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Die Rückkehr der Clans

Forum - Die Rückkehr der Clans
Wir und sie: Bei einer Demonstration gegen die Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie fordert die Initiative Querdenken 711 in Berlin, das Kabinett Merkel, Christian Drosten und Bill Gates ins Gefängnis zu stecken. © Lutz Jaekel/Laif

In der Coronapandemie bilden sich gesellschaftliche Lager heraus, die auf Konfrontation statt Verständigung setzen. Beobachtungen eines Medizinsoziologen

Holger Pfaff01.01.2021

Die Coronapandemie hat die gesamte Welt erfasst. Einige Länder haben die Pandemie bisher gut bewältigt, andere weniger gut. Die Daten der Johns-Hopkins-Universität und der OECD zeigen, dass Deutschland bei vielen epidemiologischen und ökonomischen Indikatoren im Mittelfeld der Vergleichsstaaten liegt und damit bisher glimpflich davon gekommen ist. Auch wenn diese Ländervergleiche mit methodischen Problemen behaftet sind, fragen sich doch viele Beobachter: Was ist für dieses Abschneiden verantwortlich? Die Liste der möglichen Erklärungen ist lang. Sie lässt sich aber auf einen einfachen Nenner bringen: gute Prävention plus sehr gute Krankenversorgung.

Auf der Seite der Prävention reicht die Liste der gehandelten möglichen Erklärungen von konsequentem politischen Handeln über kollektive (Selbst-)Disziplin bis hin zu den hohen Testkapazitäten und einem guten öffentlichen Gesundheitsdienst, um nur einige zu nennen. Zudem entstanden basierend auf den Pandemiekennzahlen lokale Orte des kollektiven Lernens.

Der Konsens geht verloren

Viele Beobachter sehen nicht in der guten Prävention den Hauptgrund für das relativ befriedigende Abschneiden Deutschlands, sondern in der sehr guten Krankenversorgung. Es gibt in Deutschland auf die Bevölkerung gerechnet mehr Ärzte, mehr Krankenhausbetten und mehr Intensivbetten als in vielen anderen OECD-Ländern. Die Ärzte in Deutschland sind sehr gut ausgebildet. Zudem: Fast die gesamte deutsche Bevölkerung ist krankenversichert, dadurch konnte jeder behandlungswillige Covid-19-Patient, ob arm oder reich, eine Behandlung bekommen.

Manche Beobachter werden nun trotzdem einwenden, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Der Konsensgesellschaft Deutschland scheint ihr bestes Pfund, der kollektive Zusammenhalt, abhanden zu kommen. So wächst der Anteil der Menschen, die nicht mehr voll hinter der Coronapolitik der Bundesregierung stehen (Allensbach-Studie; FAZ vom 17. November 2020). Und erst Mitte November musste die Bundeskanzlerin erfahren, dass die Ministerpräsidenten nicht jede Politik von oben mitmachen. Bröckelt in der Krise die Konsensgesellschaft?

Was wir in Deutschland zurzeit erleben, kann als der Beginn sowohl einer Vertrauenskrise als auch einer Wissenschaftskrise interpretiert werden. Als Folge dieser Krisen bahnt sich die Rückkehr von zwei verloren geglaubten Dingen an: Die Rückkehr des Experten und die Rückkehr des Clans.

Wir stehen am Beginn einer Vertrauenskrise, die bei weiterer Verschärfung fatale Folgen für eine Gesellschaft haben kann. Denn: Vertrauen ist der Grundbaustein der Gesellschaft. Soziologen unterscheiden System-, Gruppen- und Individualvertrauen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat zum Beispiel ein Systemvertrauen in das Staatssystem. Die Gegner der staatlichen Pandemiebekämpfung haben dieses Systemvertrauen nicht mehr und bekunden offen, dass sie weder der Bundeskanzlerin, noch dem Staatssystem, noch den Medien vertrauen. Sie vertrauen nur der eigenen Gruppe.

In diesem Zusammenhang erleben wir die Rückkehr des Experten. Vor der Coronapandemie war der Status der Experten ein anderer: der Experte galt wenig und der wissenschaftliche Beleg (Evidenz) viel. Expertenwissen war gewissermaßen „out“. Durch die Coronapandemie aber ist der Experte – zum Beispiel in Form des Virologen – wieder „in“. In der Krise vertrauen die Politik und die Bevölkerung den Experten. Sie haben die Deutungshoheit übernommen. Experten sind Wissens- und Deutungsführer und steuern auf diese Weise das Verhalten der Menschen.

Die Gruppe schützt ihr Weltbild

Die Vertrauenskrise betrifft auch die Wissenschaft. Ihr glauben und vertrauen nicht mehr alle Menschen und Gruppen. Immer öfter ist der Fall beobachtbar, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis weniger danach beurteilt wird, ob sie an sich wahr oder falsch ist, sondern danach, ob sie in das eigene Weltbild oder das Weltbild der Gruppe passt. Erst wenn sich die Erkenntnis in das eigene Weltbild fügt, wird sie von der Gruppe akzeptiert. Dieser Umstand wird umso wichtiger, je mehr das Gruppenvertrauen zu- und das Vertrauen in das Wissenschaftssystem abnimmt. Es entsteht ein Phänomen, das man als Gruppendenken bezeichnet. Jede Gruppe schafft sich mit der Zeit ihre eigene Welt, ihre eigenen Werte und ihr eigenes Weltbild. Gruppen mit unumstößlichem Gruppendenken lassen in der Regel nicht zu, dass Informationen in die Gruppe gelangen, die das eigene Weltbild in Frage stellen. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich bei der Information um eine wissenschaftliche Erkenntnis auf höchstem Niveau handelt oder nicht. Gelangen dennoch störende Informationen in die Gruppe, werden diese oder ihre Übermittler diskreditiert. Auf diese Weise schützt die Gruppe ihr Weltbild und entwickelt sich langsam zu einer geschlossenen Gemeinschaft, dem Clan.

Clanführer debattieren nicht

Alte Gesellschaften waren durch Clans gekennzeichnet. Moderne Gesellschaften glaubten, diese alte Form der Koordination von Menschen hinter sich gelassen zu haben. Doch die geschlossenen Gemeinschaften sind in Form von echten oder virtuellen Clans zurück. Man findet sie in der Coronapandemie auf beiden Seiten.

Zum einen bei den Gegnern der Regierungspolitik (Querdenker-Clan), zum anderen aber auch bei den Merkel-Anhängern (Clan der Merkelianer). Das Besondere an den Clans ist, dass sie neben dem Experten als „Wissens- und Deutungsführer“ den „Clanführer“ benötigen. Es gibt heute viele Staatslenker, die in diese Rolle geschlüpft sind. Deren Botschaft an den eigenen Clan lautet: Ich beschütze euch, dazu ist es notwendig, mir zu folgen. Clanführer debattieren nicht, zumindest nicht in Zeiten, in denen schnelles Handeln erforderlich ist. Genau dies erwartet die Clan-Gemeinschaft auch vom Clanführer. Das Problem ist nur: Die moderne Debattenkultur der Demokratie verträgt sich nicht mit dem Clan-Gedanken. Im Clan gibt es Gruppendenken, kein unabhängiges Einzeldenken. Das Individuum geht im Clan auf. Zusammenhalt steht im Clan über der Eigen- und Selbstverantwortung. Dafür herrschen im Clan gemeinsame Werte, gegenseitiges Vertrauen und zwischenmenschliche „Wärme“ vor. Dies ist der Kitt der geschlossenen Gemeinschaft. In der Coronapandemie bedeutet die Rückkehr des Clans, dass das „abschottende Gruppendenken“ zurück ist und das liberale Denken verdrängt. Anzeichen dafür findet man in Deutschland auf beiden Seiten: Auf der Seite derjenigen, die bedingungslos hinter der Bundesregierung stehen, genauso wie im Lager der Gegner der Regierungspolitik.

Die Reihen werden geschlossen

Bezeichnend ist, dass beide Gruppen die jeweils andere der Lüge bezichtigen. Man vertraut sich nicht mehr. Es gilt: Wer nicht für unsere Weltbild ist oder Erkenntnisse liefert, die diesem widersprechen, gehört zum feindlichen Lager. Die Reihen werden geschlossen. Durch dieses schleichende Gift der Lagerbildung könnte eine der großen sozialen Errungenschaften der deutschen Gesellschaft verlorengehen: die Schaffung von Konsens durch Zuhören, Diskussion und gegenseitiges Verständnis.

Was zu tun ist? Der Tendenz zur Abschottung sollte durch Zuhören und Dialog begegnet werden. Konsens muss erarbeitet werden. Dazu gehört auch das Akzeptieren von wissenschaftlichen Erkenntnissen, auch wenn diese der jeweils anderen Gruppe als Argument dienen könnten. Die wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht dem Gruppendenken geopfert werden.

Holger Pfaff

Prof. Dr. Holger Pfaff ist Universitätsprofessor für das Fach „Qualitätsentwicklung und Evaluation in der Rehabilitation“, Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) und leitet das Zentrum für Versorgungsforschung Köln (ZVFK) an der Universität zu Köln.

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