https://rotary.de/gesellschaft/die-schuld-des-weissen-mannes-a-20641.html
Forum

Die Schuld des weißen Mannes

Forum - Die Schuld des weißen Mannes
© privat

Ein neuer, invertierter Rassismus bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Teile der jungen Elite fallen lautstark über das westliche Wertesystem her und haben das Gefühl, büßen zu müssen. Der Westen gelangt so in eine gefährliche Schieflage zwischen Hybris und Selbsthass.

27.08.2022

Der Ravensburger Verlag nahm vor wenigen Tagen das Jugendbuch "Der junge Häuptling Winnetou" aus dem Sortiment, das anlässlich des Kinostarts eines gleichnamigen Films publiziert wurde. Als Grund wurden Vorwürfe genannt, die von sogenannten Betroffenenvereinigungen im Internet erhoben wurden. Aus ihren Reihen wurde reklamiert, dass die Darstellung der indigenen Bevölkerung der USA nicht der Realität entspräche. Die Darstellung verletze deshalb die Gefühle der Betroffenen. Zudem handele es sich um "kulturelle Aneignung", da nicht die Indigenen, sondern Weiße das Buch verfasst hätten. Nun könnte man entgegnen, dass kulturelle Aneignung eine wichtige Kulturtechnik sei, da in der Menschheitsgeschichte nicht jeder Stamm das Rad beständig neu erfunden, sondern stets auf die brauchbaren Erfindungen der Nachbarstämme zurückgegriffen habe. Man könnte auch darauf verweisen, dass die Faszination für fremde Kulturen ein Zeichen der Wertschätzung sei und im Kulturbetrieb als normal gilt. Wenn japanische Musikerinnen Vivaldi in einer deutschen Konzerthalle spielen und dabei westliche Mode tragen, hält niemand dies für anstößig. Und letztendlich hätte man den Aktivisten entgegenhalten müssen, dass ein Roman keine wissenschaftliche Abhandlung darstellt. Nichts von alledem taten die Mitarbeiter des Verlags. Sie bekundeten vielmehr umgehend tiefe Reue, entschuldigten sich wortreich und gelobten fürderhin Besserung.

Man könnte dieses Einknicken und den vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer sich selbst legitimierenden Aktivistengruppe als unterhaltsame Posse abtun, wenn sie singulär wäre. Das ist allerdings nicht der Fall. Die Ereignisse häufen sich. In Museen wurden Bilder abgehängt, weil Lobbygruppenvertreter sie als sexistisch ansahen, die "English Touring Opera" entließ weiße Musiker, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe nicht den geforderten Vielfaltskriterien entsprachen, und die Leitung der Humboldt-Universität sagte kürzlich den Vortrag einer Doktorandin ab, weil er das Thema der biologischen Zweigeschlechtlichkeit behandeln sollte. Aktivisten, die biologische Feststellungen dieser Art als "transphob" ablehnten, hatten zuvor ein Redeverbot gefordert.

Bei den Aktivisten, die die westliche Welt nach ihren kruden Vorstellungen umzugestalten gedenken, handelt sich um akademisch geschulte, politisch versierte und bestens vernetzte Personen, die sich selbst als unterprivilegierte Opfer inszenieren oder vorgeben, im Namen einer selbst ernannten Opfergruppe zu sprechen. Islamisten gehören dazu, die Kritik an der eigenen extremistischen Gesinnung als "Islamophobie" oder "antimuslimischen Rassismus" brandmarken, sowie Personen, die sich als transsexuell oder "nichtbinär" bezeichnen und Geschlecht nur noch als Ergebnis eines Sprechaktes verstanden wissen wollen. Konkret reklamieren sie, dass Menschen offiziell als das Geschlecht anerkannt werden sollen, das sie sein möchten. Ein biologischer Mann könnte dann in einem sportlichen Wettkampf umstandslos als Frau antreten und würde seine Chancen auf einen Sieg verbessern. Wer dagegen Einsprüche erhebt, muss mit Mobbing, körperlichen Angriffen und einer Vielzahl von Repressionen rechnen. Möglicherweise werden solche Absurditäten demnächst sogar Gesetz. Die regierende Ampel-Koalition plant nicht nur die Möglichkeit, jährlich das Geschlecht zu wechseln, sondern sieht auch die Verhängung eines Bußgeldes für die Verwendung eines "falschen" Pronomens vor.

Die Speerspitze des identitätspolitischen Aktivismus bilden sogenannte "People of Color", die allen Ernstes behaupten, Rassismus sei intrinsisch an eine helle Hautfarbe gebunden. Einige von ihnen fordern, keine Bücher von weißen Schriftstellern zu publizieren und Weiße grundsätzlich von Führungspositionen auszuschließen. Ein neuer Rassismus formiert sich, und er richtet sich – historisch ein absolutes Novum – gegen die eigene Bevölkerung. Weiß sein wird in der weißen Welt zum Stigma. Da die Anerkennung eines Opferstatus in der Regel mit finanziellen Zuwendungen belohnt wird und ein lukratives Geschäftsmodell darstellt, lässt sich gegenwärtig eine Multiplizierung von selbst ernannten Opfergruppen beobachten.

Die Konsequenzen sind alles andere als trivial. Die Idee der Gleichheit aller Bürger weicht einem identitätspolitischen Furor, der Menschen nach äußerlichen Merkmalen, sexuellen Gewohnheiten und, sofern es Muslime betrifft, auch nach Religionszugehörigkeit gliedert. Mit verordneten Sprachregelungen möchte man die Bevölkerung zur Anerkennung der neu geschaffenen Realitäten nötigen. Verboten werden soll alles, was Lobbygruppenvertreter als verletzend empfinden könnten, und so werden Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt. Ein großer Teil der Bewohner westlicher Länder lässt sich von der Aggressivität, mit der die neue Welt errichtet wird, einschüchtern und zieht sich in eigene Parallelstrukturen zurück. Einige schließen sich extremen Organisationen an. In etlichen Ländern, zu denen die USA, Frankreich und Italien gehören, werden Wahlen deshalb zur gesellschaftlichen Zerreißprobe. Die Spaltung der Gesellschaften ist eine traurige Folge dieser Entwicklung, doch die Erosion der Grundlagen von Demokratie und Freiheit wird vermutlich noch folgenreicher sein.

Dass es so weit kommen konnte, dass sich gebildete Menschen freiwillig irrationalen und menschenverachtenden Ideologien unterwerfen und dabei in Kauf nehmen, die eigene Gesellschaft zu zerstören, ist erklärungsbedürftig. Von Aktivisten und ihren Unterstützern wird verbreitet, jede Art sozialen und politischen Elends gehe auf den europäischen Kolonialismus zurück. Der Westen stünde in einer ungebrochenen Tradition zum Rassismus des 18. und 19. Jahrhunderts, beute die Welt aus, sei verantwortlich für die Kriege, die Zerstörung der Umwelt, die Klimakatastrophe und für die internationalen Fluchtbewegungen. Mit Fakten wird dieses simplifizierende Narrativ gewöhnlich nicht untermauert, doch sie zeigt bis hinein in konservative Kreise Wirkung. Gerade Menschen, die sich dafür engagieren, dass die Welt ein besserer Ort wird, fühlen sich von den Anklagen getroffen und reagieren mit Schuldgefühlen. Darauf setzen die Aktivisten. Weiße sollen ihre Schuld bekennen, Abbitte leisten und Platz für diejenigen machen, die sich als Opfer generieren. Der afroamerikanische Linguist John McWhorter spricht zu Recht von einer neuen säkularen Religion, die viele Attribute des evangelikalen Christentums übernommen habe. Es sei vor allem der Schuldkult, der bis zur Bereitschaft der sozialen Selbstauslöschung gehe, der dafür verantwortlich sei, dass den immer maßloseren Forderungen selbsternannter Opfergruppen nachgegeben werde.

Die Kehrseite des Selbsthasses ist die Selbstüberschätzung. Wer an allem Schuld ist, ist mächtig, vielleicht sogar allmächtig. Diese Allmacht kann im Bösen wie im Guten wirken. Hybris und Selbsthass gehören untrennbar zusammen, und nicht selten sind es die gleichen Menschen, die einerseits der Zerschlagung unserer Kultur zustimmen, wenn sie dadurch von vermeintlicher Schuld befreit werden, und andererseits davon überzeugt sind, dass unser Gesellschaftssystem ein außenpolitischer Exportschlager sei. Freiheit und Demokratie, so verkünden Politiker im Westen, seien so unwiderstehlich, dass alle Staaten der Welt diesem Modell auf lange Sicht folgen werden. Diese Illusion stand auch hinter dem Konzept "Wandel durch Verflechtung", das in Deutschland einen realistischen Blick auf Putin und seine Machenschaften verstellte. Irgendwann würde auch er verstehen, dass die Demokratie die beste aller Daseinsformen sei. Selbst die Überfälle Russlands auf seine Nachbarstaaten hinderten deutsche Politiker nicht daran, diese Hoffnung aufrechtzuhalten und die Abhängigkeit der Wirtschaft in besonders vulnerablen Sektoren voranzutreiben. Ein Lerneffekt ist nicht sichtbar. Trotz deprimierender Zustimmungswerte der russischen Bevölkerung für Putin und seinen Krieg, schwadroniert so mancher Entscheidungsträger von der künftigen Demokratie einer Nach-Putin-Ära.

Ähnliches gilt auch für Auslandsmissionen, wie diejenige in Afghanistan, die im August 2021 durch den erneuten Einmarsch der Taliban in Kabul beendet wurde. 20 Jahre lang hatten westliche Staaten und Nichtregierungsorganisationen mit großem personellen, finanziellen und militärischen Einsatz versucht, eine demokratische Gesellschaft nach westlichem Vorbild zu erschaffen. Es war umsonst. Den Taliban wurde weder von der afghanischen Armee noch von der Zivilgesellschaft Widerstand entgegengesetzt. Zu groß war stets die Ablehnung des Westens, zu stark waren der fundamentalistische Islam und die Traditionen der Stämme, die das Gesetz verkörpern. Verstanden wird dies im Westen bis zum heutigen Tag nicht.

Auch bezüglich der momentanen Stärke des Westens herrscht ein weitgehend realitätsfernes Bild. Die Realität sollte allerdings ernüchtern. China fordert die USA heraus, Russland bleibt ein mächtiger geopolitischer Akteur und der globale Süden entscheidet utilitaristisch. Die Sanktionen gegen Putin wurden in Asien, Afrika und Lateinamerika nahezu unisono abgelehnt. Selbst der Präsident des Nato-Mitglieds Türkei sieht keinen Grund, seine Energiepartnerschaft mit Russland zu beenden. Die Welt hat sich verändert und westlicher Überlegenheitsdünkel ist fehl am Platze.

Der Westen ist die freieste, wohlhabendste und sozialste Region der Welt. Nirgendwo werden die Freiheitsrechte des Individuums stärker geschützt, profitiert die Bevölkerung mehr von steuerbasierten sozialen Einrichtungen, einem hoch entwickelten Gesundheitssystem und kostenloser Bildung. Es gibt keine Garantie, dass dies so bleibt. Hybris und Selbsthass sind schlechte Ratgeber für die Gestaltung der Zukunft. Beide behindern eine realistische Überprüfung eigener Stärken und Schwächen, die notwendig wäre, um aus Fehlern zu lernen. Eines sollte dabei stets gewiss sein: Wer die Freiheit im Innern nicht achtet, hat nach außen nichts zu verteidigen.


Buchtipp:


Susanne Schröter
Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Herder Verlag 2022, 240 Seiten, 20 Euro

Das Buch erscheint am 29. August.

 

 

© Herder Verlag