https://rotary.de/gesellschaft/der-zusammenbruch-der-kindheit-a-22774.html
Krieg in Nahost

„Der Zusammenbruch der Kindheit“

Krieg in Nahost - „Der Zusammenbruch der Kindheit“
Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland, gibt im Gespräch einen Einblick in die derzeitige Arbeit von Unicef im Nahen Osten. © Unicef Deutschland

Christian Schneider, Geschäftsführer Unicef Deutschland, spricht im Interview über die humanitäre Situation der Kinder in Israel und Gaza.

03.11.2023

Herr Schneider, es sind erschütternde Bilder, die uns täglich aus Israel und aus dem Gazastreifen erreichen. Wie lässt sich die humanitäre Situation im Allgemeinen und die der Kinder im Besonderen beschreiben?

Das Team von Unicef nutzt in der anhaltend extrem schwierigen Situation jede Gelegenheit, um Kinder im Gazastreifen mit lebensrettenden Hilfsgütern wie Trinkwasser und Hygieneprodukten, aber auch mit wichtigen psychosozialen Angeboten zu erreichen. Kinder müssen auch inmitten einer solchen Situation spielen, lernen und von einer Zukunft träumen dürfen. Aber die Infrastruktur für Wasser, Strom und vieles mehr ist weitgehend zerstört oder defekt. Das erschwert das Leben der Kinder und auch unseren Einsatz enorm. Es gibt kaum noch ausreichend Trinkwasser. Der Mindeststandard, den die Vereinten Nationen in solchen Situationen anlegen, sind 15 Liter pro Person und Tag, und das ist schon nicht viel. Die Verknappung hat unmittelbare Folgen: Die Kinder und ihre Familien haben nicht genug Wasser zum Trinken oder zum Waschen, was sich niederschlägt in der Gefahr der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten. In überfüllten Unterkünften breiten sich Krankheiten wie etwa Cholera schnell aus. Wir hören von unseren Mitarbeitenden, die weiter in Gaza tätig sind, dass Hautkrankheiten zunehmen.

Die Menschen in Israel und Gaza leben plötzlich im Krieg. Was macht das mit Kindern?

Es gibt einerseits die unmittelbare tödliche Gefahr durch die Raketeneinschläge und die Kämpfe in ihrer direkten Umgebung. Für alle Kinder ist es der totale Zusammenbruch einer Zeit, die wir Kindheit nennen. Führen wir uns einmal vor Augen, dass weit mehr als eine Million Menschen in Gaza auf der Flucht sind. Das heißt auch, dass praktisch kein Kind mehr normal lebt. Sie mussten fluchtartig ihr Zuhause verlassen. Es gibt den Schutz der Familie nicht mehr, weil Angehörige womöglich ums Leben gekommen oder verletzt sind. Die psychosoziale Situation für die Kinder ist extrem schwierig. Wir hören zunehmend von Schlafstörungen, Angstzuständen und toxischem Stress. Wenn man die Nachrichten verfolgt, kann man das leicht nachvollziehen bei dem, was die Kinder in den letzten Wochen erlebt haben.

2023, unicef, palästina, kind, israel, krieg
Mohammed aus Rafah City, 8 Jahre alt, sitzt auf den Überbleibseln des Hauses seiner Familie, das bei einem israelischen Angriff zerstört wurde. "Ich wünsche mir einen Waffenstillstand und ich wünschte, sie hätten uns vorher gewarnt oder uns Zeit geben können, um unsere Sachen zu holen - vor allem mein Spielzeug." © Unicef

Wie groß ist Ihr Team vor Ort? Woran arbeiten Ihre Leute, wie können sie dort überhaupt helfen?

Wir haben weiter ein Team in Gaza, das aus Ost-Jerusalem heraus koordiniert wird. Das sind erfahrene Kolleginnen und Kollegen, die die Herausforderungen von Krisen, die Region und ihre Ansprechpartner kennen – auch sie leben und arbeiten jetzt unter extremen, gefährlichen Bedingungen. Unicef verfügt über ein großes, über viele Jahre aufgebautes Netzwerk. Darum konnten wir gleich in den ersten Tagen mit Hilfsgütern helfen. Wir haben in Ägypten, Libanon und Jordanien weitere Büros, wo Hilfe vorbereitet und bereitgestellt wird, vor allem auf der ägyptischen Seite mit Unterstützung unserer sogenannten Supply Division. Sie arbeitet im Unicef-Nothilfelager in Kopenhagen, das für die jeweilige Situation in der Region oder von Dänemark aus geeignete Hilfsgüter schnell und in großem Umfang bereitstellen kann. So haben wir für hunderttausende Menschen den dringendsten Bedarf an der Grenze schon positioniert. Das sind medizinische Kits mit Verbandszeug et cetera, Wasserkanister, Hygieneartikel wie Seife und andere praktische Produkte, die die Menschen jetzt brauchen. Wir drängen darauf, dass die Anzahl der Konvois, die täglich in den Gazastreifen fahren dürfen, um ein Vielfaches erhöht wird, damit wir die verfügbaren Hilfsgüter auch zu den Kindern bringen können.

Ein paar Lkw-Ladungen für 2,3 Millionen Menschen, das ist doch ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das ist so. Es gibt hunderttausende Kinder in Gaza, die lebensrettende humanitäre Hilfe brauchen. Und es gibt tausende Kinder, die in einem weitgehend kollabierten Gesundheitssystem dringend medizinische Hilfe benötigen. Kinder, die Kriegsverletzungen erlitten haben und dringend operiert werden müssen, auch Zehntausende schwangere Frauen, die plötzlich keinen Zugang mehr haben zur vorgeburtlichen Versorgung oder zu Geburtshilfe. Alle Eltern können sich vorstellen, was das bedeutet. Wir kennen die Bilder von Neugeborenen, die mangels Stromversorgung aus den Inkubatoren genommen und in einem beheizten Raum notdürftig versorgt werden müssen, hier geht es um das reine Überleben. Wenn der Zugang nach Gaza einfacher wird, können wir die Krankenhäuser rasch mit grundlegenden medizinischen Dingen des täglichen Bedarfs ausstatten.

Wenn der Zugang besser wird. Eine UN-Resolution verlangt unter anderem „dringende und ausgedehnte humanitäre Pausen und Korridore im gesamten Gazastreifen für eine ausreichende Anzahl von Tagen“. Die EU fordert mehrheitlich humanitäre Feuerpausen und Sicherheitskorridore in Gaza.

Auch wir von Unicef haben früh gefordert, dass die Waffen ruhen müssen, um den Transport von Hilfsgütern in den Gazastreifen sicherzustellen. Wir möchten natürlich auch unsere Teams und Partner bei ihrem Einsatz für die Kinder in Sicherheit wissen. Sobald das gegeben ist, kann die humanitäre Hilfe sofort in großem Umfang starten. Wir verfügen über sehr viele Partner für die Wasserversorgung und im Gesundheitsbereich. Beides ist jetzt dringend nötig.

2023, unicef, palästina, flucht, krieg, israel
Tausende Menschen, darunter viele Kinder, Frauen und Ältere verlassen ihre Gemeinden im Norden von Gaza zu Fuß und mit Autos, um Zuflucht im Süden zu suchen. © Unicef

Der Chef des UN-Palästinenserhilfswerks (UNRWA) hat auch auf eine Ausweitung der humanitären Hilfen für Gaza gedrängt. Philippe Lazzarini sagte, die gesamte Bevölkerung drohe, entmenschlicht zu werden.

Wir kommen bei Unicef immer über die Situation der Kinder: In Gaza haben wir keine Situation mehr, bei der wir von einem Aufwachsen in Sicherheit sprechen können. Kaum ein Kind hat momentan noch einen nennenswerten Zugang zu Gesundheits- oder Bildungsangeboten. Alles, was zu einer Kindheit dazugehört, ist nicht mehr vorhanden: das Zuhause, die Sicherheit und die grundlegenden wichtigen Dinge, die Kindern ein gutes Aufwachsen ermöglichen.

Welche Entwicklung sehen Sie im Westjordanland?

Wir konzentrieren uns aufgrund der extremen Situation derzeit auf Gaza, sind aber auch besorgt, dass sich die Situation im Westjordanland weiter verschärft.

Was ist Ihre größte Sorge mit Blick auf Gaza?

Für viele Kinder geht es gerade schlicht ums Überleben. Weil sie körperlich sehr geschwächt sind, weil sie krank sind oder gar drohen, ihren schweren Verletzungen zu erliegen. Es muss in allererster Linie darum gehen, sich um diese Kinder zu kümmern, denn sie erleben seit Wochen einen Albtraum. Kinder, die eine solche Gewalt durchmachen, werden von diesen Erfahrungen ein Leben lang verfolgt. Sie brauchen medizinische Hilfe, aber eben auch psychosoziale Betreuung und psychologische Hilfe, Normalität und Stabilität, zum Beispiel durch Schulunterricht oder Spielangebote. Wenn dies gegeben ist, zeigen Kinder eine unglaubliche Kraft und Resilienz, um derart schwierige Erfahrungen durchzustehen. Dann können sie wieder Zuversicht entwickeln, das habe ich in anderen Krisenregionen immer wieder erlebt. Es sind immer die Kinder, die unter den Situationen, die sie nicht zu verantworten haben, am meisten leiden. Und sie sind diejenigen, die am längsten mit den Folgen zu kämpfen haben.

Das Gespräch führte Björn Lange.