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Ein Blick ins Innere der Ukraine

Titelthema - Ein Blick ins Innere der Ukraine
Wylkowe: Wassersegnung am Dreikönigstag nach der Messe der Altgläubigen-Gemeinde. Der Ort liegt auf der ukrainischen Seite des Donaudeltas. © Florian Bachmeier

Trotz aller regionalen Vielfalt und Differenzen hat sich in dem riesigen Land eine nationale Identität herausgebildet, zu der auch eine politische Abgrenzung zu Russland gehört.

Gwendolyn Sasse01.02.2022

Ein Hauptmerkmal des ukrainischen Staates ist seine regionale Vielfalt. Diese Vielfalt ist häufig missverstanden und auf eine ethnolinguistisch geprägte Ost-West-Spaltung des Landes reduziert worden. Die Ukraine ist jedoch weder ein zweigeteiltes Land noch eine Gesellschaft, die von ethno-linguistischen Kriterien bestimmt wird. Vielmehr spiegeln sich historisch bedingte kulturelle, ethnische, sprachliche und wirtschaftliche Unterschiede in lokalen und regionalen Identitäten und können politische Präferenzen beeinflussen. In der Ukraine sind regionale Charakteristika diffuser, durchlässiger und weniger konfliktbehaftet als von außen betrachtet angenommen.

Die heutige Ukraine wurde durch vier Imperien geprägt: durch das Habsburger-Reich im Westen, das Osmanische Reich im Süden, das russische Zarenreich vor allem im Südosten sowie durch die Sowjetunion, aus deren Zeit die territorialen Grenzen der heutigen Ukraine sowie strukturelle Hinterlassenschaften wie die Industriestandorte im Osten des Landes oder Öl- und Gaspipelines stammen. Kulturell sind die Regionen der Ukraine durch imperiale Grenzziehungen, aber auch durch grenzübergreifende Verflechtungen geprägt.

Die mehrheitlich ukrainischsprachige Westukraine war Anfang des 20. Jahrhunderts und in der Sowjetunion eng mit der Mobilisierung für Unabhängigkeit und der Dissidentenbewegung verbunden. Die politische Idee der unabhängigen ukrainischen Nation wurde im 19. Jahrhundert jedoch maßgeblich von transnational ausgerichteten Eliten aus der Ostukraine, zum Beispiel aus Charkiw, mitbestimmt. Für die Entfaltung dieser Idee bot dann der politische Kontext in der Westukraine das geeignetere Umfeld.

Wem gehört die Krim?

Mit dem Ende der Sowjetunion wurde die Ukraine in den Grenzen der Ukrainischen Sowjetrepublik zum ersten Mal in ihrer Geschichte dauerhaft unabhängig. Ihre westliche und südliche Grenze sind das Resultat der sowjetischen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg und des administrativen Transfers der Krim 1954. Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine nach dem Augustputsch 1991 und die Legitimation dieses Schritts durch ein Referendum am 1. Dezember 1991 besiegelten das Ende der Sowjetunion. In diesem Referendum sprachen sich über 90 Prozent der abstimmenden Bevölkerung für die staatliche Unabhängigkeit aus, darunter auch eine Mehrheit auf der Krim.

Die Integration der Krim wurde mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum ersten Mal zur größten territorialen Herausforderung der Ukraine. Eine prorussische Bewegung auf der Krim wirkte Anfang der 1990er auf die Unabhängigkeit beziehungsweise weitreichende Autonomierechte für die Region hin, wurde von Russland jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht aktiv unterstützt und diskreditierte sich angesichts interner Differenzen und mangelnder wirtschaftlicher Kompetenz rasch in den Augen der lokalen Bevölkerung.

Die ukrainische Verfassung von 1996 definierte die Ukraine als einen Unitarstaat mit 27 administrativen Einheiten, darunter 24 Gebiete (Oblaste), zwei Städte mit Sonderstatus (Kiew und Sewastopol) und die Autonome Republik der Krim. Die ambivalente Stellung der begrenzten Krim-Autonomie im ukrainischen Staatsgefüge resultierte aus den Verhandlungen zwischen Kiew und Simferopol, die den Konflikt über den Status (1992–1996) eindämmte. Seitdem war die Krim politisch fest in den Südosten der Ukraine integriert. Auch vor der Krim-Annexion 2014 gab es keine lokale Mobilisierung für einen Anschluss an Russland, wie vom offiziellen russischen Narrativ behauptet.

Über die offizielle administrative Einteilung hinaus variieren regionale Klassifizierungen je nach Kontext und Zweck. Ein weitverbreiteter Standard ist die Differenzierung zwischen vier „Makroregionen“: Westen, Mitte, Süden und Osten (etwa durch das Kiev International Institute of Sociology, KIIS). Innerhalb dieser Makroregionen können weitere sinnvolle Differenzierungen vorgenommen werden, so zum Beispiel zwischen ländlichen und urbanen beziehungsweise industriellen Orten im Süden oder Osten des Landes. Die Regionen im Zentrum beziehungsweise Norden sind in den letzten 30 Jahren in ihrer politischen Ausrichtung schwerer zu fassen gewesen, haben aber mehrmals eine wichtige Rolle in Wahlen gespielt.

Das Wahljahr 2019 brach mit alten Mustern

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Donezk: Prorussische Kundgebung, bei der mehrere Tausend Menschen gegen die Präsidentschaftswahlen von 2014 protestieren. © Florian Bachmeier

Innerhalb der Makroregionen entwickeln Grenzregionen ihre eigenen Dynamiken. So ist die Westgrenze der Ukraine eine der Außengrenzen der EU, an der sich aus der Perspektive der Bevölkerung die Frage nach Mobilität neu stellt. Im Süden hat die Krim-Annexion 2014 selbst die persönlichen Beziehungen zu anderen Regionen der Ukraine auf ein Minimum reduziert. Darüber hinaus grenzt die Ukraine an den De-facto-Staat Transnistrien. Im Osten ist die lange ukrainisch-russische Grenze, die zunächst sehr durchlässig war, zu einem sicherheitspolitischen Risiko für die Ukraine und Europa geworden. Im durch eine Kontaktlinie geteilten Donbass herrscht seit 2014 Krieg: Lokale Separatisten werden hier in den selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk von Russland militärisch und finanziell unterstützt.

Das Wahlverhalten der ukrainischen Bevölkerung zeigte mit Ausnahme der Präsidentschaftswahl 2019, aus der der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj als Sieger hervorging, seit der Unabhängigkeit deutliche regionale Muster. Insbesondere der Südosten der Ukraine wurde bis 2019 (und seitdem) von jeweils ein bis zwei Parteien dominiert, die die wirtschaftlichen Interessen einflussreicher regionaler Oligarchen und ihrer Konglomerate repräsentieren. Die Vertreter der wichtigsten Parteien im Südosten – unter Präsident Viktor Janukowytsch war dies die Partei der Regionen, jetzt ist es die Oppositionsplattform – thematisieren regelmäßig die Bedeutung der russischen Sprache auf regionaler oder nationaler Ebene und soziökonomische Sorgen der Bevölkerung. Bis zum Krieg im Donbass standen die dominanten Parteien im Südosten der Ukraine auch für enge Beziehungen zu Russland, insbesondere auf wirtschaftlicher Ebene. Das Parteienspektrum in anderen Regionen blieb über einen längeren Zeitraum vielfältiger. Im Westen und im Zentrum sind Bezüge auf die ukrainische Nation, Demokratie und eine Westorientierung prominenter gewesen, aber auch hier bestimmen einzelne Politiker die Parteien.

Das Wahljahr 2019 brach erstmalig mit den bekannten Mustern. Im Anbetracht einer auf „Armee, Sprache, Glauben“ zugeschnittenen Wahlrhetorik des damaligen Amtsinhabers Petro Poroschenko vor dem Hintergrund des andauernden Krieges konnte ein politischer Neuling mit einer inklusiven staatszentrierten Rhetorik landesweit (mit einer lokalen Ausnahme in Galizien) die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen. Seitdem haben sich Rhetorik und Politik von Präsident Selenskyj in vielem denen seines Vorgängers angenähert. Die Präsidentschaftswahl 2019 verdeutlichte, dass eine auf den Staat und die ukrainische Staatsbürgerschaft ausgerichtete Identität in der Vorstellung der Bevölkerung und der Eliten verankert ist. Diese Identität ist weiter gestärkt worden, wenngleich der Einfluss der dominanten Parteien im Südosten und Westen wieder erstarkt ist.

Die Einschätzung der regionalen Vielfalt hängt auch von der jeweiligen empirischen Grundlage ab. Zunehmend haben Meinungsumfragen in der Ukraine neben der Muttersprache als symbolischer Kategorie auch Fragen nach der sprachlichen Alltagspraxis sowie bilinguale Antwortkategorien ergänzt. So wird eine kontextabhängige Bandbreite von passiver bis aktiver Bilingualität sichtbar. Diese Dimension ist meist übersehen worden. Ebenso bieten Befragungen inzwischen häufig die Möglichkeit, auch eine gemischte ethnische Herkunft statt einer forcierten Entscheidung zwischen „ukrainischer“ und „russischer“ Abstammung anzugeben. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass ethnische Zugehörigkeit und linguistische Kriterien nicht deckungsgleich sind.

Zuspruch für Nato-Mitgliedschaft wächst

Der Krieg in der Ostukraine hat nicht zu einer messbaren Verengung der Identitäten in der Ukraine insgesamt geführt. Wiederholte Umfragen verschiedener Institute bestätigen, dass eine inklusive durch Staatsbürgerschaft definierte Identität überwiegt. Dieses gestärkte Gefühl, zu einem gemeinsamen und intern diversen Staat zu gehören, der sich von Russland politisch abgrenzt und sich in seiner Entwicklung gen Westen orientiert, existiert trotz weiterhin bestehender regionaler Unterschiede und Präferenzen. So ist zum Beispiel der Zuspruch für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine während des Krieges in der Ostukraine auch im Südosten des Landes deutlich gestiegen, doch halten sich hier laut jüngsten Umfrageergebnissen (KIIS, Dezember 2021) Zuspruch und Ablehnung mit etwa 40 Prozent die Waage, während der Zuspruch in der Westukraine bei etwa 70 Prozent liegt. Regionale politische Unterschiede stellen weder die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine noch die Möglichkeit einer konsensualen nationalen Politik infrage. Die Herausforderung für uns besteht darin, die regionale Diversität der Ukraine in ihrer Komplexität zu erkennen, ohne aus ihr voreilige Schlüsse zu ziehen.

Gwendolyn Sasse

Prof. Dr. Gwendolyn Sasse ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

zois-berlin.de