Forum
Ein Katholik kommt ohne Katechismus aus
Mario Perniola erklärt in seiner tiefgreifenden Studie über das „katholische Fühlen“, dass sich das Wesen des Katholizismus nicht in Lehre und Dogma ausdrückt, sondern vielmehr in einer bestimmten Art des Empfindens.
Maria, der Name war schon ausgesucht. Wenn es dann doch der erhoffte figlio maschio, ein Junge geworden ist, dann heißt er eben Mario. Wir sind in Italien, wo jeder Mensch erst einmal katholisch ist. Auch Peppone trug sein Söhnchen zu Don Camillo, um es taufen zu lassen. Wenn der Mensch dann ein Intellektueller oder gar Philosoph geworden ist wie Mario Perniola, erhebt er sich allerdings souverän über den kleinlichen Klerikalismus, der ihm vorschreiben will, was er zu denken und zu glauben hat.
Das als unfehlbar ausgegebene Lehrgebäude der kirchlichen Orthodoxie ist für ihn eine Zumutung. Sein intellektuell entgrenzter Katholizismus überspringt die Grenzen der ausformulierten Doktrin und erschließt einen Erfahrungsraum, der weiter reicht als der Verbalismus von Konzilsbeschlüssen oder päpstlichen Lehrscheiben. „Sentire cattolico“, so der italienische Originaltitel seines Buches, handelt eigentlich von mehr als „Vom katholischen Fühlen“, wie es in der deutschen Ausgabe heißt.
Zugriff auf die Transzendenz
Weil er den Wesenskern der Religion ins Gefühl verlegt, beschäftigt sich Perniola ausführlich mit den unterschiedlichen Ausprägungen religiöser Gefühle, insbesondere mit der reformatorischen Wende zur Innerlichkeit, die weitgehend den inzwischen gängigen Begriff von Religion bestimmt und das einzelne Individuum als die allein zuständige Instanz, als das unmittelbare Gegenüber Gottes ausgemacht hat. Der ungebremste Zugriff auf die Transzendenz gefällt ihm nicht.
Je nichtswürdiger und zerknirschter der Sünder ist, umso kraftvoller soll ihn dann der göttliche Gnadenstrahl treffen. Ist das Gefühl oder Kalkül? Wie schnell landet ein Individuum, das sich im Absoluten spiegelt, im Sektierertum und im charismatischen Fanatismus? Auch die quasi-religiösen Ideologien des 20. Jahrhunderts haben für Perniola hier ihre Wurzeln.
Auch sie waren angemaßte Wahrheitsbesitzer, die immer aufs Ganze gingen. Sie hielten den notwendigen Abstand zum Absoluten nicht ein. Um diese Differenz aber ist es dem „katholischen Fühlen“ nach Perniola zu tun. Sie vermisst er aber auch beim offiziellen ideologisch-politischen Apparat des kirchlichen Katholizismus. Der bietet sich ihm als ein Zerrbild des eigentlichen Sentire cattolico dar.
Die Doktrin hatte sich aufgebläht, weil er vom Individualismus der Reformation sich hatte herausfordern und von ihrem Subjektivismus hatte anstecken lassen – „mimetische Rivalität“: Beim Versuch, dem Rivalen den Wind aus den Segeln zu nehmen, zieht der Konkurrent seine eigene, hochkomplexe Takelage auf. Um dem Fehler etwas entgegenzusetzen, macht er ihn selber, nur anders.
Als Reaktion auf das von Aufklärung und Positivismus erzeugte allgemein feindliche Klima habe sich die Kirche seit dem Konzil von Trient in einen „erstickenden dogmatischen und ideologischen Panzer“ verschlossen. Jedoch abseits dieser Orthodoxie habe sich bei Schriftstellern, Theatermenschen, Filmleuten und Musikern jene andere Art von Fühlen ausbilden können, die Perniola im Sinn hat.
Nicht das auf Unmittelbarkeit und Absolutheit zielende Fühlen aus dem Inneren des Individuums, das – seltsam und paradox – für ihn regelmäßig im Prêt-àporter-Denken oder in der Ideologie endet, sondern erst ein vollständig immanentes, weltliches „Fühlen von außen“ entspricht dem Absoluten, zu dem Perniolas undogmatischer Katholizismus gleichsam aus Ehrfurcht Abstand hält.
Ansonsten hat Perniola zur Institution Kirche ein durchaus entspanntes Verhältnis. Was ihn stört, ist das enge Verhältnis zwischen der Kirche und ihrem doktrinalen Lehrgebäude, das er umstandslos eine Ideologie nennt. Sie ist für ihn eine übertriebene Reaktion auf die antiklerikale Aufklärung. Das für ihn maßgebliche katholische Fühlen bezieht sich auf den Ritus. Er ist für ihn das Medium der Differenz.
Die Bedeutung des Ritus
Was soll das sein, ein „rituelles Fühlen“? Ist nicht sonst immer das Gefühl aus dem Innersten der subjektiven und individuellen Innerlichkeit entsprungen? Perniola verweist auf eine aktuelle und breit gefächerte Forschung von Ethnologen (Mircea Eliade, Frits Staal), Philosophen (Ernst Cassirer, Susanne Langer) und Religionswissenschaftlern, die auf den Ritus aufmerksam gemacht haben. Bei aller Zustimmung hält er ihnen aber vor, dass der Ritus für sie nur „ein Tun und kein Denken ist“.
Er sieht den entscheidenden Vorzug der rituellen Erfahrung, dass sie den Funktionalismus des Alltags suspendiert und einen körperbezogenen Raum für Differenz eröffnet. Ihren besonderen Wert sieht Perniola darin, dass sie es sogar möglich macht, zur eignen Subjektivität auf Distanz zu gehen. Die beispielhaften Helden der Differenz, an denen er zeigt, was er unter einem „Fühlen von außen“ versteht, sind ganz unterschiedliche Figuren. Aus der frühen Neuzeit der Diplomat Franceso Guicciardini und Ignatius von Loyola, der Erfinder der „Exerzitien“, aus unserem Zeitalter Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, weil der das Ideal der Authentizität so eindrucksvoll entlarvt habe.
Perniolas Buch ist ein faszinierendes Werk, eines von denen, bei dem man sofort Lust bekommt, mit dem Verfasser einen Disput anzufangen. Doch Mario Perniola ist am 9. Januar 2018 in Rom gestorben. Mich hätte seine Beerdigung interessiert.
Mario Perniola erschließt in seinem Buch einen Erfahrungsraum, der weiter reicht als der Verbalismus von Konzilsbeschlüssen oder päpstlichen Lehrscheiben.
Mario Perniola, Vom katholischen Fühlen, 184 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin