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Titelthema

Die Debatte, die wir brauchen

Titelthema - Die Debatte, die wir brauchen
© Picture Alliance/Photoshot
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Können die Konservativen die Initiative ergreifen? Gedanken zur Lage der Mitte-Rechts-Parteien in Europa

Roger Scruton01.08.2018

Die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien in Europa befinden sich zu einem Zeitpunkt in der Krise, an dem die Krise bei ihren traditionellen Kontrahenten – bei den Sozialdemokraten und bei der radikalen Linken – sogar noch größer ist. Was eigentlich eine Zeit des Triumphes für die Mitte-Rechts-Parteien sein sollte, hat sich als Zeit der Verwirrung herausgestellt. Und der Hauptgrund hierfür ist, meiner Ansicht nach, dass die in Amt und Würden gelangten Politiker in den liberal-konservativen Bewegungen ihre eigene Philosophie aus den Augen verloren haben.

Die Art des Konservativismus, für die ich plädiere, beginnt bei einem Gefühl, das alle reifen Menschen bereitwillig teilen können: das Gefühl, dass gute Dinge leicht zu zerstören, jedoch nicht einfach zu erschaffen sind. Dies gilt insbesondere für die Dinge, die uns als Gemeinschaftsvorzug zu Gute kommen: Frieden, Freiheit, Recht, Kultiviertheit, Gemeinsinn, die Sicherheit von Eigentum und Familienleben, bei denen wir alle von der Kooperation mit anderen abhängen und sie nicht allein, in Eigenregie erhalten können.

Im Hinblick auf solche Errungenschaften ist die Arbeit der Zerstörung schnell, einfach und berauschend; die Arbeit des Erschaffens hingegen langsam, mühsam und wenig spektakulär. Dies ist eine der Lektionen des 20. Jahrhunderts. Dies ist auch ein Grund dafür, weshalb Konservative solch einen Nachteil erleiden, wenn es um die öffentliche Meinung geht. Selbst wenn Ihre Position wahr ist, erscheinen sie langweilig; ihre traditionellen Kontrahenten hingegen gelten selbst dann als aufregend, wenn sie falsch liegen.

Die Christdemokraten der Nachkriegszeit glaubten an die Demokratie als die Basis der politischen Legitimität. Sie erkannten, dass Demokratie nur vor dem Hintergrund eines „Wir“, einer ersten Person Mehrzahl, existieren kann, das die Menschen durch geteilte Gebräuche, ein ethisches Erbe und ein Zugehörigkeitsgefühl vereint.

Demokratie existiert, weil die Menschen akzeptieren können, von anderen Mitgliedern einer gemeinsamen institutionellen Politik regiert zu werden, unabhängig davon, ob sie deren Politik zustimmen. Der Begriff „christlich“ fasste für Staatsmänner wie Adenauer das Empfinden einer vorpolitischen Zugehörigkeit zusammen, die es politischen Kontrahenten ermöglicht, harmonisch und Seite an Seite zusammenleben zu können.

Die Identitätsfrage
In den letzten Jahren haben sich die Zeitläufte verschworen, dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu destabilisieren. Die christlichen Werte und Gebräuche sind in Frage gestellt worden; und die massenhafte Einwanderung von Menschen, die keine Sympathie für das christliche Erbe und die Werte der Aufklärung als Bestandteil dessen hegen, hat dazu geführt, dass die Demokratie selbst in Frage gestellt wurde. Es ist daher nicht überraschend, dass die konservative Position, auch wenn sie eine fundamentale Erfahrung sozialer Bindung erfasst, nicht länger sicher ist.

Politiker, die sich nie Fragen zu den Wurzeln der Gesellschaftsordnung gestellt haben, die keine Vorstellung von der Nation und ihrem moralischen Charakter haben, die das Erbe der christlichen Zivilisation nur betrachten, um darüber zu lachen oder sich verwirrt abzuwenden, die nicht zu bemerken scheinen, dass Ehe und Familie das sine qua non der sozialen Reproduktion sind – solche Politiker haben es unserem Kontinent gestattet, in eine Zeit tiefer Unsicherheit einzutreten – und verhindern dabei wirkungsvoll die Debatte, die wir alle brauchen: die Debatte über Identität.

Dieses Zurückschrecken vor der fundamentalen Frage war die Folge der linksliberalen Dominanz in unserer politischen Kultur. Familiäre Werte wurden zugunsten von Gender-Politik ersetzt; Kinder und ihre Bedürfnisse wurden von der politischen Tagesordnung gestrichen; Gesellschaften wurden durch Online-Plattformen ersetzt, und die christliche Religion wurde als ein Relikt der Vergangenheit marginalisiert. Links zu sein bedeutet, zu einer Bewegung zu gehören; und wenn eine alte Sache ihre Glaubwürdigkeit verliert, muss eine Neue an ihre Stelle gesetzt werden.

So sind Feminismus, Umweltschutz, Anti-Rassismus und Transgendertum schnell in das Vakuum geflossen, das von der Religion hinterlassen wurde; keiner von ihnen lange genug bestehend, um eine echte Quelle der Identität zu sein, jedoch alle auf bestimmte fragile Aspekte unseres zivilisatorischen Erbes abzielend. Die Sache der Linken verfügt nicht mehr über die Befürwortung durch den gewöhnlichen Bürger.

Die Menschen sind des Betrugs und der Manipulation bewusst geworden, die an der Umweltschutzbewegung beteiligt sind; sie haben die zerstörerische Kraft der Gender-Politik erkannt; und sie haben den Glauben an die Fähigkeit der alten politischen Klasse verloren, die echten Themen unserer Zeit anzugehen: die Masseneinwanderung, die nationale Identität und die Zukunft Europas.

Diese Themen bringen die grundsätzliche Frage auf, die die Linke beständig vermieden hat, nämlich die Frage der vorpolitischen Loyalität, die Frage, auf die die Christdemokraten nach dem Krieg eine kohärente und flexible Antwort gesucht haben. Was macht uns als Gesellschaft aus, wie rekrutieren wir die Jugend, zu dieser Gesellschaft zu gehören und wie gehen wir mit denjenigen um, die sich verweigern?

Eine politische Gemeinschaft ist keine Geschäftspartnerschaft oder eine Vertragsvereinbarung; sie ist eine historische Einigung, durch Gebräuche, Loyalität und ein Zugehörigkeitsgefühl gebunden, in einer Art, die ihren höchsten Ausdruck in einer nationalen Kultur findet. Sie hängt von gutnachbarlichem Verhalten und „kleinen Verbänden“ ab sowie von der Liebe zwischen den Generationen, die nur eine Familie richtig geben kann. Und was darüber hinaus noch erforderlich ist – beispielsweise im Hinblick auf Religion, Schulwesen, Rechtsordnung oder Souveränität – so war dies die grundlegende Frage in den Gedanken der Menschen, die das Nachkriegseuropa aufbauten.

Ihre Antworten wurden jedoch in einer Situation gegeben, die verschwunden ist, und sie lassen sich nicht an die Art und Weise anpassen, in der die heutige Welt besteht. Dies zeigte sich sicherlich in der desaströsen Reaktion von Kanzlerin Merkel auf die Flüchtlingskrise und in so vielen der ungestümen Politiken, die von der Europäischen Union verfolgt wurden, um das Bestehen eines Projektes zu wahren, das vor Langem aufgehört hat, machbar zu sein.

Programmatische Forderungen
Was also sollten wir von einer Mitte-Rechts-Philosophie fordern? Zunächst erscheint es mir, dass sie eine neu belebte Vorstellung eines Nationalstaats entwickeln muss, in der die aktive Integration von Minderheiten in eine gemeinsame politische Kultur die aktuelle Politik des Separatismus ersetzt. Sie muss auf einer richtigen Auffassung unseres religiösen Erbes basieren, und sie muss die Art und Weise anerkennen, in der dieses Erbe unsere Souveränität und das Recht geformt hat.

Sie muss sachkundig und auch darauf vorbereitet sein, der islamischen Theokratie entgegenzutreten, und sie muss eine korrekte Verteidigung der säkularen Gerichtsbarkeit gegenüber den anmaßenden Forderungen der Shari‘ah bieten. Sie muss eine umsetzungsfähige Beschreibung von Ehe und Familie entwickeln sowie von der Bedrohung, der diese Institutionen durch den sozialistischen Staat ausgesetzt sind.

Und sie muss eine Auffassung von Bürgerschaft entwickeln, die sowohl den aufklärerischen Glauben an die Freiheit als auch den Respekt für nationale Grenzen bewahrt. Die Menschen überall in Europa verlangen nach Politikern, die eine solche Philosophie artikulieren und sich an deren Umsetzung machen. Und doch tritt niemand in ihrem Namen hervor.

Roger Scruton
Sir Roger Scruton war unter anderem von 1992 bis 1995 Professor für Philosophie an der Boston University und von 2005 bis 2009 am Institute for the Psychological Sciences in Arlington. Zu seinen Werken gehören unter anderem „On Human Nature“ (2017) und „The Soul of the World“ (2016, beide Princeton University Press). roger-scruton.com