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Die traditionelle Fronleichnamsprozession am Kölner Dom hüllt das Gotteshaus in dichte Weihrauchschwaden. © Adolph Press/nik

Die katholische Kirche soll protestantischer werden. An der grundlegenden Situation und an religionskulturellen Unterschieden zwischen Katholizismus und Protestantismus ändert das aber nichts.

Friedrich Wilhelm Graf01.03.2022

Im Jahr 1820 veröffentlichte der Gothaer Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider einen Traktat Ueber die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestantischen Deutschland. Der aufgeklärte Theologe erklärte, über das Thema sei „schon so viel geschrieben worden, daß man Bedenken finden könnte, noch ein Wort darüber zu sagen. Alles scheint erschöpft zu seyn.“ In der Tat waren zwischen 1780 und 1820 gut 400 Flugschriften und Bücher sowie über tausend Aufsätze zum „Verfall der Religiosität“ und zum Niedergang der kirchlichen Religionskultur erschienen. Der Berliner Stadtrat diskutierte 1804 darüber, was man mit den Kirchengebäuden machen solle, wenn man sie demnächst nicht mehr brauche. Diese um 1800 geführten Diskurse über „Dechristianisierung“, „religiösen Indifferentismus“ und „Entkirchlichung“ zeigen: Die Krise der christlichen Volkskirchen ist ein altes Phänomen. Um die gegenwärtigen Debatten insbesondere in der katholischen Öffentlichkeit verstehen zu können, tut man gut daran, diese historische Dimension des Themas „Kirchenkrise“ nicht aus dem Blick zu verlieren.


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Das Anlehnen an den Staat

Die moderne bürgerliche Gesellschaft ist, wie man seit Hegels „Rechtsphilosophie“ weiß, gerade in einer kapitalistischen Ökonomie ein Ort von permanentem Tausch, Kampf und harter Konkurrenz. Der säkulare Staat muss um der vorstaatlichen Freiheit der Bürger willen auf religiösen Zwang welcher Art auch immer verzichten. Aber er hofft oft darauf, dass Religionsgemeinschaften ihm sozialmoralische Ressourcen zur Verfügung stellen und einen Beitrag zur Integration des Gemeinwesens leisten. Die deutschen Kirchen taten sich jedoch sehr schwer damit, den liberalen Rechtsstaat als normative Ordnung anzuerkennen. Seit dem Durchbruch zur Moderne um 1800 hatten sie eine schwierige Lage zu meistern – sie mussten ihren Ort in einer Gesellschaft finden, deren politische Prinzipien mit alten christlichen Ordnungsvorstellungen in elementarer Spannung stehen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert waren sie gleichsam im immer neuen Krisenmodus. Selbst in Zeiten, in denen es ihnen vergleichsweise gut ging, etwa in der Nachkriegszeit, waren sie eher fragile Organisationen – wenn sie sich nicht einfach an den Staat anlehnten. Genau dies geschah in der alten Bundesrepublik: Im deutschen Sozialstaatskorporatismus haben beide großen Kirchen mit Caritas und Diakonie zahlreiche Funktionen übernommen. So sind sie zu den nach dem Staat größten Arbeitgebern im Lande geworden. Das macht sie einerseits stark. Aber es erlaubt ihnen andererseits auch, elementare Defizite ihrer religiösen Kommunikationskompetenz zu überdecken. Erfolgreich gute Sozialdienstleistungen anzubieten verbürgt noch keine geistliche Strahlkraft. Und wer immer nur mit sich und seinen Problemen beschäftigt ist, wirkt auch nicht besonders attraktiv. Die Krise der Kirchen ist im Kern eine „Religionskrisis“ (Ernst Troeltsch).

Wandel zur liberalen Kulturreligion

Zur Deutung der aktuellen Krise ist zunächst zwischen „Dechristianisierung“ – der Begriff wandert um 1810 aus dem Französischen in die deutsche Sprache ein – und „Entkirchlichung“ zu unterscheiden. Denn das Christentum ist sehr viel mehr als nur die Kirche oder die Kirchen. Es manifestiert sich auch in Musik, Kunst und Literatur. Christlicher Glaube lässt sich religiös legitim ganz individuell in entschiedener Distanz zur kirchlichen Organisation leben. Er kann in religiös hochengagierten Kleingruppen tradiert werden. Man kann aus der Kirche austreten und doch weiter christliche Feste feiern. Die Krise der großen Kirchen darf also nicht als generelle Dechristianisierung gedeutet werden. Bachs Weihnachtsoratorium darf man auch dann hören, wenn die eigenen Kinder und viele Freunde aus der Kirche austreten.

Die Aufklärung des späten 17. und 18. Jahrhunderts hatte Leitideen wie die Herrschaft der Vernunft und die Freiheit des Einzelnen proklamiert. Das führte unumgänglich zu Dauerdebatten über die Frage, wie sich denn der alte Glaube zu den vielen neuen Einsichten der Wissenschaften verhalte. Kann ein moderner, freiheitsliebender und denkender Mensch überhaupt noch ein Christ sein? Das christliche Symbolsystem ist extrem widersprüchlich, und in den biblischen Überlieferungen finden sich viele Mythen und Legenden, die einfach nur wider alle Vernunft zu sein scheinen. Gerade in seiner Widersprüchlichkeit ist das christliche Symbolsystem aber auch äußerst elastisch und kann für höchst Unterschiedliches in Anspruch genommen werden.

Angesichts der elementaren Spannungen zwischen altem Glauben und moderner Rationalität versuchten viele protestantische Theologen deshalb, überkommene christliche Symbole im Sinne einer Stärkung modernitätsspezifischer Freiheitsansprüche auszulegen; sie entwickelten ein neues, individualisierungsfähiges Christentum in Gestalt liberaler Kulturreligion. Das war vor allem für bildungs- und wirtschaftsbürgerliche Schichten attraktiv, die an christlichen Passageriten wie Taufe, Trauung und Beerdigung festhalten und die großen Feste der Familie wie insbesondere Weihnachten feiern wollten. Allerdings stieß liberale Religion bei vielen traditionalistischen Geistlichen und Gläubigen auf harte Kritik, sahen sie durch eine freiheitsorientierte Transformation des Christlichen doch die Substanz des alten Heilsglaubens bedroht. Der deutsche Protestantismus spaltete sich in diesen Kulturkämpfen, wie der Historiker Thomas Nipperdey gezeigt hat, seit dem frühen 19. Jahrhundert in einen liberalen, auf genuin bürgerliche Moralvorstellungen fokussierten Kulturprotestantismus einerseits und einen gegenaufklärerisch konservativen, zumeist von Adeligen und Bauern getragenen Moralprotestantismus andererseits.

Im deutschsprachigen Katholizismus war es anders, weil die römisch-katholische Kirche insgesamt einen eigenen Weg in die Moderne einschlug: Man modernisierte die kirchliche Institution durch konsequente Zentralisierung in Rom und die Stärkung des Papstamtes. Theologisch liberale Reformer wurden spätestens seit den päpstlichen Erlassen gegen die „Modernisten“ immer mehr marginalisiert. Das hatte zur Folge, dass die Spannungen zwischen der auf individuelle Freiheit zentrierten normativen Ordnung des liberalen Rechtsstaates einerseits und jenen Normvorstellungen andererseits, für die „die Kirche“ etwa in ihren moralischen Lehren oder ihrem opaken sogenannten Kirchenrecht steht, nicht ausgetragen wurden. Selbst Entscheidendes blieb diffus und intransparent. In manchen katholisch-bürgerlichen Lebenswelten hat dies Tendenzen der inneren Abkehr von der eigenen Kirche verstärkt.

Ein Zweiklassenchristentum

In soziologischer Perspektive zeigen sich die beiden großen Volkskirchen im Lande als sehr unterschiedliche Organisationen. Dies gilt zunächst mit Blick auf die Pfarrerschaft. Das römisch-katholische Christentum ist trotz aller Rhetorik vom einen „Volke Gottes“ sozialstrukturell ein Zweiklassenchristentum von Priestern und Laien. Der katholische Priester ist, zumindest derzeit noch, ein aufs Zölibat verpflichteter Mann, der durch das Sakrament der Weihe in einen besonderen religiösen Stand erhoben ist. Auch wenn einige deutsche Bischöfe neuerdings dafür plädieren, das Priesteramt bald für verheiratete „viri probati“ zu öffnen, fordern einige Laien und ihre Verbände, dass auch Frauen Priester werden können – eine Forderung, die selbst Reformer im deutschen Episkopat wie der Münchner Kardinal Marx ablehnen. Allerdings würde man dazu gern einmal ein theologisch überzeugendes Argument hören. Der Hinweis auf einige Bibelstellen und die bloße Beschwörung von Tradition allein reichen nicht. Die frühe Jesusbewegung wurde entscheidend von Frauen getragen, und auch in der Alten Kirche spielten sie eine wichtige Rolle bei der Glaubenskommunikation.

Die Situation in den protestantischen Kirchen ist deutlich anders. Hier gibt es weder Weiheämter noch ein Hierarchieprinzip, demzufolge ein Pfarrer seinem Bischof und der Bischof dem absolutistischen Wahlmonarchen in Rom unbedingten Gehorsam schuldet. Frauen im Pfarrdienst – das ist inzwischen evangelische Normalität: Von den knapp 13.000 protestantischen Pastoren im Lande sind 35 Prozent weiblichen Geschlechts, mit steigender Tendenz. Die meisten Studierenden der Theologie sind junge Frauen. Ähnlich wie bei Lehrern und Ärzten hat sich die Feminisierung des Pfarrberufes in den letzten beiden Jahrzehnten beschleunigt, was der evangelischen Kirche nur gutgetan hat. In der Doppelbelastung von Beruf und Familienpflichten haben Pfarrerinnen oft mehr Sensibilität für die Lebenswelten der Christen in ihren Gemeinden entwickelt als Männer.

Evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen können sich scheiden lassen, und natürlich gibt es auch den Pastor, der mit einem Mann zusammenlebt, oder die Pfarrerin, die mit einer Frau verheiratet ist. Die protestantische Pfarrerschaft in Deutschland ist sichtlich diverser, vielfältiger als der katholische Klerus. Das mindert die Anfälligkeit für klerikales Machtgehabe. Auch die aus dem „Priestertum aller Getauften“ abgeleiteten starken Partizipationsstrukturen begrenzen Pastoralmacht.

Warum treten aber Protestanten aus ihrer Kirche aus, wenn ein emeritierter Papst offenbar lügt oder lügen lässt? Das ist die Folge einer falschen Ökumene-Politik: Wer statt einer „Ökumene der Profile“ (Wolfgang Huber), in der die nun einmal bestehenden religionskulturellen Unterschiede zwischen Katholizismus und Protestantismus sichtbar bleiben, auf eine Weichzeichnerökumene setzt, in der man Differenzen pathetisch leugnet, darf sich nicht wundern, wenn er für Missstände in der anderen Kirche in Mithaftung genommen wird. Nun sollen keine neuen Konfessionskämpfe inszeniert werden. Aber man muss Differenzen ernst nehmen. Dazu gehört auch die Einsicht, dass selbst die nun als „Synodaler Weg“ gestaltete Protestantisierung der katholischen Kirche ihren massiven Mangel an Nachwuchs fürs Priesteramt nicht beheben wird.

Friedrich Wilhelm Graf
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik in der Evangelisch- Theologischen Fakultät der LMU München und ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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