Der Sieg Donald Trumps bei der US-Präsidentenwahl war nicht zuletzt das Ergebnis einer wachsenden Wut gegen eine Form der Globalisierung, die an wenigen Orten enormen Wohlstand schuf – und andernorts ganze Regionen verkommen ließ
Vor etwas mehr als zwanzig Jahren erschien in dem amerikanischen Magazin Wired ein hellsichtiger Artikel. Unter der Überschrift „The Californian Ideology“ widmeten sich die britischen Medientheoretiker Richard Barbrook und Andy Cameron einem neuen Zeitalter, dessen Anbruch die meisten Zeitgenossen noch nicht einmal wahrgenommen hatten: die Globalisierung im Zeichen des Internets.
Die Mitte der neunziger Jahre war eine Zeit des Aufbruchs: Nur kurz zuvor war der Kommunismus mitsamt seinem dirigistischen Wirtschaftsmodell zusammengebrochen. Der Westen hatte sich materiell und kulturell als überlegen erwiesen. Mit dem Wegfall des „Eisernen Vorhangs“ konnten Waren, Dienstleistungen und vor allem die Menschen nunmehr frei um die Welt ziehen. Den entscheidenden Impuls für die Globalisierung gab die Digitale Revolution. Mit dem Start des frei nutzbaren Internets war erstmals in der Geschichte eine Plattform geschaffen, auf der die Menschen weltweit direkt miteinander kommunizieren konnten.
Das Epizentrum dieser Entwicklung war Kalifornien, genauer gesagt die San Francisco Bay Area. Im „Silicon Valley“ waren seit der Gründung des Stanford Industrial Parks 1951 wichtige Pionierunternehmen des Computerzeitalters wie Hewlett Packard, AMD, Apple, Intel, Adobe, Symantec, Oracle oder Cisco Systems entstanden. Mit dem Start des Internets folgten weitere Start-Up-Unternehmen, die schon bald zu Global Playern werden sollten: in den neunziger Jahren eBay, Amazon, Yahoo, Google, PayPal oder der Chip- und Graphikprozessorenhersteller Nvidia sowie zu Beginn des neuen Jahrhunderts Tesla, Facebook, YouTube, Twitter, AirBnB, WhatsApp, Uber u. v. a.
Auf wenigen Quadratmeilen entstand ein gewaltiger Cluster, aus dem nahezu alle maßgeblichen Entwicklungen der Digitalen Revolution kamen. In unmittelbarer Nachbarschaft saßen zudem bedeutende Universitäten wie Stanford und Berkeley – und vor allem die Traumfabrik Hollywood, deren Filme und Serien weltweit in den Kinos und auf allen Fernsehkanälen liefen.
Leitkultur der Globalisierung
Obwohl ein Teil der genannten Unternehmen gerade erst entstanden und mancher spätere Global Player noch nicht einmal gegründet war, erkannten Barbrook und Cameron, dass dort in Kalifornien gerade eine neue mächtige Weltanschauung entstand, die im Begriff war, nicht nur den Cyberspace zu dominieren, sondern die Globalisierung der Welt insgesamt. Sie sahen, wie in und um San Francisco herum eine kulturelle Boheme aus freien Autoren, Künstlern und Hackern auf die Avantgarde der Start-Up-Gründer und Investoren des Informationszeitalters traf.
Aus dem frei schwebenden Geist der Hippies und dem unternehmerischen Antrieb der Yuppies entstand eine neue Weltanschauung, die Barbrook und Cameron die „kalifornische Ideologie“ nannten: „Die radikalen Hippies waren Liberale im sozialen Sinne des Begriffs. Sie traten für universalistische, rationale und progressive Ideale wie Demokratie, Toleranz, Selbstverwirklichung und soziale Gerechtigkeit ein. (…) In Science-Fiction-Geschichten träumten sie von ‚Ökotopia‘, von einem künftigen Kalifornien, in dem Autos verschwunden, die Industrieproduktion ökologisch verträglich, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern gleichberechtigt sein würden und das Alltagsleben in gemeinschaftlichen Gruppen stattfindet.“
Dieser Geist passte wunderbar zu den Visionen einer neuen technischen Avantgarde, die jedem Mitglied der „virtuellen Klasse“ die Chance versprach, ein erfolgreicher High-Tech-Unternehmer zu werden. Die Informationstechnologien sollten die Macht des Individuums vergrößern und seine persönliche Freiheit stärken – und zugleich den Einfluss der traditionellen Staaten reduzieren. Bestehende gesellschaftliche Strukturen und Konventionen sollten „zugunsten von unbeschränkten Interaktionen zwischen autonomen Individuen und ihrer Software verschwinden“.
Der kalifornische Geist prägte fortan die Globalisierung. Die Gurus der neuen Zeit verkündeten eine freiere, coolere und billigere Welt: Der Gründer von Amazon, Jeff Bezos, versprach grenzenlose Einkaufsfreuden ohne räumliche und zeitliche Beschränkungen und ohne lästige Versandkosten. Die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin prägten das Motto „Don’t be evil“ („Sei nicht böse“) als Grundlage ihrer Unternehmenskultur. Und Mark Zuckerberg wollte auf Facebook gleich die ganze Welt zu Freunden machen. Kalifornien stand für eine freie Welt ohne Sorgen und Probleme, in der sich alle liebhaben.
Und die Welt? Sie liebte alles, was aus Kalifornien kam. Mit dem Ausbau des Internets stiegen die Nutzerzahlen und Seitenaufrufe von Google, YouTube, Facebook, WhatsApp, Amazon, Wikipedia & Co. Heute gehen sie in die Milliarden – jeden Monat. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit vermochte ein einziger Standort binnen so kurzer Zeit die gesamte Welt so umfassend zu prägen.
Die große Zerstörung
Je größer und mächtiger der Einfluss des Silicon Valley wurde, um so größer war der Hunger nach mehr – und um so geringer wurde die Bereitschaft, auf den Rest der Welt noch Rücksicht zu nehmen. Amazon verdrängte zunächst die Buchläden und schon bald alle möglichen Händler in der analogen und digitalen Welt. Google entwickelte sich von der geliebten Suchmaschine, die ihre Nutzer kostenlos durch die Weiten des World Wide Web führte, zu einem digitalen Leviathan, der – ohne Rücksicht auf die Urheber – immer neue Bereiche des Netzes erschloss und vermarktete. Und Facebook handelte ungeniert mit dem Wissen um seine Kunden. Die jüngsten Beispiele für diese Tendenz sind Uber und AirBnB, die weltweit Reisende mit privaten Fahrdiensten und Quartieren versorgen und dabei ganz bewusst die gewerblichen Taxis und Hotelbetreiber verdrängen wollen.
Zum Zauberwort für diese Entwicklung wurde disruption, was Unterbrechung und Spaltung bedeuten kann – oder Zerstörung. Verdrängungsprozesse sind ein natürlicher Bestandteil der Technikgeschichte: Das Auto verdrängte die Pferdekutsche, die Compact Disc die Vinylschallplatte, der Flachbildschirm die alten Röhrenkisten usw. Doch vollzog sich die Digitale Revolution in einem Tempo, wie es das nie zuvor gegeben hatte. Zudem zeigte sich, dass das Internet anders funktionierte als alle früheren Marktplätze. Egal, um welches Segment es sich handelte, die Nutzer verteilten sich nicht gleichmäßig um die Welt, sondern strömten immer zu den jeweiligen Marktführern. The winners took it all. Und diese saßen fast immer in Kalifornien.
In nahezu allen Produktionsbranchen entwickelte sich eine Arbeitsteilung, bei der die Arbeitsplätze aus den reichen Ländern Europas und Nordamerikas in die asiatischen Tigerstaaten abwanderten, und lediglich die Entwicklungsabteilungen zuhause blieben. Natürlich ist diese Arbeitsteilung kein kalifornisches Alleinstellungsmerkmal. Nahezu jeder Global Player versucht, auf diese Weise seine Kostenstruktur im Griff zu behalten und wettbewerbsfähig zu bleiben. Doch ohne die Entwicklungen des Silicon Valley wäre die Globalisierung nicht in dem Maße der letzten zwanzig Jahre möglich gewesen. Apple lieferte für diese Entwicklung gar die treffende Formel: „Designed by Apple in California. Assembled in China“, heißt es auf der Rückseite jedes iPhones, iPads und MacBooks.
Auch der jüngste Schritt der digitalen Disruption – die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz – ist ein Kind Kaliforniens. Erst vor wenigen Wochen schlossen sich Facebook, Microsoft, IBM, Google und Amazon zu einer „Partnership on Artificial Intelligence to Benefit People and Society“ zusammen. Was nach großem Nutzen für den Menschen klingen soll, hat das Potential, diesen langfristig überflüssig zu machen. Ersetzte einst das Industriezeitalter weite Bereiche der physischen Arbeitskraft des Menschen, so droht ihm nun, auf seinem ureigensten Feld bedeutungslos zu werden – dem des Wissens.
Der Glanz Kaliforniens, seine gigantische Wirtschaftskraft und seine globale kulturelle Dominanz haben verdeckt, dass andernorts ganze Regionen auf der Strecke blieben. Zum Inbegriff des Niedergangs infolge der Globalisierung wurde der sogenannte Rust Belt („Rostgürtel“), der einst als Manufacturing Belt die größte Industrieregion der USA gewesen war. Während in der Bay Area raumschiffartige Firmenzentralen mit futuristischem Design entstanden, verfielen von Boston bis Chicago die Fabrikhallen, die Wohnhäuser und die Infrastruktur. Und während die Bevölkerung in Kalifornien zwischen 2000 und 2010 von 34 Millionen auf rund 37,2 Millionen zunahm, ging sie in der gleichen Zeit in fast jedem Ort des Rust Belt um zehn bis 25 Prozent zurück.
Der Gegenschlag
Angesichts dieser Zahlen verwundert es kaum, dass die Globalisierung nicht überall als Erfolgsgeschichte angesehen wird. Erstaunlich ist höchstens, dass es erst die Wahl eines Donald Trump brauchte, um diese Gegensätze zur Kenntnis zu nehmen. Der künftige Präsident hatte sie sehr wohl erkannt und in seinem Wahlkampf auf die Wut der durch die Globalisierung Abgehängten gesetzt. Gezielt lenkte er die Stimmung in Richtung Kalifornien, indem er ankündigte, dafür zu sorgen, dass Apple wieder in Amerika produziert.
Dass ein Mann, der keinerlei politische Erfahrung besitzt, der nicht nur das Establishment seines Landes verprellte, sondern auch zahlreiche Wählergruppen beleidigte, am Ende zum Präsidenten gewählt wurde, lässt erahnen, wie groß die Wut in jenen Teilen der Bevölkerung ist, die nicht zu den Gewinnern der letzten 25 Jahre zählen. Mit ihrer Stimmabgabe rebellierten sie nicht zuletzt gegen eine Form der Globalisierung, die andernorts enormen Wohlstand schuf, während auf sie selbst niemand mehr Rücksicht nahm.
Übrigens: Nirgendwo wurde der Sieg Donald Trumps so entschieden als Kampfansage verstanden wie an der Westküste. Nur kurz nach dem Feststehen des Wahlergebnisses kursierten auf Twitter die ersten Aufrufe zur Gründung einer „Freien Republik Kalifornien“ …
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