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„Dimension?–Delayed!“

Titelthema - „Dimension?–Delayed!“
Weißenhofsiedlung: Immer wieder versuchen Touristen, Blicke in die Bauhaus-Wohnungen zu erhaschen. © Dennis Orel und Benjamin Tafel (alle Fotos)

Schwaben gibt es überall, doch beliebt sind sie nirgends. Woher ziehen sie ihr unumstößliches Selbstvertrauen?

Denis Scheck01.11.2021

Friedrich Schiller tat es. Friedrich Hölderlin tat es. Und Georg Wilhelm Friedrich Hegel tat es sowieso. Sie alle sprachen Schwäbisch. Auch wenn sich heute durch unseren uniformierenden Medienkonsum der „Terror der Monoglossie“ (George Steiner) immer mehr durchsetzt, in unserer Gegenwartsliteratur der Dialekt immer stärker auf dem Rückzug ist und an seine Stelle ein fades Plastikdeutsch tritt, das angeblich von Kiel bis Konstanz gesprochen wird, muss man nur in einen ICE steigen und einmal erleben, wie ab Mannheim das Schwäbische auf einen einprasselt, um zu wissen: Ums Schwäbische muss man sich keine Sorgen machen. Es blüht und gedeiht.

Es war der geniale Mundartdichter Helmut Pfisterer, der bereits in den 80er Jahren auf die Idee verfiel, alle Sprachen dieser Welt auf ihre schwäbischen Wurzeln zurückzuführen. „Didi dono! Dianome donum! Odi do dedi, odi legi dono.“ Was wie astreines Latein klingt, heißt aus dem Schwäbischen ins Hochdeutsche übersetzt: „Diese da dorthin! Doch noch etwas weiter nach dort! Oh, diese da würde ich … oh, die lege ich da hin.“ Auch das Englische ist bei Helmut Pfisterer nur eine Variante der Ursprache Schwäbisch: „When I defend!“ – „Wenn ich dich ausfindig mache!“, „Hush sell cloud?“ – „Haben Sie diesen Gegenstand entwendet?“, „Sell voice I owe!“ – „Das weiß ich auch, ist ja ’n alter Hut!“ Und besonders profund: „Dimension? – Delayed!“ („Nicht die Menschen machen uns das Leben schwer. Die Leute sind es!“)

Das schöne Spiel lässt ich selbstverständlich auch mit Französisch treiben: „Y cœur dire!“ – „Ich bin dein!“, „Mon nomme? Dans nomme!“ – „Wohin? Dahin!“, „Vacance onze dos? Va rage non c’eau?“ – „Was kann uns schon passieren? Weshalb rast du dann so?“ Oder auf Italienisch: „Va bene one di?“ – „Wer bin ich ohne dich?“, „Audiamo bella sentire“ – „Auch diese, welche bellen, sind Tiere“, „Venedig bene do. Venezia.“ – „Wenn nötig, bin ich da. Wenn nicht, sind Sie an der Reihe!“

Wie verröchelnde Enten

Auch wenn wir uns an unserem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss aufrichten, der einmal sagte: „Es gibt kein dichterfreies Oberamt in Schwaben.“ Wir sind viele. Wir sind überall. Und: Wir sind unbeliebt.

Dass unser melodiöser Dialekt in den Ohren anderer Deutscher wenig Wohlklang verströmt, sondern sich eher nach rostigen Gießkannen, verröchelnden Enten oder einem fehlgestimmten Flügel horn anhört: Wir wissen es längst! Wer je in einem Café Schwaben eine Trink schokolade bestellen hörte – „’n Kack!-kau, bidde!“ –, kann sich mit diesem skatophilen Konsonantengewitter im Gehörgang kaum mehr darüber wundern, warum Schwäbisch in sämtlichen Umfragen nach der Beliebtheit deutscher Mundarten so abgeschlagen rangiert wie der VfB Stuttgart zurzeit in der Bundesliga.

Aber ist es nicht ein Menetekel, dass vor Jahren schon „Schwaben raus!“-Graffitis an den Mauern von Berlin-Mitte auftauchten? Dass man am Prenzlauer Berg Flugblätter verteilte, in denen Schwaben als „spießig, überwachungswütig in der Nachbar schaft und ohne Sinn für Berliner Kultur“ beschimpft wurden? Dass Aufkleber an Berliner Verkehrschildern drohend fragten: „Schwaben – was wollt ihr eigentlich hier???“

Nicht nur in Berlin, in ganz Deutschland war die Akzeptanz von Schwä bisch und Schwaben nie geringer als heute. Machen wir also das, was wir Schwaben seit den Tagen der Romantik und jener seelenzerfieselnden, masochistischen Spielart des Protestantismus namens Pietismus besonders gut können: Gehen wir in uns. Horchen wir in uns hinein, zermartern wir uns das Hirn, erfor schen wir unsere Gemütslage.

Der Pietcong schlägt zurück

Nicht nur die vulgäre Hauptstadt, so ergibt eine erste Bilanz, auch der Rest der Republik hält uns Schwaben für reich, aber unsexy. Schlimmer noch: so richtig mögen uns eigentlich nur wir selbst. Das ist nun wiederum ausgerechnet sehr deutsch an uns Schwaben. Der Pietismus hat in Schwaben eine Hardcore-Variante hervorgebracht, die den schönen Spottnamen „Pietcong“ trägt. Der Pietcong ist deshalb faszinierend, weil er eine Art psychisches Perpetuum mobile entwickelt hat. Je mieser Pietcongler behandelt werden, desto besser sind sie drauf. Wer Pietconglern eine echte Freude machen möchte, ermöglicht ihnen, auf die Frage „Wie geht’s?“ die Antwort zu geben: „I han leide dürfe!“

Schwabe sein heißt aus der Defensive leben. Und das ist nicht erst seit heute so. Woher nimmt man die Kraft, die psychischen Ressourcen dafür? Na gut, wir haben das Auto erfunden, aber erstens ist das auch schon gute 100 Jahre her, und zweitens mehren sich die Anzeichen, dass das eine Quatschidee war. Wo liegen also die wahren Trostreserven der Schwaben?

Schwaben sind stolz auf ihre Literatur und auf ihre Küche. Im Grunde ist das so seit den Tagen des 1837 geborenen Stuttgarter Kunsthistorikers Eduard Paulus, der in den 90er Jahren des 19. Jahr hunderts dichtete: „Der Schelling und der Hegel, / der Schiller und der Hauff, / das ist bei uns die Regel, / das fällt hier gar nicht auf.“ Paulus meinte diesen Vers zwar selbstironisch, aber Ironie wurde damals genauso wenig verstanden wie heute. Statt mit Schelling und Schiller kursieren diese Verszeilen seit über 100 Jahren in vielen Varianten mit Friedrich Hölderlin, Gustav Schwab, Ludwig Uhland, Eduard Mörike oder wer einem sonst gerade noch aus dem schwäbischen Dichterpantheon in den Sinn kommen will; Hauff und Hegel tauchten in den Versen hinge gen immer auf, aber das liegt weniger an ihrer Popularität als am Reimzwang.

Wo Thaddäus Troll sterben wollte

Der Satz von Bundespräsident Theodor Heuss „Es gibt kein dichterfreies Oberamt in Schwaben“ mag stimmen. Schwaben ist insofern eine ganz besondere Region Deutschlands, als hier zwar jede Menge bedeutender Menschen geboren wurden, aber kaum einer gestorben ist. Anders der heute unterschätzte Thaddäus Troll, wahrlich kein harmloser Heimatdichter, sondern ein rasiermesserscharfer Analytiker des schwäbischen Wesens und des städtebaulichen Grauens der Nachkriegszeit in Schwaben (man lese etwa seine Tiraden über die Verschandelung der Ortsdurchfahrt von Winnenden). Troll entdeckte lakonischen Humor im Charakter der Schwaben – nie besser dokumentiert als in seinem Witz der schwäbischen Ehefrau, die ihren Mann zur Rede stellt: „Du, se saget, s’ Pfunderers Aschtrid dät a Kend kriage.“ – „Dees isch ihr Sach!“ – „Se saget aber, dees Kend sei von dir.“ – „Dees isch mei Sach!“ – „Wenn dees wohr isch, gang e en de Necker.“ – „Dees isch dei Sach!“ Thaddäus Troll entschied sich im Alter von 66 Jahren ganz bewusst für Stuttgart als Sterbeort und ließ in der Manier eines schwäbischen Seneca an seinem Grab einen selbst geschriebenen Nachruf verlesen sowie einen Umtrunk mit Trollinger aus Bad Cannstatt veranstalten.

Heute sitzt der „Entaklemmer“, Thaddäus Trolls berühmteste Figur aus seiner von Molieres Geizigem inspirierten Theaterstück, in Bronze auf einem Bänklein auf einem kleinen nach ihm benannten Platz in Trolls Geburtsort Bad Cannstatt. Unmittelbar dahinter liegt in einem 1463 erbauten Fachwerkhaus das „Klösterle“, eine der urigsten Weinkneipen Stuttgarts. Im Sommer, wenn man unter den Linden im Hof sitzen und exquisite Weine von lokalen Winzern wie Wöhrwag, Aldinger Dautel, Schnaitmann oder Zaiß trinken kann und dazu bodenständige und preiswerte Spezialitäten wie Saure Nierle, wunderbar zarte Kutteln, den obligatorischen Zwiebelrostbraten mit den selbstverständlich handgeschabten Spätzle oder einfach Wurstsalat essen kann, befindet man sich mitten in einer jener schwäbischen Idyllen, deren systematische Zerstörung Troll betrauerte.

Steinfests satirische Schlachtfeste

Welche heutigen Autorennamen fielen einem ein, neben Hauff und Hegel in Paulus’ Gedicht zu stehen? Der große deutsche Erzähler Hanns-Joseph Ortheil lebt zwar in Stuttgart, als schwäbischen Autor wird man ihn dennoch nicht bezeichnen wollen. Auch Heinz und Hannelore Schlaffer, eines der intellektuellen Glamour-Paare der Republik, taugen nicht recht als Repräsentanten Schwabens. Anders die – noch? – in Berlin lebende, 1954 in Stuttgart geborene und aufgewachsene Sibylle Lewitscharoff. Sicher die sprachmächtigste schwäbische Autorin der Gegenwart, hat Lewitscharoff ihrer Heimatstadt in mehreren Romanen wie Consummatus und Montgomery Referenz erwiesen. In Apostoloff lässt Lewitscharoff einen aus elf Mercedes-Benz-Stretchlimos gebildeten Leichenzug eine Fahrt aus der „Hauptstadt der religiösen Spinner“ Stuttgart gen Sofia antreten und ihre Erzählerin über die Wechselwirkungen zwischen irdischen und himmlischen Mächten nachsinnen: „Ich glaube, ohne die heimlich geleistete Hilfe eines Engels wird kein Fisch gar und kein Schnitzel gut.“ Die eine Generation jüngere Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Debütroman Kürzere Tage vom Konkurrenzkampf moderner Mütter, dem Elend hinter Wohlstandsfassaden und vom heimlichen Preis fürs Leben auf der Stuttgarter Sonnenseite.

Doch keiner liest den Schwaben heute so schön die Leviten wie Heinrich Steinfest. Der an der Übertreibungskunst seines österreichischen Landsmanns Thomas Bernhard geschulte Steinfest, den die Liebe vor vielen Jahren nach Stuttgart geführt hat, schreibt angeblich Krimis. In Wahrheit sind Steinfests Romane satirische Schlachtfeste. Lässt er in Gewitter über Pluto noch eine Figur konstatieren: „Jede Nudelsuppe hat mehr Esprit als dieses Völkchen der Schwaben“, geht er mit seinem Roman Wo die Löwen weinen gleich in die Vollen: Es ist ein Roman über Stuttgart 21, in Steinfests Worten „den Versuch, eine Stadt zu ermorden“. Aus Wo die Löwen weinen lässt sich erfahren, wie aus behäbigen „Vierteleschlotzern“ protestierende Wutbürger wurden, wie die CDUBastionen in Baden-Württemberg geschliffen und Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpräsidenten der Bundesrepublik wurde.

Solcherart geschult im Widerstand gegen die Gewalt von oben, gestählt in den Auseinandersetzungen der Straße, ist für die neue S-Klasse, die schwäbischen Streetfighter, sicher auch bald wieder Platz in BerlinMitte. Hoffentlich bringen sie etwas zu essen mit. 

Denis Scheck
Denis Scheck 1964 in Stuttgart geboren, gilt als einer der profiliertesten Literaturkritiker Deutschlands. Breite Bekanntheit erlangte er als Moderator des Büchermagazins Druckfrisch, das seit 2003 in der ARD ausgestrahlt wird.