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Titelthema

Die neue Polarisierung der Sozialstruktur

Titelthema - Die neue Polarisierung der Sozialstruktur
Neben dem Sektor der hochqualifizierten Tätigkeiten des Informationszeitalters expandiert auch der Bereich der einfachen Service-Tätigkeiten – Paketdienste, Raumpflege und Sicherheit. Die Mitte dazwischen wird kleiner. © imago/Ralph Peters

Wie das digitale Zeitalter die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der Nachkriegszeit auflöst – und neue Ober-, Mittel- und Unterschichten entstehen

Andreas Reckwitz01.11.2019

Ob man in die Vereinigten Staaten blickt oder nach Frankreich, nach Großbritannien, nach Italien oder nach Deutschland – die westlichen Gesellschaften erleben gegenwärtig unruhige Zeiten. Hatte man sich in der Epoche seit dem Mauerfall bis vor wenigen Jahren noch am „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) gewähnt, erweist sich die Vorstellung eines ungebrochenen gesellschaftlichen Fortschritts mittlerweile als Illusion. Heftige Konflikte sind ausgebrochen und reichen vom Aufstieg populistischer Parteien bis hin zur alltäglichen Aggressivität in den sozialen Medien. Umfragen zeigen, dass das Vertrauen in die westlichen Demokratien und in eine bessere Zukunft stark gelitten hat.
Was ist die Ursache dieser Konflikte? Manche Kommentatoren sehen regionale Disparitäten als die Wurzel der neuen Differenzen, auf Deutschland bezogen vor allem zwischen West- und Ostdeutschland. Andere meinen, dass die Folgen der globalen Migrationsprozesse neue kulturelle Konflikte heraufbeschwören. Schließlich könnte man auch daran denken, dass der politische Konflikt zwischen Links und Rechts, der die politische Agenda schon seit dem 19. Jahrhundert prägt, nun in eine neue Runde geht.

Aufstiege und Abstiege
Aus meiner Perspektive kratzen solche Deutungen nur an der Oberfläche. Die eigentlichen Ursachen für die gegenwärtigen Polarisierungen sind in einem grundsätzlichen Wandel der modernen Gesellschaften zu suchen. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne, welche die 1950er bis 70er oder 80er Jahre prägte, ist passé. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wandlungsprozesse haben seitdem eine neue polarisierte Sozialstruktur entstehen lassen: Auf der einen Seite ist eine neue, urbane, kosmopolitische Mittelklasse, eine Akademikerklasse, emporgestiegen, auf der anderen eine neue prekäre Unterklasse aus der Mittelschicht herausgerutscht. Zwischen beiden befindet sich eine teilweise verunsicherte traditionelle Mittelklasse in einer Art Sandwich-Position. Insgesamt gilt: Soziale Auf- und Abstiegsprozesse, kulturelle Auf- und Abwertungsprozesse verlaufen in der spätmodernen, postindustriellen Gesellschaft gleichzeitig. Die aktuellen politischen Konflikte sind der explosive Ausdruck dieses Wandels in der Tiefenstruktur der Gesellschaften.
Seit den 1980er Jahren haben sich in der Mitte der Gesellschaft die Lebenswelten und Lebensgefühle, die Werte und Alltagslogiken auseinanderentwickelt. Dies ist neu: Die alte Industriegesellschaft der 1950er bis 1970er Jahre enthielt sicherlich auch ihre sozialen und kulturellen Unterschiede, aber in ihrem Kern war sie – mit Helmut Schelsky gesprochen – eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, nicht nur in Westdeutschland, sondern etwa auch in den USA. Hier zählten 90 Prozent der Gesellschaft zur großen breiten Mittelschicht; diese war verhältnismäßig egalitär und der Lebensstil ihrer Teilnehmer recht ähnlich. Angestellte, Beamte des mittleren Dienstes, lokale Unternehmer, Facharbeiter – selbst viele angelernte Arbeiter konnten sich den Mittelschichtslebensstil leisten und hatten ähnliche Aspirationen in Richtung von Kleinfamilie, Statusinvestition und Lebensstandard.
Allein: Diese große, allumfassende Mittelschicht gibt es nicht mehr. Drei gesellschaftliche Umwälzungen haben ihre Dominanz hinweggefegt: die Postindustrialisierung der Ökonomie, die Effekte der Bildungsexpansion und die kulturelle Liberalisierung des Wertewandels. Dies sind allmähliche, langsame Entwicklungen über mehrere Jahrzehnte hinweg, so dass man sie lange Zeit leicht übersehen konnte.

Die Welt der Dienstleistungen
Zentral ist der Wandel der Ökonomie von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft. 1960 waren 50 Prozent der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik im sekundären, im industriellen Sektor beschäftigt, heute sind es kaum mehr als 20 Prozent – in den USA oder Großbritannien ist es noch drastischer. Mancherorts hat eine regelrechte Entindustrialisierung stattgefunden. Die Postindustrialisierung hat selbst ein ganzes Bündel von Ursachen (unter anderem Automatisierung, Globalisierung von Produktionsketten, neue Nachfrage nach Services und komplexen Gütern durch Konsumenten und Unternehmen). In jedem Fall ist ihre Wirkung auf die Lebenswelten durchschlagend: 75 Prozent der Menschen arbeiten heute im tertiären Sektor, in den „Dienstleistungen“.
Der Begriff der Dienstleistungen ist freilich missverständlich, denn hinter ihm verbergen sich zwei sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Arbeitswelten: die Wissensökonomie einerseits, die sogenannten einfachen Dienstleistungen andererseits. Auf der einen Seite gibt es einen expandierenden Sektor von hochqualifizierten Tätigkeiten – Forschung und Entwicklung, Medizin, Bildung, Recht, Finanzen, Kreativbranche etc. –, die vor allem von Akademikern erbracht werden und mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung und persönlicher Befriedigung rechnen können. Auf der anderen Seite expandieren jedoch auch die sogenannten einfachen Dienstleistungen (Reinigung, Transport, Sicherheit etc.); häufig körperliche Arbeiten eines neuen Dienstleistungsproletariats mit wenig Ansehen und Befriedigungsmöglichkeiten. Eine polare Struktur, die durch die Auswirkungen der Digitalisierung noch verschärft wird.
Die Postindustrialisierung der Ökonomie ist eng mit der Bildungsexpansion verknüpft. Während in der Industriegesellschaft der Volksschulabschluss die Norm war, hat sich seit den 1970er Jahren das Segment der Personen mit Universitätsabschlüssen von einer winzigen Bildungselite in eine beträchtliche Gruppe verwandelt, die bereits 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht – Tendenz steigend. Es hat eine tiefgreifende Akademisierung stattgefunden, die freilich nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer kennt: Die Bildungsverlierer sind jene, die hinsichtlich ihrer Qualifikation nicht mithalten, die beim Run auf die guten Schulen und Hochschulen auf der Strecke bleiben – sie werden zu „Niedrigqualifizierten“.

Umwandlung der Werte
Der Wandel von der industriellen zur postindustriellen Moderne ist jedoch nicht nur ein sozial-ökonomischer, er ist auch ein kultureller: Waren die alte Industriegesellschaft und ihre allumfassende Mittelschicht von Werten der Selbstdisziplin und der sozialen Pflichten sowie der Einfügung in die Gemeinschaft geprägt, so haben in den letzten Jahrzehnten Werte der individuellen Selbstentfaltung und -verwirklichung enorm an Bedeutung gewonnen. Die Erwartungen an das „gute Leben“ sind gestiegen, Singularität des eigenen Lebens und persönliche Befriedigung sind zu zentralen Werten geworden und wirken sich in Beruf und Freizeit gleichermaßen aus. In diesem Zusammenhang findet eine umfassende kulturelle Liberalisierung statt. Wiederum sind es besonders die Akademiker, welche die liberalen Selbstverwirklichungswerte leben.
Postindustrialisierung, Bildungsexpansion, Wertewandel – zusammengenommen wälzen sie die Sozialstruktur der westlichen Gesellschaften seit den 1980er Jahren um. Auf der Gewinnerseite des Modernisierungsprozesses steht die neue Mittelklasse. Es handelt sich meist um Akademikerinnen und Akademiker, meist in der Wissensökonomie im weiteren Sinne beschäftigt; eine in den letzten Jahrzehnten stetig wachsende Gruppe. Sie sind das trendsetzende Schlüsselmilieu der Gegenwartsgesellschaft. Die neue Mittelklasse lebt konzentriert in den Metropolregionen, auch weil sich hier die entsprechenden Branchen ballen – ob in Atlanta oder Kopenhagen, Mailand oder Köln, Toulouse oder Zürich. Sie zeichnet eine hohe räumliche und soziale Mobilität aus. Diese Gruppe bildet die Speerspitze von Postindustrialisierung, Bildungsexpansion und kultureller Liberalisierung.
Die neue Mittelklasse trägt viele der Leitwerte der postindustriellen „Gesellschaft der Singularitäten“: lebenslanges Lernen und Selbstoptimierung, Flexibilität und Mobilität, Kreativität und Geschlechteremanzipation, gesunde Lebensführung, Diversität und Ökologie etc etc. In der neuen Mittelklasse kreuzt sich gewissermaßen die Tradition der Bürgerlichkeit mit jener der Romantik und Boheme: Man will ein erfolgreiches Leben, aber zugleich sein Selbst kreativ verwirklichen. Alltägliche Aktivitäten wie Ernährung, Reisen, körperliche Bewegung und nicht zuletzt die Bildung der Kinder erlangen eine wichtige Bedeutung. Politisch ist man meist liberal orientiert – manche stärker wirtschaftsliberal, andere stärker linksliberal –, der Globalisierung gegenüber offen; man zählt zu dem, was Politikwissenschaftler „liberale Kosmopoliten“ nennt.

Von „Mitte und Maß“ zu Mittelmaß
Auf der Verliererseite der gesellschaftlichen Transformation steht die neue prekäre Klasse. In mancher Hinsicht ist sie die Erbin der früheren Arbeiterschaft. Während in der industriellen Moderne jene, die von körperlicher Arbeit lebten, wohlintegriert und Teil der großen Mittelschicht waren, finden sich die meisten der – nun geschrumpften – Gruppe der körperlich Arbeitenden im Zuge der Deindustrialisierung in der service class, in den einfachen Dienstleistungen des Niedriglohnsektors wieder. Hier ist man in mehrfacher Hinsicht gehandicapt: Ein Mittelschichtsleben kann man sich schon materiell nicht mehr leisten. Aber auch auf symbolischer Ebene hat Arbeit als mühevolle „Maloche“ in einer Gesellschaft, in der die Akademiker den Ton angeben, an Ansehen verloren. In der prekären Klasse fehlen die Möglichkeiten für jene Statusinvestition, die das Leben in der Mittelklasse anleitet: An die Stelle der Lebensplanung tritt eine alltägliche Logik des „muddling through“, ein „Leben auf Sicht“, in dem jede Schwierigkeit eine existenzielle Gefahr werden könnte.
Während die neue, hochgebildete Mittelklasse aus der alten Mittelklasse emporsteigt, fällt die neue Unterklasse also aus ihr heraus. Aber die traditionelle Mittelklasse gibt es weiterhin. Ihr Ort im gesellschaftlichen Gefüge hat sich freilich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ deutlich verändert. War sie in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft „Mitte und Maß“, droht sie im Rahmen der neuen Drei-Klassen-Gesellschaft nur noch Mittelmaß zu sein: in einer Sandwich-Position eingeklemmt zwischen den urbanen, mobilen Aufsteigern der Akademikerklasse und den Absteigern der prekären Klasse.
Wohlgemerkt: Die traditionelle Mittelklasse ist vielerorts auf materieller Ebene weiterhin gutsituiert. Aber ihr sozialkultureller Status in der Gesellschaft gerät ins Rutschen – bis hin zu subtilen Gefühlen der Entwertung. Die traditionelle Mittelklasse: Dies sind Menschen mit mittlerer Bildung und mittlerem Einkommen in traditionellen Angestellten- oder auch noch Facharbeiterberufen sowie lokale Selbständige; sozialräumlich liegt ihr Schwerpunkt in den kleinstädtischen oder auch ländlichen Regionen. Der Wertehorizont ist hier weniger von Erfolg und Selbstentfaltung, sondern von Werten des materiellen Status, der Ordnung und der sozialen Verwurzelung geprägt.
Die traditionelle Mittelklasse sieht sich durch den Modernisierungsprozess in die Defensive gedrängt: Die ökonomische Konzentration auf die stetig wachsenden Metropolregionen droht die kleinstädtisch-ländlichen Regionen vielerorts „abzuhängen“, die Akademisierung lässt mittlere Bildungsgänge an Ansehen verlieren, die neue Bedeutung des Klimaschutzes bringt die „automobile“ Lebensweise in den Kleinstädten in Bedrängnis. Die Leitwerte der globalisierten Spät- oder Hochmoderne sind Entgrenzung und Autonomie, nicht Ordnung und Bindung. Politisch ist die traditionelle Mittelklasse damit gegenüber der Globalisierung und Liberalisierung eher skeptisch eingestellt.

Die Konflikte brechen aus
Eine Zeitlang konnte sich die Disparität zwischen neuer Mittelklasse, neuer prekärer Klasse und traditioneller Mittelklasse fast unbemerkt von der Öffentlichkeit entfalten. Die Lebenswelten und Lebensgefühle haben sich zunächst jenseits des öffentlichen Radars auseinanderentwickelt – mittlerweile treten sie aber auch in der politischen Auseinandersetzung deutlich zu Tage. Ist die Gelbwestenbewegung in Frankreich nicht Ausdruck der ländlichen traditionellen Mittelklasse und von Teilen der prekären Klasse? Ist „Fridays for Future“ nicht Ausdruck der Schüler aus der urbanen neuen Mittelklasse? Ist die Erosion der sozialdemokratischen und konservativen Volksparteien, die in vielen Ländern stattfindet, nicht ein Ergebnis der sich ausdifferenzierenden und polarisierenden Sozialstruktur?
Ein einfaches Zurück in die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne wird es nicht geben. So kommt es darauf an, das die postindustrielle Gesellschaft einen konstruktiven Umgang mit den neuen Interessens- und Wertkonflikten erlernt. Immerhin lehrt die Geschichte, dass Phasen des Konflikts und Phasen des Konsenses einander abwechseln – normal sind sie beide.

Andreas Reckwitz
Prof. Dr. Andreas Reckwitz ist Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Für seine Arbeiten zeichnete ihn die Deutsche Forschungsgemeinschaft in diesem Jahr als „einen der führenden und originellsten Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart“ mit dem Leibniz-Preis aus. Soeben erschien „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (Suhrkamp).
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