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Debatte über mehr Nachhaltigkeit

Die Wiederentdeckung der Gemeingüter

Silke Helfrich16.04.2012

Der Titel verstört. Wieso sollen wir wiederentdecken, wovon wir täglich leben? Warum rückt der Begriff der Gemeingüter gerade jetzt in die öffentliche Wahrnehmung? Wie verlernten wir, Gemeingütern (engl.: Commons) die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdienen? Obwohl sie so alt sind wie die Menschheit und so modern wie das Internet.

Die Krisen der Gegenwart zwingen zur Besinnung. Die ökonomische Krise offenbart die Grenzen des Marktfundamentalismus. Jeder spürt, dass immer mehr Konkurrenz und Wachstum nicht die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse mit sich bringt. Jeder begreift, dass fortwährendes Wachstum nicht automatisch zu immer mehr, sondern eher zu immer kleineren Brötchen zu immer höheren Preisen führt. Die Krise staatlicher Handlungsfähigkeit wiederum wirbelt zwar den Staub auf, den der Policy-Mix der letzten Jahrzehnte angesetzt hat, aber sie kann ihn nicht beseitigen. Und insbesondere die dramatische Übernutzung der Natur (die ökologische Krise) alarmiert. Man denke an den Missbrauch globaler Ressourcen wie der Atmosphäre oder der Fischbestände.  

Besinnung auf die Grundlagen unseres Lebens

Die Besinnung darauf, wie gemeinschaftlicher Umgang mit Ressourcen (commoning) die Grundlagen unseres Lebens und unserer Kreativität erhalten oder weiterentwickeln kann, hat mit diesen Krisen zu tun. Und sie hat damit zu tun, dass Anfang des Jahrtausends eine wichtige Analogie in den Blick der Forschung rückte. Der Jurist James Boyle prägte 2003 den Begriff der Second Enclosure Movement. Wir erleben eine zweite „Einhegungsbewegung“, befand er und verglich die schleichende Ausweitung des Patentrechts und anderer „Geistiger Eigentumsrechte“ auf Zellen, Ideen, Daten oder Materie („nichts bleibt ausgenommen“) mit der Auflösung der Allmenderechte im 18. und 19. Jahrhundert (engl: enclosure of the commons). Dieser aus der Sozialgeschichte bekannte Prozess bezeichnet die Einzäunung einst gemeinschaftlich genutzten Landes. Die Einhegungswelle, die Boyle benennt, bezeichnet die Einzäunung dessen, was vorher gemeinfrei war.

Dabei gibt es viele gute Gründe davon auszugehen, dass so Manches keinem Menschen allein gehören kann. Etwa weil es Gabe der Natur ist (wie die Biodiversität oder das Grundwasser), weil es kollektiv und nicht individuell produziert wurde (wie Sprache oder Algorithmen) oder schlicht, weil der Schöpfer entschied, es der Allgemeinheit zu schenken; so wie der Immunologe Jonas Salk Ende der 1950er Jahre der Weltgesundheitsorganisation den ersten Polioimpfstoff zur treuhänderischen Nutzung für alle überantwortete.

Dass die Einhegung dieser Dinge – also deren privater oder staatliche Kontrolle – notwendig sei, hat sich in den Köpfen festgesetzt. Die Idee folgt einem bequemen Entweder-Oder-Schema. Markt oder Staat. Öffentlich oder privat. Profitabel oder nutzlos. Zu den genannten Krisen gesellt sich die Krise des Denkens.

Tatsächlich sind die Ressourcen dieser Erde heute weitgehend privatisiert. Dennoch werden sie (nicht nur global) übernutzt. Planwirtschaftliche Ansätze scheiterten nicht minder. Und in keiner parteipolitischen Programmatik wird derzeit Ökologisches und Soziales zusammen gedacht, obwohl es in den meisten Konflikten – gleich ob um Wasser oder Land, Saatgut oder Software – eben nicht um das Eine oder das Andere geht, sondern um beides zugleich. Wie also können Ressourcen weder über- noch unternutzt werden? Und wie werden Menschen weder von der Nutzung derselben noch von den Entscheidungsfindungsprozessen ausgeschlossen?

Die weltweit bekannteste Commons-Forscherin, die US-Amerikanerin Elinor Ostrom, sagt: indem ihr Potential genutzt wird, Regeln selbst zu bestimmen, sie zu verändern und diese Regeln auch durchzusetzen. Ostrom erhielt 2009 als erste Frau der Welt den Wirtschaftsnobelpreis. Commons – also der weitgehend selbstorganisierte, verantwortungsvolle Umgang mit gemeinsamen Ressourcen – können nicht nur in der Praxis funktionieren, weiß die resolute Vollblutwissenschaftlerin. Sie tun es auch. Das ist ihr Resumée nach der vergleichenden Analyse Hunderter Feldstudien aus aller Welt. Und wo eine Praxis ist, da gibt es auch eine Theorie, zeigt sie sich überzeugt. In interdisziplinären Teams ist sie den Rahmenbedingungen für gelingendes kollektives Handeln auf der Spur. Sie fragt nicht nur danach, was gemeinsames Ressourcenmanagement erfolgreich macht, sondern auch danach, wie es zu fördern ist. Schließlich kommt es nicht nur darauf an, ob Menschen kooperieren wollen, sondern darauf, ihnen zu helfen dies zu tun.

Nachhaltigkeit erwiesen

Die konkreten Erscheinungsformen von Commons erinnern an die Vielfalt der Biodiversität. Aus den Bausteinen der Commons (zu teilende Ressourcen, Nutzer, Regeln und Normen) ergeben sich unzählige Kombinationsmöglichkeiten. Freie Software ist anders als ein Bewässerungssystem. Doch in beiden geht es darum, Nutzungsrechte so zu definieren, dass die Ressource weder übernutzt (Wasser) noch unternutzt wird (Code). Im Kern geht es also um die Grundüberzeugungen und Strukturprinzipien, die eine Sache zum Gemeingut machen. Eine dieser Grundüberzeugungen in der aktuellen Commons-Debatte ist, dass der Mensch genauso wenig getrennt von der Natur gedacht werden kann wie die Einzelnen getrennt voneinander. Wir leben eingebettet in Sozialbeziehungen und von ihnen. So wie die Idee der Beherrschung der Natur einer nachhaltigen Praxis im Weg steht (also tendenziell zur Übernutzung von Wasser, Land und Atmosphäre beiträgt), ist die Beherrschung Anderer mit dem zutiefst demokratischen Grundgedanken der Gemeingüter unvereinbar. In der Natur wie in den Commons ist nichts Monopol.

Die gemeinschaftlich verantwortete Nutzung von Wäldern oder Gewässern, die gemeinsame Pflege von Saatgutvielfalt und Land, hat sich vielfach als nachhaltig erwiesen. Doch einen Kausalzusammenhang („Gemeingut führt zu Nachhaltigkeit“) gibt es nicht, wenngleich dies die Vision vieler Commoners beschreibt. Das liegt auch daran, dass die moderne Commons-Debatte sich nicht nur auf natürliche Ressourcen bezieht, sondern kulturelle und digitale Räume ebenso als Commons versteht. Diese sollen von möglichst vielen getragen, von möglichst niemandem kontrolliert werden und möglichst allen zugänglich bleiben. Anders als Land oder Wasser steigen Wissen, Ideen und Code in ihrem Gebrauchswert, je mehr Menschen daran partizipieren. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die Internet-Enzy-klopädie Wikipedia, ein Paradebeispiel der Wissens-allmende. Durchdringen nun aber moderne Informations- und Kommunikationstechnologien unseren Alltag, egal ob als Gemeingut organisiert oder nicht, dann steigt in der Regel der Verbrauch von Schwermetallen und Strom. Die Mehrung der Wissensallmende trägt nicht automatisch zur Nachhaltigkeit bei. Hier liegt eine Verbindung der Diskussion über Commons mit jener über Lebensstile und ressourcenschonende Konsummuster. Es müsste überflüssig werden, das jeweils topaktuelle iPad zu erwerben, um hip zu bleiben. Von exklusiven Netzgeräten für jedes Endgerät ganz zu schweigen. Patentrezepte für mehr Commons und andere Lebensstile gibt es nicht, doch lassen sich die hier skizzierten Probleme nicht nur durch technologische Innovationen lösen. Soziale Innovation ist gefragt.

Die Natur konnte sich in so viele Arten verästeln, weil alle Organismen die Grundbausteine der DNA frei nutzen können, um daraus eine schier aberwitzige Formenvielfalt zu generieren. Alles basiert auf demselben genetischen Code. Von der schillernden Pfauenfeder bis zum grauen Elefantenrüssel, von winzigen Mikroben bis zu tonnenschweren Urwaldriesen. Aus diesem Raum maximaler Freiheit schöpft sich auch die Innovationskraft der Allmende. Sie beruht auf freier Kombinierbarkeit, Raum für Selbstorganisation, Dezentralität und Angepasstheit an lokale Bedingungen. Gemeingüter werden wiederentdeckt und mit ihnen kreative Kooperation. Das Beste daran ist nun, dass viele Menschen längst schon engagierte Commoners sind. Nur manchmal wissen sie noch nichts davon.