Die Rückkehr der Autokraten
Autor Silvio Vietta zu einem Thema, das dieser Tage immer aktueller zu werden scheint
Das frühe 21. Jahrhundert hat ein politisches Phänomen erlebt: Die Rückkehr der Autokraten auch in politischen Systemen, die zuvor als Demokratien galten wie der Türkei und auch in den USA. Was sind Autokraten? Das Wort stammt ab vom griechischen "autos" (selbst) und "kratein"(Macht ausüben). "Autokraten" sind daher "selbst ermächtigte Machthaber" vom Typus eines Donald Trump und Recep Erdogan. Aber auch Putin und Xi Jinping sind Autokraten, die sich in ihren Ländern eine buchstäblich grenzenlose Macht gesichert haben. Und auch in Afrika gibt es eine Reihe von Autokraten wie der Präsident Ugandas Yoweri Museveni u. a. [1].
Solche Autokraten lassen sich gerne auf Lebenszeit ernennen, sind also nicht mehr abwählbar. Grenzen setzt solchen Autokraten nur die Endlichkeit der Lebenszeit selbst. Aber in einer Demokratie wie den USA geht das natürlich nicht. Dennoch: Autokraten weichen, auch wenn sie nicht mehr gewählt werden, nicht gerne der Macht der Mehrheit. Der verunglückte Sturm aufs amerikanische Capitol im Januar 2021, Trumps Lügen in Bezug auf den Wahlausgang, das Leugnen der Realität gehören zum Arsenal der Autokraten. Trump musste am Ende abgehen. Aber wer weiß, ob er nicht im November 2024 wiederkommt.
Die Frage stellt sich: Was eigentlich ist die Faszination von Autokraten? Warum wählen Parteien, Parlamente, auch der Demos solche Machthaber zu ihren Präsidenten und Herrschern? Für die Autokraten selbst gilt Nietzsches Wort: Macht tendiert dazu, nach immer mehr Macht zu streben, Macht akkumuliert Macht: "Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.“[2] Nietzsche hat das den "Willen zur Macht“ genannt. Das Phänomen ist seit Alters her bekannt: Seit dem Neolithikum gibt es eine Geschichte der Macht der Imperien, der Tyrannen, der autokratischen Machthaber, zumeist militärische Führer und politische Strategen.[3] Autokratie wäre so gesehen eine menschliche Konstante in der Geschichte. Aber das erklärt natürlich nicht die Tendenz zur Autokratie gerade in unseren Tagen.
Bleiben wir einen Moment bei Donald Trump. Es ist klar: Er hat im Verlauf seines Wahlkampfes und auch seiner Präsidentschaft eine Menge Lügen verbreitet, auch Fake News aller Art. Aber das erklärt nicht seine Wahl und auch die anhaltende Begeisterung einer Vielzahl seiner Anhänger. Trump hat im Wahlkampf eine Gruppe von Menschen angesprochen, die sich zuvor als "vergessen“, "verloren“, politisch ausgesondert wahrgenommen hatten: "those forgotten men and women of our country“, die einmal stolz auf ihr Land waren und nun in "Rostgürteln“ der USA hausen, vielfach ohne Jobs, ihr Leben: elend und perspektivlos. Nicht die Demokratin Hillary Clinton, sondern Trump und seine Republikaner rückten diese Menschen wieder ins politische Rampenlicht und Trump gelang es auch, die Arbeitslosigkeit in den USA zu senken. Ich will hier nicht diskutieren, um welchen Preis das geschah. Die ökologische Bilanz seiner Amtszeit war sehr schlecht. Aber: Viele Menschen hatten doch das Gefühl, dass er sich primär um diese sorgt, und sein "America First!“ sprach ohnehin vielen Amerikanern aus dem Herzen.
Der Autokrat versteht es also, gerade auch die politisch Unterprivilegierten – oder Teile davon – "abzuholen" und solchen Menschen ein Gefühl von nationaler Wichtigkeit, Bedeutung und Perspektive zurückzugeben. Es waren ja auch nicht nur Weiße, die ihn gewählt haben, sondern auch viele Schwarze und Latinos, die mit ihm eine Hoffnung verbanden und die durchaus mit Trump auch der Meinung waren, die USA sollten nicht unbegrenzt Migranten ins Land lassen.
Das ist nicht wenig in Zeiten einer Globalisierung, die viele als übermächtig, feindlich, fremdgesteuert wahrnehmen. Und so ist ein Geheimrezept aller Autokraten in unseren Zeiten ein neuer Nationalismus, der den Globalismus einzudämmen vorgibt. Recep Erdogan, der zwölfte Präsident der Türkei, und seit dem Verfassungsreferendum von 2017 Vorsitzender eines Staatspräsidialsystems, der selbst ein religiöses Fachgymnasium besucht hat und dieses mit einem Fachabitur für Imame beendete, nutzte dafür auch einen fundamentalistisch religiösen Islam, um der Türkei ein neues nationales Selbstbewusstsein einzuflößen. Eine Weile ging das gut. Aber der Kurs und die immer rigideren Einschränkungen demokratischer Werte entfremdeten die Türkei, die durch Atatürk auf einen radikal säkularen Kurs gebracht worden war, der EU. Die Wirtschaft stagniert, und heute erlebt die Türkei eine massive Teuerungswelle, die vielen Türken den ökonomischen Boden unter den Füßen entzieht. Das ruft Kritik auf den Plan, auch in der Türkei.
Aber was machen Autokraten, denen die Felle davonschwimmen? Die ihre Versprechen auf Wohlstand und nationalen Stolz nicht einlösen können? Sie verengen massiv das Recht auf freie Meinungsäußerung, machen sich die Gerichte gefügig und stopfen die Gefängnisse voll mit Kritikern ihres Kurses. All das prägt die heutige Türkei Erdogans. Und viele deutsche Touristen, die gern Ferien in der schönen Türkei verbachten, fühlen sich dort nicht mehr wohl.
Interessant ist die Lage der Autokraten in den ehemals kommunistischen Großreichen Russland und China. Die ehemalige Sowjetunion hat einen enormen Machtverfall hinnehmen müssen nach dem Zerfall der Union sozialistischer Teilrepubliken. Das Reich dehnte sich ehemals bis in die Mitte Deutschlands aus, heute steht die NATO an den Grenzen Russlands. Es ist nachvollziehbar, dass Putin hier auch eine Grenze ziehen will, die ein weiteres Vorrücken des Westens zumindest begrenzt. Nach dem Verfall des Kommunismus greift Putin nun wieder nach der Religion, die der Marxismus hatte auslöschen wollen. Heute ist der Kreml wieder das politische und religiöse Zentrum der Macht: Nicht nur die altehrwürdige Maria-Verkündigungs-Kathedrale steht dort mit ihren goldenen Kuppeln. Auch die neu renovierte Erzengel-Michael-Kathedrale ist ein religiöser Prunkbau, der die neue Machtkonstellation von Politik und Orthodoxie in festlichen weißen Mauern und goldenen Kuppeln repräsentiert.
Die neue Weltmacht China dagegen ist strikt säkular-marxistisch ausgerichtet. Die ersatzreligiöse Grundlage dieses Riesenreiches ist der neue Nationalismus eines Xi Jingping, dessen Seidenstraßenprojekt auf den alten Herrschaftsanspruch Chinas ebenso zurückgreift wie auf die Tradition des neuzeitlichen Kolonialismus. China transformiert ihn in einen modernen Scheckbuchkolonialismus mit dem weltweiten Aufkauf von Rohstoffquellen, Umschlaghäfen und auch dem Bau von Militärbasen. Die Idee eines chinesischen Soziologen wie Zhao Tingyang, der mit der altchinesischen Idee eines "Alles unter dem Himmel“ eine neue Harmonie der globalisierten Welt herstellen will, wird von der chinesischen Politik selbst konterkariert. [4] China strebt nichts anderes an als die Hegemonie Chinas. Der Autokrat dort sitzt so lange fest im Sattel, wie er selbst diese Expansionspolitik erfolgreich vorantreibt.
Die Autokratie in unseren Zeiten hat Konjunktur, weil die Globalisierung die Karten zwischen den Weltmächten neu aufmischt. Einerseits versprechen Autokraten, Abschirmung und Sicherheit in diesen Zeiten, andererseits auch verfolgen sie eine neue Weltmachtspolitik der Selbstbehauptung und des Größenwachstums in der globalisierten Welt. Das verbindet sich zumeist auch mit einer parareligiösen Aura der höheren Berufung des Autokraten und seines Landes. Europa sollte nicht naiv sein und auf den großen Weltfrieden in der globalen Welt hoffen. Auch der Islam hat nach wie vor einen Welteroberungsanspruch, und der IS hat sich in Ländern Nordafrikas durchaus behauptet und verschanzt. Eine Selbstbehauptung eines freien Europas in diesen Zeiten setzt auch ein Maß an Wehrhaftigkeit voraus. Das wussten übrigens die alten Griechen, die erstmalig ihre Freiheit gegen die persische Satrapie verteidigen mussten und diese auch bei Marathon und Salamis erfolgreich verteidigt haben.
Prof. Dr. Silvio Vietta
[1] Juan Linz differenziert zwischen autoritären und totalitären Regimen (Totalitäre und autoritäre Regime. Zweite Auflage. Berlin 2003). Uwe Backes unterscheidet vier Grundtypen der Autokratie und ihre Legitimationsstrategien. In: Steffen Kailitz und Patrick Köllner (HJg.): Autokratie im Vergleich. Wiesbaden 2012, S. 157ff.
[2] Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe in 15 Bänden. Hg. von Georgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980, Bd. 12, S. 105.
[3] Silvio Vietta: Macht. Eine kleine Kultur- und Universalgeschichte der Menschheit von den Anfängen bis heute. Würzburg 2021, S. 57ff. Vietta unterscheidet zwischen der militärischen und zumeist gewaltsamen MACHT1 und einer MACHT2, die uns die Kultur eröffnet, Sprache vermittelt und auch durch Verträge eine friedliche Einhegung von MACHT1 ermöglicht.
[4] Zhao Tingyang: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Fünfte Auflage. Frankfurt 2020.