Titelthema
Ein Dialog trotz allem

Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen stritten leidenschaftlich – und nährten sich schließlich an. Heute erscheint eine Diskussion, wie sie zwischen den beiden großen Denkern stattgefunden hat, kaum noch vorstellbar.
Ein kleiner Mann steht neben seinen Kollegen am Fließband. Er zieht, je einen Schraubenschlüssel in der rechten und in der linken Hand, mit ein und derselben Drehbewegung immer jeweils zugleich zwei parallel angeordnete Muttern der unablässig an ihm vorüberziehenden Werkstücke fest. Bald kommt er kaum noch hinterher, und schließlich wird der Held aus Charlie Chaplins 1936 in den USA uraufgeführter Stummfilmkomödie Moderne Zeiten in das Getriebe der Maschine gleichsam hineingezogen, ohne dass sein von Zahnrädern und Walzen vorangeschobener Leib aufhören könnte, weiterzuschrauben.
Was die bei Alt und Jung auf der ganzen Welt beliebte Kunstfigur des Tramp mit obligatorischem Spazierstock und ausgelatschten Schuhen hier erlebt, ist ein Sinnbild für die Situation des arbeitenden Menschen in der technisierten, verwalteten und durch Monitore überwachten Welt, die der linke Theoretiker Theodor W. Adorno und sein rechter Widerpart Arnold Gehlen in der jungen Bundesrepublik mit scharfem zeitdiagnostischen und kulturpessimistisch verdüstertem Blick unter die Lupe nahmen. Ihr Befund war ähnlich, doch zogen beide entgegengesetzte Schlüsse daraus. Während Adorno in ihrem 1965 vom Südwestfunk aufgenommenen Radiogespräch zum Thema „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?“ von der Hoffnung auf eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse nicht lassen mochte, wollte sein Widerpart die in seinen Augen durch zu grundsätzliche Kritik in ihrer Substanz bedrohten Institutionen vor dieser schützen. Und zwar deshalb, weil sie in seinen Augen die Voraussetzung schufen, um den nicht durch Instinkte gesteuerten, umweltoffenen, hochgradig kreativen, aber für sich selbst und seine Artgenossen gerade deshalb auch potenziell gefährlichen Menschen von Entscheidungsdruck zu entlasten und in stabile Bahnen zu lenken.
Gespräche trotz aller Differenzen
Was heute an diesem Gespräch überrascht, ist weniger die deutlich hervortretende Differenz, als der Umstand, dass die beiden Männer überhaupt öffentlich miteinander diskutierten und das in einem ausgesprochen höflichen, teils auffallend freundlichen Ton, ohne dass ein Moderator zur Stelle gewesen wäre, der notfalls auf die Einhaltung von entsprechenden Regeln hätte pochen können. Schließlich war Gehlen ein überzeugter Parteigänger des Hitler-Regimes gewesen, der nach 1933 eine allerdings nie fertig gestellte „Philosophie des Nationalsozialismus“ hatte schreiben wollen, während Adorno als Jude und linker Wissenschaftler aus Deutschland fliehen musste. Noch 1958 riet er in einem Gutachten von der Berufung seines Kollegen auf einen Lehrstuhl in Heidelberg dringend ab. In Gehlens Theorie, so schrieb er damals, sei „das gesamte Instrumentarium des Faschismus“ beisammen. Nur wenige Jahre später traf er sich mit Gehlen zu einer Reihe von öffentlichen Radio- und Fernsehgesprächen, die von gegenseitigen Privatbesuchen der Ehepaare sowie einem über mehrere Jahre fortgesetzten Briefwechsel flankiert wurden. Der Wendepunkt kam, als Gehlen sich mit seinem von einigen seiner erbittertsten Gegner, darunter Helmut Plessner, geschätzten Buch ZeitBilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei als jemand zu erkennen gab, der vom Verächter zum Liebhaber und kenntnisreichen Deuter vieler Werke der zeitgenössischen Malerei geworden war.
Aus Abneigung wird Bewunderung
In dem 1960 veröffentlichten Werk suchte er nach einem Schlüssel, um das Geheimnis der Arbeiten der ihm zunächst nur schwer zugänglichen Künstler wie Picasso oder Paul Klee zu lüften. Adorno war begeistert. „Mein Eindruck davon ist außerordentlich“, schrieb er Gehlen am 2. Dezember: „Besonders berührt haben mich eine Reihe von Übereinstimmungen der unerwartetsten Art.“ Er begann den Kollegen, beide waren sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Soziologen tätig, in einem neuen Licht zu betrachten – als politischen Gegner, mit dem ihm gleichwohl ein Grundverständnis für die immer an die gesellschaftlichen Entwicklungen rückgebundenen Leistungen der modernen Künstler verband. Anders gesagt: Er zählte Gehlen nun zu den wenigen Intellektuellen, mit denen er glaubte, überhaupt auf Augenhöhe streiten zu können. „Sollte ich“, setzte er seinen Brief an Gehlen fort, „auf einem Fuße stehend, sagen, was an Ihrem Buch so besonders mich berührt, dann ist es das, dass Sie mit der Sache der neuen Kunst sich identifizieren, ohne in Apologetik zu geraten und das Moment von Negativität zu verleugnen, das zur Sache selbst notwendig dazu gehört. Darauf, genau darauf, kommt es aber an. Alles andere ist entweder Propaganda oder schlicht reaktionär.“ Nun wurde deutlich, dass die beiden Professoren – bei allen auch später immer betonten Unterschieden – doch auch einiges verband. Da war zum einen die Distanz zu einem bestimmten Typus rückwärtsgewandter konservativ-christlicher Kritik an der modernen Kunst, für die ein Bestseller jener Tage stand: Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr.
Adorno und Gehlen waren etwa gleichaltrig, kamen aus bürgerlichen Familien und teilten den gleichen Bildungshintergrund, der sie der nivellierenden Tendenzen der industrialisierten Konsum- und Massengesellschaft distanziert gegenüberstehen ließ. Sie hatten als junge Männer die politischen Wirren und die kulturelle Aufbruchszeit der 1920er Jahre erlebt, und beide betrachteten sie die Künste als ein Medium, in dem sich gesellschaftliche Tendenzen verdichteten und die sich insofern für soziologische Zeitdiagnosen besonders eigneten. In anderer Hinsicht blieben ihre Haltungen bis zu Adornos Tod im Jahr 1969 schroff einander entgegengesetzt. Wenn sich ein Thema durch Gehlens gesamte Biografie zog, dann war es die Sorge um die Stabilität der in seinen Augen durch die spezifische Beschaffenheit des Menschen immer gefährdeten Ordnung. Weshalb er auf die im Zuge der Studentenbewegung immer deutlicher werdenden Demokratisierungstendenzen mit wachsendem Unverständnis reagierte. Adorno wiederum beharrte auf der Notwendigkeit einer radikalen, reflexiven Gesellschaftskritik. Solange man den Menschen, sagte er Gehlen, im Streitgespräch „nicht die ganze Verantwortung und Selbstbestimmung zumutet“, sei „auch ihr Glück und Wohlbefinden in dieser Welt ein Schein“, der irgendwann platzen werde. Gehlen wiederum wertete Adornos beharrliche Aufforderung zur kritischen Reflexion als Überforderung – zumindest für Normalsterbliche. Nur wenige Jahre nach der totalen Niederlage Nazi-Deutschlands empfahl er seinen Mitbürgern, sich von den Institutionen in fragloser Unterordnung „verbrennen“ zu lassen. In der Wirklichkeit, so bekannte er gegenüber Adorno, suche er eigentlich nur eins: „eine honorige Sache, der man dienen kann“.
Verneigung zum Schluss
Heute erscheint eine Diskussion, wie sie zwischen Adorno und Gehlen stattgefunden hat, kaum noch vorstellbar. Zu ihren Voraussetzungen gehörte, dass in den Jahren vor 1968 in den Rundfunkanstalten und Printmedien, aber auch an den Hochschulen noch sehr viel mehr konservative, teils auch rechtskonservative Redakteure und viele ehemalige Nazis tätig waren. Linke und liberale Publizisten kamen insofern gar nicht darum herum, sich im beruflichen Alltag mit ihnen auseinanderzusetzen. Ob gewollt und ungewollt: Mit Rechten zu reden, das war für viele von ihnen keine Ausnahme, sondern die Regel. Wer dies tat, sah sich jedenfalls deutlich weniger Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, als dies heute der Fall wäre. Noch 1967 diskutierten – wie man auf einem YoutubeVideo noch heute sehen kann – der NPD-Vorsitzende Adolf von Thadden, Ralf Dahrendorf, der durch sein Engagement in der Verfolgung von NS-Verbrechen bekannte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Fernsehen unter anderem über die Frage, ob das Mehrheitswahlrecht eingeführt werden solle – um den Einzug der NPD in den Bundestag zu verhindern. Das war eine hochbrisante Frage. Fraglich ist, ob auf dem Feld der wissenschaftlichen Wahrheitssuche, wo doch am ehesten das bessere Argument zum Zuge kommt, eine „Brandmauer“ überhaupt sinnvoll ist. Aus linker Perspektive: Man denke nur daran, wie viel Sartre und Herbert Marcuse beispielsweise Heideggers Existenzphilosophie verdanken. Als Gehlen 1976 verstarb, schrieb der DDR-Intellektuelle Wolfgang Harich, Marxist und glühender Antifaschist, auf seine Beileidskarte: „Erschüttert verneige ich mich vor der Totenbahre Arnold Gehlens, des bewunderten Feindes und geliebten Menschen. Der Konservatismus hat seinen weltweit letzten bedeutenden Denker verloren, die deutsche Sprache einen ihrer glänzendsten Stilisten, das europäische Geistesleben der Gegenwart einen alten Querkopf von riesigem Format und verehrungswürdiger Lauterkeit.“

Thomas Wagner
Abenteuer der Moderne: Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969
Klett-Cotta 2025,
336 Seiten, 28 Euro

© Annette Hauschild/Ostkreuz