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Die Nato steckt in der Krise

Titelthema - Die Nato steckt in der Krise
Am Rande des Nato-Gipfels in London kam es zu Protesten gegen die Kriegshandlungen der Türkei in Nordsyrien. © Dominika Zarzycka/nurphoto

Verschiedene nationale Interessen, strategische Uneinigkeit und nationale Sonderwege: Das Bündnis kann ohne strategische Neubesinnung nicht weiter existieren.

Johannes Varwick01.01.2020

Auch heutzutage ist 70 ein rüstiges Alter. Aber trotzdem stellen viele rund um diesen Geburtstag die Frage: Wie lange macht sie es wohl noch, die Nato? Das Gerede von der Krise hat die Allianz in den sieben Jahrzehnten ihres Bestehens stets begleitet. Sie lebte ganz gut damit, dass ihr permanent das Totenglöckchen geläutet wurde. Dass aber Präsidenten von zentralen Mitgliedsstaaten die Allianz wahlweise als „obsolet“ (Trump) oder gar „hirntot“ (Macron) bezeichnen ist ebenso neu wie der Umstand, dass mit der Türkei (Erdogan) ein Nato-Staat nicht nur ohne Absprache in Syrien interveniert, sondern sogar russische Waffensysteme kauft und damit die Luftabwehrfähigkeiten der Allianz gefährdet.

Spätestens der „Trump-Schock“ hatte bereits allen Staaten vor Augen geführt, dass in der Sicherheitspolitik eine gewisse Rückbesinnung auf die eigene, nationale Handlungsfähigkeit geboten ist und Bündnisse in aller Regel nur Zweckbündnisse auf Zeit und niemals unantastbar sind. Die USA können ihre Interessen und Ziele in (fast) jedem Fall auch unilateral verfolgen, und für die kleineren Bündnispartner scheidet rein nationales militärisches Handeln als Alternativoption aus. Aber für die größeren Mitgliedstaaten – Türkei, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Polen – sieht das schon anders aus. Auch wenn in allen genannten Fällen der transatlantische oder zumindest der europäische Verbund das Handlungspotenzial vervielfältigt, beziehungsweise bei Lichte betrachtet: erst wirklich schafft, und es deshalb in ihrem Interesse bleibt, diese Dimension zu stärken, kann erwartet werden, dass notfalls über die Bündnisbelange hinaus – und möglicherweise künftig sogar verstärkt – auch national gedacht und agiert wird.

Die Suche nach Gemeinsamkeiten
Es sind nicht so sehr nationale Alleingänge oder die Rhetorik einiger hitzköpfiger Protagonisten – beides hat es von Suez (1956) bis Irak (2003) immer gegeben –, sondern die massive Infragestellung der Relevanz des Bündnisses durch wichtige Mitgliedsstaaten in Kombination mit der Erschütterung der strategischen Grundlagen, die derzeit eine „perfekte Krise“ ergeben. Der vergleichsweise harmonisch verlaufene Londoner Gipfel Anfang Dezember 2019 hat dies nur notdürftig überdeckt. Die Zukunft der Allianz als handlungsfähiges Bündnis und sicherheitspolitischer Kristallisationspunkt ihrer Mitgliedsstaaten ist mithin offen wie nie. Dieser These liegen letztlich zwei tiefer liegende zentrale Strukturprobleme der Allianz zugrunde.

An erster Stelle steht die Frage, ob es noch eine gemeinsame oder zumindest eine vorherrschende Bedrohungswahrnehmung in der Allianz gibt. Unterschiedliche Einschätzungen bei zentralen Themen wie Blick nach Osten versus Blick nach Süden, Gewichtung der unterschiedlichen Aufgaben, Bewertung des Aufstiegs Chinas, Terrorismusdefinition und -bekämpfung, Cyber- und Energiesicherheit lassen es fraglich erscheinen, ob alle Partner noch das gleiche Verständnis von Sicherheit und der daraus ableitbaren Prioritäten der Bündnisaufgaben haben, was aber beides entscheidend für eine gemeinsame Sicherheitspolitik ist beziehungsweise wäre.

Ein zweites Strukturproblem zielt auf die Frage, was die Mitgliedsstaaten der Nato gemeinsam machen können beziehungsweise wollen und was sie entsprechend finanzieren möchten. Flexible Teilnahme an Nato-Missionen und -Themen ist zwar faktisch und vertraglich schon heute vorgesehen, denn die Beistandspflicht gilt ausschließlich bei Artikel 5 des Nordatlantikvertrags – und auch dann in seiner praktischen Ausgestaltung nach Ermessen jeder Regierung. Sollte dies aber die generelle Entwicklung der Nato widerspiegeln, würde es auf eine deutliche Änderung der Bündnisgrundlagen hinauslaufen. Aus solchen Ad-hoc-Koalitionen würden aber – so notwendig sie im Einzelfall sein mögen – gleichwohl unerwünschte Konsequenzen entstehen. Wenn Ad-hoc-Handeln nicht nur im Einzelfall denkbar, sondern bereits konzeptionell eingeplant ist, resultiert daraus bei anderen Akteuren auch außerhalb des Bündnisses Misstrauen, möglicherweise mit der Folge neuer Konfliktformationen.

Bereits mit diesen beiden Strukturproblemen befindet sich die Nato in einem vielschichtigen Dilemma. Ob die innere Kohärenz für die neuen politischen Aufgaben in dem Maße gegeben ist, wie sie durch die jahrzehntelange gemeinsame Bedrohungswahrnehmung durch einen klar definierbaren Gegner gegeben war, ist fraglich. Stattdessen gewinnen rein nationale Sonderwege an Attraktivität und untergraben den Zusammenhalt im Bündnis weiter. Zudem ist nicht ausgemacht, dass sich wichtige Staaten dauerhaft innerhalb der Nato und für die Nato engagieren und ihre Zusagen einhalten – die Wahl Donald Trumps und die damit verbundenen Zweifel an der Rolle der USA sind hier nur ein besonders drastisches Beispiel.

Die ungeklärte Rolle der EU
Dies wird an zwei weiteren strategischen Themen sehr deutlich: Erstens, der Umgang mit einem zunehmend revisionistischen Russland. Die Nato steht seit spätestens 2014 vor einem Spagat: einerseits Russland, das zunehmend machtbewusst in der internationalen Politik auftritt, durch eine Neubewertung des Themas Bündnisverteidigung von (weiterem) militärischem „Abenteurertum“ abzuschrecken, ohne damit die Chancen auf eine Rückkehr zu einem konstruktiveren Verhältnis zu untergraben, und zugleich andererseits die grundsätzliche Fähigkeit zum internationalen Krisenmanagement auch „out of area“ aufrechtzuerhalten oder gar auszubauen – eine Gratwanderung, die den Verbündeten viel abverlangt. Die Bedrohungsanalyse mit Blick auf Russland ist und bleibt der bestimmende Faktor der Nato-Ausrichtung, entweder in Richtung Entspannung und Öffnung (etwa nach Ende des Ost-West-Konflikts bis zur Georgienkrise 2008) oder in Richtung Verschärfung und Fokussierung (während des Ost-West-Konflikts in unterschiedlicher Ausprägung und spätestens wieder seit 2014). Die Nato definiert sich also de facto wesentlich durch ihr Verhältnis gegenüber Russland. Die ab 2014 in Reaktion auf die russische Annektierung der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine eingeleitete moderate, aber dennoch ohne Zweifel ernst gemeinte Rückversicherungspolitik der Nato ist insofern ein richtiger Ansatz. Gleichwohl wird im Rückblick möglicherweise deutlicher, von wie vielen Fehlannahmen die Beziehungen zwischen der Nato und Russland geleitet wurden. Wie es gelingen kann, Russland wieder aus seinem konfrontativen anti-westlichen Kurs herauszuführen, ist in der Allianz umstritten, und es ist nicht erkennbar, wie hier ein Konsens hergestellt werden kann. Frankreich etwa sieht das vollkommen anders als die Osteuropäer.

Zweitens: Der ungeklärte gemeinsame Status der EU-Staaten im Bündnis und die sich absehbar wandelnde Rolle der USA für europäische Sicherheit erzwingen einen Selbstfindungsprozess Europas in Sicherheitsfragen, mit offenen Konsequenzen für die Allianz. Dabei geht es im Wesentlichen darum, inwieweit die immer noch weitgehend mit sich selbst beschäftigte „Konjunktivmacht EU“ Aufgaben, die bisher die Nato wahrnimmt, übernehmen kann und will. Mit der Konkretisierung der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU“ (GSVP) stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Nato neu. Zentraler Punkt ist, ob die EU eine Art Zweigstelle der Allianz für besondere Aufgaben wird oder ob ein großer Teil dessen, was an sicherheitspolitischen Aufgaben auf eine um die GSVP bereicherte EU zukommt, nicht doch besser, schneller und effizienter von der Nato geleistet werden kann. Diese Frage kann nach heutigem Stand noch nicht endgültig beantwortet werden, denn es ist offener denn je, ob es die EU schafft, sich zu einem einheitlichen politischen Akteur zu entwickeln.

Weniger abstrakt formuliert: Trotz des routinehaften Arbeitens der Allianz-Bürokratie in der Brüsseler Zentrale und den diversen Nato-Einrichtungen und Hauptquartieren droht der transatlantische Laden aufgrund divergierender nationaler Interessen, strategischer Uneinigkeit sowie zunehmender nationaler Sonderwege auseinanderzufliegen. Damit dies nicht zum Ende der Nato führt, wäre eine wirkliche strategische Neubesinnung notwendig, für die es in der turbulenten Welt (un)-ordnung aber derzeit nur wenig Unterstützung gibt.

Johannes Varwick
Prof. Dr. Johannes Varwick lehrt internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und ist zudem Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. gsp-sipo.de