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Geschichte des evangelischen Pfarrhauses

Ein Ort gelebter Reformation

Unter den Institutionen, die für die deutsche Kulturgeschichte prägend sind, hat das evangelische Pfarrhaus einen besonderen Rang. Was als revolutionäre Tat begann – der Auszug der Geistlichkeit aus dem Kloster und die Gründung einer eigenen Familie inmitten der Gemeinde – wurde zu einer Heimstatt der schönen Künste, der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und zu einem prägenden Elternhaus. Der allgemeine Wandel der Institutionen geht freilich auch nicht am Pfarrhaus vorbei. Unterdessen rückt das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 allmählich näher.

Bodo-Michael Baumunk16.12.2013

Die Pfarrfamilie – und nichts anderes meint Pfarrhaus im evangelischen Sinne – stand nicht im Mittelpunkt reformatorischer Theologie. Aber sie verkörperte deren Prinzipien und verlieh ihrem Verständnis von Kirche gleichsam das geistliche Alltagsgesicht. Das altkirchliche Verhältnis zur Ehe hatte dieselbe als Abbild des Bundes zwischen Christus und der Kirche geschätzt, zugleich aber die sündige Fleischeslust abgewertet und den Priester zum Zölibat verpflichtet. Für Luther indes existierte im Sinne seiner Rechtfertigungslehre – alleine durch den Glauben erlangt der Mensch die Gnade Gottes – weder ein besonderer geheiligter Priesterstand als Verwalter der Gnadenmittel, noch billigte er diesem zu, der menschlichen Sündhaftigkeit durch den Willensakt der Enthaltsamkeit zu begegnen. Der evangelische Pfarrer konnte nicht nur heiraten, er musste es sogar, um einer göttlichen Schöpfungsordnung zu genügen – alles andere, so malte es die reformatorische Lehre genüsslich aus, führe zu nichts anderem als den Gräueln der „Pfaffenhurerei“.

Die Exklusivität der heiligen Schrift („sola scriptura“) in der Lutherschen Lehre vereinte den evangelischen Pastor und seine Schafe in einem gemeinsamen Bildungsprogramm.

Das von Luther ausgerufene „Priestertum der Laien“ verlangte von eben diesen, die Bibel selbst lesen zu können. Der Pfarrer wiederum bedurfte – im Gegensatz zu der polemisch überspitzen Unbildung des niederen katholischen Klerus der damaligen Zeit – eines theologischen Studiums, um das Evangelium richtig zu verkündigen und zu deuten. Von dessen Geist beseelt galt es, an der Versittlichung und Verbesserung der weltlichen Verhältnisse in den evangelischen Territorien zu arbeiten, weshalb der Horizont dieses Bildungsbegriffes weit über die Theologie hinausreichte. Hier wurzelt die Doppelrolle des Pfarrers als Geistlicher und Gelehrter, aber auch der generell hohe Bildungsstandard im Pfarrhaus. Die Pfarrfamilie hatte sich also auf drei Feldern „exemplarisch“ zu bewähren: dem geheiligten Ehebund, der Gelehrsamkeit und schließlich dem eigenen Hausstand, der einen Mikrokosmos des Staates mit der Verpflichtung zu friedlichem Zusammenleben und besonnenem Wirtschaften darstellte.

Offene Statusfragen

An die Stelle des Priesters den geistlichen Bürger gesetzt zu haben, dessen Distinktionsmerkmal allein die Vorbildlichkeit ausmachte, hinterließ dem Protestantismus und seiner Geistlichkeit freilich die Erbschaft einer offenen Statusfrage. „Verbauern“ durfte die Pfarrfamilie auf keinen Fall, auch dort, wo sie noch bis ins 18. Jahrhundert hinein selbst Landwirtschaft betrieb. „Verbürgerlichen“ sollte sie aber auch nicht – in den Städten, wo „die Welt“ lauerte, der die Candidaten der Theologie in den Jahren als Hauslehrer von Adels- und Patrizierkindern schon gefährlich genug ausgesetzt waren. Die Antwort auf dieses Dilemma lag in der Abgrenzung gegen alle umgebenden sozialen Milieus. Das hieß für die „Bürger besonderer Art“ – wie sie der Historiker Oliver Janz genannt hat – allerdings auch, ihre herausgehobene Stellung selbst in Bagatellfragen immer wieder neu zu justieren: Durften Pfarrer rauchen? Ins Theater gehen? An der Jagd teilnehmen? Die hohe Selbstrekrutierungsrate der Pfarrerschaft, welche die oft berühmten Pfarrerdynastien hervorbrachte, war auch Ausdruck dieses Sonderbewusstseins, von sehr profanen Nützlichkeitserwägungen wie der Versorgung der Familienmitglieder einmal abgesehen.

Zu voller und literaturfähiger Blüte als selbstzufriedener Idylle und Hort von Geselligkeit, Musik, bürgerlicher Sittsamkeit und wissenschaftlicher Produktivität lief das evangelische Pfarrhaus in der Zeit der Aufklärung auf. Das Bild der Institution als solcher empfing hier prägende Züge. Johann Heinrich Voß‘ „Luise“ mag ein eher exzentrisches Beispiel sein mit seiner hexametrischen Beschreibung üppiger Freiluftmahlzeiten der Pfarrfamilie, einem zwischen die Zeilen eingestreuten Lobpreis religiöser Indifferenz und regelrechtem Horror vor der unangenehmen Erinnerung an das Bild des Gekreuzigten.

Die im frühen 19. Jahrhundert erstarkte Orthodoxie machte dann aus dem „Aufklärungspfarrer“ eine Karikatur, die von der Kanzel herab nur noch gute Ratschläge zu Obstzüchtung und Viehhaltung erteilt, gegen den heftigen Widerstand der Landbevölkerung die Einführung neuer „rationalistischer“ Gesangbücher erzwungen und den Glauben verwässert habe.

Beamter mit Gehalt

Das 19. Jahrhundert bedeutete für das Pfarrhaus einen Ausbau des beamtenähnlichen Status. Die überkommene Mischfinanzierung aus Barmitteln, Pfründen, Naturalabgaben und Stollgebühren, also Entgelten für die geistlichen „Dienstleistungen“ wie Eheschließung oder Beerdigung, wurden durch ein Gehalt ersetzt, die Altersversorgung gesichert und die Privilegien der ländlichen Kirchenpatrone etwa bei der Stellenbesetzung vermindert. Die Kehrseite dieser materiellen Sicherheit im monarchischen Obrigkeitsstaat lag spätestens seit der Gründung des Kaiserreiches in einem nicht selten geistig behäbigen, überwiegend konservativen Milieu, das an den großen kulturellen Strömungen der Moderne nur noch wenig Anteil nahm. Der Mythos vom Pfarrhaus als „Geniezuchtanstalt“ und intellektuellem Kleinkraftwerk basiert im Grunde vor allem auf der Zeitspanne etwa zwischen 1750 und 1850.

„Wo trifft man noch den Frieden in dieser Welt voll Streit“ reimte um 1880 der schwäbische Prälat Karl Gerok mit Blick auf das ländliche Pfarrhaus, während zugleich die ersten Rückblicke auf die Geschichte dieser Institution erschienen – und zwar aus einem Geist der Defensive heraus. Die anwachsende sozialistische Arbeiterbewegung lehnte die Kirchen als Säulen einer ungerechten Ordnung und Träger des Aberglaubens ab. Das Ende der geistlichen Schulaufsicht, die Einführung von Zivilehe und staatlichem Personenstandswesen beraubte das Pfarrhaus seiner staatlichen Hoheitsrechte. Mochte sich Bismarcks „Kulturkampf“ auch gegen die widerspenstigen Katholiken gerichtet haben, das evangelische Pfarrhaus gehörte jedenfalls nicht zu seinen Gewinnern.

Das Pfarrhaus politisierte sich, vor allem gegen die Sozialdemokratie. Langfristiger Erfolg war den diesbezüglichen Umtrieben des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker und seiner antisemitischen Partei nicht beschieden. Nur ein Pfarrer spielte eine größere politische Rolle im Kaiserreich, der liberale Sozialreformer Friedrich Naumann, und der verabschiedete sich zeitig ganz aus Pfarramt und -haus.

Festung gegen die Republik

Das Jahr von Kriegsende und Revolution 1918 schien dem Pfarrhaus als Denk- und Lebensform beinahe Dach und Fundament zugleich zu entziehen. Die Erfolgsgeschichte des protestantischen Deutschland hatte ein jähes Ende gefunden, das landesherrliche Kirchenregiment war mit dem Ende der Monarchien verschwunden. Das Pfarrhaus entwickelte sich mehrheitlich zu einer Festung gegen Republik und Demokratie.

Diese Mentalität bewies eine erstaunliche Beharrungsfähigkeit bis weit in die Zeit nach 1945. Der „Kirchenkampf“ im Nationalsozialismus ließ sich überhaupt nur aufnehmen, weil die Gegner staatlicher Eingriffe in Glaubensfragen sich von ihrer ganzen Grundhaltung her nicht als Staatsfeinde isolieren ließen.

An die Restbestände nationalprotestantischer Mentalität im Westen richtete die DDR ihre Wiedervereinigungsofferten in den 1950er Jahren. Ein eingefleischter Vorbehalt gegen jede Form von Sozialismus wiederum stärkte im Osten die Konfrontationsbereitschaft der Kirchen gegen das atheistische SED-Regime. Das Pfarrhaus in der DDR lebte gerade durch seine gesellschaftliche Randsituation in einer erstaunlich traditionellen Weise bis in die 1980er Jahre fort, was die äußeren Formen anging. Im Innern freilich nun belebt von einer Kultur des freien Wortes, das hier einen Schutzraum sowie Voraussetzungen zu unzensierter Publizistik und schließlich politischer Opposition vorfand. Niemals hat das Pfarrhaus so unmittelbar „Geschichte gemacht“ wie in der „Friedlichen Revolution“ von 1989/90.

 

Was ist vom Pfarrhaus in jenem überhöhten Sinn mehr geblieben als der Rang eines „Erinnerungsortes“ der (nicht nur) deutschen Kulturgeschichte? Seit der Pfarrberuf auch Frauen offenstand und ansonsten die Berufstätigkeit beider Eheleute zunahm, ließ sich die herkömmliche Rollenverteilung kaum aufrechterhalten. Die viel zitierte „Glashaus“-Metapher für die totale Öffentlichkeit der Pfarrfamilie dürfte angesichts großstadttypischer Kerngemeinden von ein paar Dutzend Köpfen längst an Plausibilität wie an Schrecken verloren haben. Umso überraschender ist die fast obsessive Erörterung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Pfarrhaus: Dass ein gesellschaftlicher Trend dort längst angekommen ist, sollte weder überraschen, noch beunruhigen, noch als Modernitätsausweis des Protestantismus überschätzt werden. Im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens steht die Kirche, nicht das Pfarrhaus. Das hat man gelegentlich übersehen.