahrnehmen. Kirchenpolitik ist oft ein ziemlich schmutziges Geschäft, und Konflikte werden zumeist nicht argumentativ und offen ausgetragen, sondern in den Hinterzimmern der Klerikalmacht durch Kungelei zu pazifizieren versucht. Auch wenn man gern Transparenz beschwört, ist man in vielen entscheidenden Themen doch weit von ihr entfernt.

Ja zur Ökumene, aber ...
Ein vielsagendes Beispiel für den Mangel an Aufrichtigkeit ist das Thema Ökumene. Kein halbwegs Vernünftiger wird sich in die Zeiten harter Kulturkämpfe zwischen Katholiken und Protestanten zurücksehnen. Es ist in einer pluralistischen, durch vielfältige Normenkonflikte geprägten Gesellschaft nur gut, wenn die Vertreter der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften einen an Ausgleich und wechseitigem Respekt orientierten höflichen Umgang miteinander pflegen. Aber ist es klug, die weiterhin bestehenden religionskulturellen Unterschiede und theologischen Gegensätze zwischen den Konfessionen durch eine diffuse Konsensrhetorik zu bagatellisieren? Tag für Tag zeigt sich, wie sehr Katholizismus und Protestantismus sich in elementaren Fragen der Religionskultur noch immer unterscheiden. Es ist ein gewichtiger Unterschied, dass eine verheiratete Frau und Mutter Pfarrerin in der Kirche des Priestertums aller Gläubigen sein kann, das Amt des katholischen Priesters hingegen exklusiv geweihten Männern vorbehalten bleibt. Auch ist es von erheblicher Bedeutung, dass in evangelischen Gottesdiensten auch die Christen anderer Konfessionskirchen zur Teilnahme am Abendmahl eingeladen sind, in katholischen Messen hingegen Protestanten die Teilnahme an der Eucharistie verweigert wird. Eine „Schummelökumene“ (Eberhard Jüngel), in der gravierende theologische wie religionskulturelle Differenzen mit Absicht geleugnet werden, unterminiert nur die Glaubwürdigkeit beider großer Kirchen. Sie haben, ohne Feindseligkeit gegenüber Christen anderer Konfession, immer auch ihr spezifisches konfessionelles Profil zu pflegen. Sonst bieten sie nur noch ein diffuses Erscheinungsbild.

Zwang zur Glaubwürdigkeit
Stärker als andere gesellschaftliche Institutionen und Organisationen stehen die christlichen Kirchen unter dem Druck, glaubwürdig zu agieren. Sie müssen sich nun einmal an jener Glaubensbotschaft messen lassen, um derentwillen sie allein existieren. So liegt die Messlatte sehr hoch, jedenfalls höher als etwa beim ADAC oder dem Betriebsrat der Volkswagen AG. Die von den Kirchen selbst betriebene Moralisierung religiöser Symbolsprache hat sie angreifbar gemacht und nur ihren Glaubwürdigkeitsverlust verstärkt. Denn man kann leicht sehen, dass sie jener Moral, die sie predigen, oft selbst nicht gerecht werden. Die Konzentration aufs Religiöse und die Stärkung der Kraft zur Glaubenskommunikation dürften für die Zukunft der deutschen Kirchen entscheidend sein.

Friedrich Wilhelm Graf
Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

© Christian Ukherjee

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