Titelthema
Die Zukunft der Innenstädte
Muss man mit den riesigen Einkaufskomplexen eigentlich Mitleid haben? Schade war es doch eigentlich eher um das, was sie zerstört haben – die kleinteilige Versorgung im Kiez. Es geht um etwas ganz anderes: um die
Stadt als lebendigen Lebensraum für alle.
Um es gleich vorweg zu sagen: Corona ist nicht ihr Untergang. Die Epidemie wird am Ende wohl nur eine von den vielen Zacken in der Fieberkurve der Innenstädte gewesen sein, nicht einmal die entscheidende. Wie auf vielen anderen Gebieten – Schule, Heimarbeit, Logistik des Just in time, Abhängigkeit von asiatischen Produzenten – wirkt die Epidemie als Verstärker vorhandener Probleme, wie auch noch aufsteigender Trends. Was da beschleunigt wird, was abgetan und was an für überholt Gehaltenem vielleicht auch wieder aus der Versenkung geholt wird, das jedenfalls ist noch gar nicht ausgemacht.
Was gute Innenstädte auszeichnet
Denn, erstens, was versteht man unter Innenstadt? Etwa die zentrale Einkaufsmeile? Das mag das Rückgrat heutiger Innenstädte sein, ist aber für das Ziel aller problembewussten Stadtentwicklung – lebendige Innenstadt – offensichtlich nicht ausreichend. Das sieht man überall dort, wo die Einkaufsstraße das Kommando übernommen hat: sodass internationale Ketten mit zugehöriger Unterwegsgastronomie den Raum beherrschen und Kaufhäuser gerade noch möglich sind. Nach Ladenschluss herrscht dort das, was man so schön „tote Hose“ nennt. Es gibt nichts, was sonst noch Menschen interessieren könnte.
Ideal formuliert ist eine Innenstadt die Verknüpfung sehr unterschiedlicher Interessen und Funktionen auf engem Raum: ein Kommunikationsvorteil, auszuspielen gegenüber dem flachen Land wie erst recht gegenüber Vorstädten, Großsiedlungen, Eigenheim- und Gewerbeperipherien. Innenstadt bedeutet Mischung, und eine Innenstadt ist so gut oder so schlecht aufgestellt, wie sie es hinbekommt, dass die Einkaufsfunktion – Kaufen und Verkaufen – nicht alles andere an die Ränder drängt – Wohnen, Handwerk und selbstständig produzierende Kultur, automatisierte hochspezialisierte industrielle Produktion und Nischenproduktion ohne große Umsätze, Stadtteilläden, spezialisierte Kinos und Kulturstätten, Jugendzentren, Vereinslokale, Stützpunkte für Senioren, kurz all das, was schwächer ist, weil es die steigenden Mieten der A-Lagen nicht bezahlen kann.
Zweitens: Von welchen Innenstädten redet man? Alle Großstädte haben kompakte monofunktionale Einkaufsbereiche ausgebildet, Mönckebergstraße, Hohe Straße, Zeil und viele mehr. Ihre lageschaffende Wucht zieht mitunter ganze Innenstädte in ihren Sog, bis dahin, dass Innenstadt mit Einkauf und Banken/ Versicherungen/Büro identifiziert werden kann, nicht einmal die Post Platz findet, sondern sich in die Einkaufszentren verkriecht. Die Monster mögen jetzt ein wenig leiden, doch als Massen- wie als Erlebnisangebot sind sie angesichts der Kauflust der Zeitgenossen so unverzichtbar, dass ihnen die Epidemie im Grunde nichts anhaben kann. Die Verheerungen finden in den Randbereichen der Großstädte statt, da, wo das lokale Leben bislang noch einigermaßen funktionierte.
Auf der anderen Seite gibt es aber die Einkaufsstraßen der kleinen Städte in der Provinz, wo sich, und keineswegs nur in Ostdeutschland, Vodafone, Läden von Arbeitsvermittlern und Jobcenter, Sprachunterricht für Migranten und ein Bäcker den Leerstand teilen. Eingekauft wird außerhalb, in den Supermärkten mit ihren Parkplätzen. In diesen abgefallenen Innenstadtlagen ist auch nicht recht zu sehen, was eine Epidemie wie Covid-19 noch anrichten könnte.
Eine weitere funktionale Krise
Tatsächlich ist das Leiden der Innenstadt so alt wie die Moderne. Ladengeschäfte abseits von Markt und Hauptstraße sind eine Errungenschaft erst des 19. Jahrhunderts. Damit wird auf das Wachstum der Städte dank Industrialisierung reagiert, mithin auch auf das Auseinanderdriften der Bevölkerung – die Abwanderung des Bürgertums in die Villenviertel, der Arbeiter und Angestellten in die verdichteten mehrgeschossig bebauten Vorstädte. Ab 1900 begann man sich in den Großstädten ernsthaft Sorgen zu machen, was aus den Innenstädten wird, nahm die Verdrängung des Wohnens und damit der alten Einwohnerschaft zugunsten der Tertiarisierung beschleunigt Fahrt auf. Die Zerstörungen des Bombenkrieges verschärften das Problem: Bevor die Innenstädte wieder aufgebaut werden konnten, kamen die verbliebenen Bewohner in neuen Randsiedlungen unter, so dass es in den Innenstädten kaum noch Hindernisse für die Etablierung jener Konzentration von Massenkaufkraft und Angebot gab, die wir heute beobachten. Es folgten durchaus Krisen, aber die Konkurrenz der Peripherie konnte erst mit Fußgängerzonen, dann mit der Einbindung des peripheren Einkaufszentrums in die Innenstädte aufgefangen werden. Heute haben wir es weniger mit der Epidemie als mit einer weiteren funktionalen Krise zu tun.
Die Rolle des Internets
Denn was angesichts der Epidemie scheinbar so neu scheint, dass die Leute zu Hause bleiben und sich beliefern lassen, ist jetzt nur der nächste Akt im Drama der Innenstädte als Einkaufszonen. So wie die vorhergehende Krise des Innenstadthandels, vor allem in den kleineren und kleinsten Städten, eine Funktion der Automobilisierung war, mithin der Lästigkeit oder des unpraktischen fußläufigen Einkaufs, ist die Epidemie, wenn Verstärker, dann in Funktion des Internethandels. Die Wirkung des Internets ist überall ambivalent, auch hier: Einerseits ernähren Bringdienste riesige Kapitalkonzentrationen, andererseits führt das Netz auch kleine Produzenten und private Abnehmer zueinander.
Muss man mit den übermächtigen Einkaufskomplexen eigentlich Mitleid haben? Schade war es doch eher um das, was sie zerstört haben, die kleinteilige vielgestaltige Versorgung im Kiez. So wie es schade war um den Lebensmittelladen, oder den Schuster in den kleinen Städten, den es nicht mehr gibt. Die Frage ist doch eher, ob die Innenstädte noch andere Ressourcen haben.
Stärkerer sozialer Zusammenhalt
Da wird man jetzt auf die Gastronomie verweisen: Innenstadt als Fressmeile und, leicht verschoben, als Freizeitparadies. Aber wenn ich mich zumindest in meinem Stadtviertel Berlin-Mitte umsehen darf: Seit der Lockdown aufgehoben ist, benutzen die Leute die Gastronomieszene in erster Linie, um wieder mit vielen anderen im öffentlichen Raum anwesend zu sein. Cafés, Restaurants und alle, die sich darüber finanzierten, haben während des Lockdowns zwar enorm gelitten, leiden vielfach auch jetzt noch, weil viele sich nicht heraustrauen. Aber es gab und gibt auch jede Menge Solidarität, um sich die liebgewordenen Plätze und Gewohnheiten zu erhalten. Das gilt auch für Buchhandlungen, kleine Kinos, Kleinkunstbühnen und mehr. Man hat gemerkt, wie sehr man sich wechselseitig braucht und was alles im Netz eben nicht zu haben ist.
Auf eine These gebracht: Dank der Bequemlichkeit der Menschen, die alles ergreift, was ihr körperliche Anstrengung erspart, wird durch das Netz – und so auch durch den Netzverstärker Corona, vielleicht das Einkaufszentrum geschwächt – der Shoppingmall-Betreiber ECE sieht sich schon nach neuen Spielfeldern um –, der soziale Zusammenhang wird umgekehrt aber doch wohl gestärkt. Insofern greift der Fokus Gastronomie viel zu kurz. Es geht um das älteste Thema der Innenstadt, nämlich um ihren Raum als Wohnzimmer ihrer Bewohner, der Arbeitenden, Erfolgreichen wie der Arbeitslosen und Abgehängten.
Dieter Hoffmann-Axthelm ist freiberuflicher Architekturkritiker und Stadtplaner. Der Berliner ist Autor zahlreicher Bücher und Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande der Bundesrepublik Deutschland.