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Die Psychiatriereform in Deutschland
Erst vor 50 Jahren änderte sich der Blick auf psychisch Kranke. Ein historischer und autobiografischer Bericht
Die Ausschließung psychisch Kranker als Irre aus der Lebensgemeinschaft der „Gesunden“ und ihre Unterbringung in gruseligen Verliesen oder geschlossenen Anstalten hat eine lange Geschichte. Erst im 19. Jahrhundert wurden die „Irren“ als Kranke definiert und der Medizin überantwortet, die allerdings noch keine Kenntnisse der Ursachen und keine Möglichkeiten wirksamer Behandlung hatte. Anstalten unter ärztlicher Leitung schienen die einzige Möglichkeit humanitärer Versorgung zu sein. Da psychisch Kranke als gefährlich angesehen wurden, mussten sie geschlossen untergebracht werden. Der ärztliche Leiter der neu gegründeten Irrenanstalt Heidelberg, Friedrich Groos (1768–1852), verkündete 1845: „Die Irrenanstalt ist eigentlich als eine polizeiliche Anstalt, als ein Gefängnis aufzufassen. Bei den meisten Insassen besteht ohnehin keine Hoffnung auf Heilung. Durch die Internierung werden sie wenigstens der Öffentlichkeit entzogen.“
Sein Schüler Christian Roller leitete eine Reform ein. Belastende Umwelt, schlechte Erziehung und unordentliche Lebensführung seien Ursachen psychischer Krankheiten. Er folgerte: „Jeder Seelengestörte muß von den Personen getrennt werden, mit welchen er früher Umgang pflog; er muß an einen anderen, ihm unbekannten Ort gebracht werden; die, welche ihn verpflegen, müssen ihm fremd sein. Er muß, mit einem Worte gesagt, isolirt werden.“ Die Anstalt sollte den Kranken eine neue Gemeinschaft bieten und sie mit christlicher Lebensführung wieder zu gesunden Lebensformen zurückführen. Anstaltsplaner aus der ganzen Welt besuchten Rollers Musteranstalt Illenau (Baden). Fortan wurden psychiatrische Krankenanstalten isoliert vorwiegend in einsamen Gegenden fern von Allgemeinkrankenhäusern untergebracht. 1913 gab es im Deutschen Reich 546 öffentliche psychiatrische Anstalten.
Die Annahme von Gewaltbereitschaft und der Mangel wirksamer Behandlung verlängerte die Anstaltsaufenthalte. In Deutschland waren 1970, 25 Jahre nach Kriegsende, die 130 verbliebenen psychiatrischen Anstalten immer noch geschlossen, mit vergitterten Fenstern versehen und großenteils überbelegt. Das zeigt der Blick in eine Frauenabteilung des württembergischen Landeskrankenhauses Zwiefalten um 1970 mit 90 eng aufgestellten Betten in einem Saal. Die Kranken hatten ihre Habseligkeiten in schmalen Schränken, teilweise auch nur in einer Schachtel unter dem Bett. Unter solchen Bedingungen mussten zahlreiche Patienten oft viele Jahre ihres Lebens verbringen.
In der gebildeten Weltbevölkerung verbreitete sich schon um die Jahrhundertwende Darwins Evolutionslehre und die Eugenik nach Francis Galton. Man nahm an, lebensverlängernde Krankenheilung und Behindertenpflege fielen der natürlichen Selektion der Menschen in die Arme. Man entschied sich für Selektion und Zwangssterilisation der geistig Behinderten in skandinavischen Staaten, in Großbritannien, in einigen Schweizer Kantonen und in mehreren Staaten der USA – dort sogar mit Zustimmung der obersten Bundesrichter 1927. Das geschah teilweise bis in die 1980er Jahre. In Deutschland wurde 1934 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ die Zwangssterilisierung von Geistes- und Erbkranken, aber auch von Alkoholikern, rückfälligen Schwerverbrechern und von Zigeunern begonnen.
Mit der Schrift des angesehenen Leipziger Strafrechtlers Karl Binding und des Freiburger Ordinarius für Psychiatrie Alfred Hoche (1920) wurde in Deutschland der nächste Schritt, die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, gefordert.
Adolf Hitler hat 1939 die Tötung angeblich unheilbar Geisteskranker unter Bruch der Menschenrechte angeordnet. Dieses „Euthanasieprogramm“ wurde durch eine Predigt des Bischofs von Münster, Graf von Galen, mit offener Darstellung dieses ungeheuerlichen Verbrechens beendet, aber im Geheimen bei Kindern und in Anstalten besetzter Ostgebiete noch fortgeführt. Zu rechnen ist mit etwa 200.000 Opfern.
Das große Schweigen
Nach Kriegsende 1945 waren die psychiatrischen Krankenanstalten innen und außen vernachlässigt und nach wie vor geschlossen. Langfristig untergebrachte Kranke wurden weiterhin vergessen, während der Wiederaufbau draußen rasch voranschritt.
Eine biografische Information: Ich war als 14-Jähriger 1940 wegen staatsfeindlicher Äußerungen von einem Banngericht in München zur Degradierung und unehrenhaften Ausstoßung aus der Hitlerjugend verurteilt worden. Im Februar 1945 erhielt ich eine Einberufung zur Waffen-SS nach Garmisch. Ich ließ mich von der Generaloberin des Dritten Ordens, deren politische Gesinnung mir vertraut war, als Hilfspfleger im Luftwaffenlazarett für Lungenschussverletzte im Krankenhaus des Dritten Ordens anstellen. Das Lazarett wurde aus München in die entleerte, nicht bombengefährdete „Schwachsinnigen-Assoziations-Anstalt“ Schönbrunn bei Dachau verlegt. Die Insassen der Anstalt waren überwiegend der Euthanasie zum Opfer gefallen. Viele getötete Behinderte hatten Eltern oder Geschwister in der dortigen Bevölkerung. Mich hat die Trauer und das enorme Leid der Angehörigen tief bewegt. Ich habe meinen Plan, Chemie zu studieren, aufgegeben und entschied mich für Medizin, um als Psychiater einen Beitrag zur Verhinderung solchen Leids und weiterer Krankenmorde zu leisten.
Viele Jahre dieser Bemühungen, die ich als Psychiater gemeinsam mit meinem gleichgesinnten Freund, dem Psychiater Caspar Kulenkampff, unternahm, waren vergeblich. Ich lernte, dass eine große Zahl von Menschen, die an den Krankentötungen nur indirekt beteiligt waren, das Schweigen aufrechterhielten, was die übrige Bevölkerung mit übernahm.
1965 hatte ich eine Denkschrift veröffentlicht und darin die damaligen Verhältnisse in deutschen psychiatrischen Krankenhäusern als nationalen Notstand bezeichnet. Ich hatte die Reform der psychiatrischen Versorgung und die Einrichtung einer Sachverständigenkommission verlangt, die die Verhältnisse analysiert und Pläne für eine Reform ausarbeitet, nur konnten wir nichts Wesentliches bewegen.
Schließlich ist es uns doch gelungen, einige wenige Journalisten, so den damaligen Leiter des Kultur- und Wissenschaftsressorts der FAZ Rainer Flöhl und den jungen Tübinger Arzt Dr. Asmus Finzen als öffentliche Verfechter unserer Reformpläne zu gewinnen. Prof. Kulenkampff und ich als Nachfolger haben in unseren eigenen Arbeitsgebieten kleine Modelleinrichtungen moderner psychiatrischer Versorgung etabliert. Als großes Modell habe ich das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim geplant. Ich habe 1963 an der Heidelberger Klinik eine zweijährige sozialpsychiatrische Weiterbildung für Krankenpflegepersonal aufgebaut, weil Schwestern und Pfleger die Verhältnisse auf der Krankenstation und den persönlichen Umgang mit den Kranken am ehesten ändern können, denn sie verbringen die meiste Zeit mit den Kranken.
1970 hat das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) an der Universität Heidelberg, das die Revolution des hierarchischen Systems der Bundesrepublik mit der Eroberung der Stadt Heidelberg auslösen wollte, sich zunächst als psychiatrische Reformbewegung stilisiert. Nachdem ich erfahren hatte, dass sich das SPK mit Abhöreinrichtungen, Handfeuerwaffen und Sprengstoff ausgerüstet hatte, unterrichtete ich den Rektor der Heidelberger Universität, den Innenminister und die Fraktionsvorsitzenden des Landes und vertraulich den Bundespräsidenten. Als ich vom Senat der Universität als Obergutachter über drei Gutachten, die empfahlen, das SPK als Institution der Universität finanziell und räumlich zu unterstützen, und über drei von Psychiatern erstattete Gutachten, die dem widersprochen hatten, bestellt worden war, erörterte ich mein mündliches Gutachten in der Sitzung. Das war abgehört und einige Tage später bruchstückhaft in der Zeitschrift Das Argument veröffentlicht worden. Danach erklärte mich das SPK zum Gegner Nummer eins.
Bedrohung bis zur Festnahme
Ich war durch Flugblätter des SPK und durch diffamierende Schreiben unter anderem des italienischen Psychiatriereformers Franco Basaglia und durch Protestbriefe des französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre und aus zahlreichen Ländern gewarnt worden. 1971 wurde im Stadtwald die Leiche einer Studentin gefunden, die sich das Leben genommen hatte. Sie hinterließ einen offenen Brief an den Leiter des SPK, Dr. Huber, worin sie schrieb, sie hätte Behandlung gesucht, sei aber nur zur politischen Agitation trainiert worden. Als Reaktion darauf wurden Flugblätter verteilt, die unter der Überschrift „Selbstmord = Mord“ die Verantwortung für den Suizid den Gegnern des SPK zuschoben. An unserem und an den Häusern anderer Gegner des SPK wurde mit schwarzer Ölfarbe in großen Buchstaben „Mörder“ geschrieben. Am 25. Mai 1971 erhielten der damalige Kultusminister Prof. Hahn, Rektor Prof. Rendtorff und ich per Flugblatt ein Urteil „einer Fraktion der Volksgerichte, früher im Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg“ wegen Mordes. Für uns drei wurde Polizeischutz angeordnet, der etwa drei Monate später durch die Festnahme des Leiters und mehrerer führender Mitglieder des SPK beendet wurde. Während dieser kurzen Periode der Gefährdung haben sich unsere Familien ziemlich bedroht gefühlt.
1967 schrieb der CDU-Abgeordnete Walter Picard einen Brief an den inzwischen zum rheinischen Landesrat berufenen Prof. Kulenkampff und mich mit dem Vorschlag gemeinsamer Bemühungen um die Herbeiführung einer Psychiatriereform. Daraus entwickelte sich eine ziemlich erfolgreiche Interessengemeinschaft. Am 17. April 1970 hielt der Abgeordnete Picard für die damalige CDU-Opposition im Deutschen Bundestag eine historische Rede, die vorher mit Kulenkampff und mir besprochen worden war. Er schilderte den Zustand der deutschen Psychiatrie und stellte den Antrag, die Bundesregierung mit der Berufung einer Enquete zur Erarbeitung einer Psychiatriereform zu beauftragen. Der Antrag erhielt die Zustimmung aller Parteien. Am 23. Juni 1971 wurde die Enquetekommission berufen, Prof. Kulenkampff, der politische Fachmann, zum Vorsitzenden und ich als Reformpsychiater zum stellvertretenden Vorsitzenden bestellt. Zugeordnet wurden der jeweilige Präsident der deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrie und je ein Vertreter des Bundes und der Länder.
Wir haben mit 18 Mitgliedern aus einschlägigen Fachgebieten (Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Allgemeinpraxis, Pflege) die Arbeit aufgenommen und im Oktober 1973 in einem Zwischenbericht im Deutschen Bundestag festgestellt, „dass eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, (...) als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen“, und verlangten von den zuständigen Behörden sofortige Abhilfe. Den Schlussbericht haben wir am 25. November 1975 der Bundesministerin für Gesundheit, Dr. Katharina Focke, überreicht.
Die Enquete hat in der Psychiatrie einen umfassenden Systemwechsel angestoßen. So wurde etwa die notwendige Anzahl neuer Stellen für ärztliches und Pflegepersonal geschaffen und die Unterbringung von Kranken modernisiert, bis der Standard normaler Krankenhäuser erreicht war. Die sozialpsychiatrische Zusatzausbildung wurde als psychiatrische Weiterbildung für Krankenpflegepersonal staatlich anerkannt und von vielen psychiatrischen Zentren weitergeführt. Neue psychiatrische Krankenhäuser wurden nicht mehr isoliert in Bevölkerungsferne, sondern im Verbund mit Allgemeinkrankenhäusern errichtet. Die ehemaligen stadtfernen „Irrenspitäler“ wurden mit einer Ausnahme, die geschlossen wurde, in moderne, offene, meist multidisziplinäre Psychiatriezentren überführt. Die Krankensäle wurden in Zwei- und Ein-Bett-Zimmer verwandelt.
Moderne Alternativen für langfristige Krankenhausaufenthalte wurden geschaffen. Die Dauer der stationären Behandlung konnte durch neu entwickelte Medikamente, Psycho- und Soziotherapie erheblich abgekürzt werden. Für die Nachbehandlung standen Tageskliniken, Fachambulanzen und in leichteren Fällen niedergelassene Ärzte zur Verfügung.
Die deutsche Psychiatrieenquete, die ich hier nur kurz beschrieben habe, ist nach dem Urteil der zuständigen Mental-Health-Abteilung der Weltgesundheitsorganisation international die erfolgreichste, auch weil sie landesweit von den Regierungen des Bundes und der Länder in gleicher Form realisiert wurde. Sie ist nach der Wende im Osten mit großem Aufwand nachvollzogen worden. Sie wurde auch zum Vorbild analoger Reformbemühungen nicht nur in europäischen Ländern, sondern auch im psychiatrisch äußerst rückständigen China.
Prof. Dr. Heinz Häfner, RC Heidelberg, ist Gründer des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt er 1994 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.