Das evangelische Pfarrhaus von Luther bis heute
Ein Zentrum des Geisteslebens wird zur bedrohten Institution
Unter den Institutionen, die für die deutsche Kulturgeschichte prägend sind, hat das evangelische Pfarrhaus einen besonderen Rang. Was als revolutionäre Tat begann – der Auszug der Geistlichkeit aus dem Kloster und die Gründung einer eigenen Familie inmitten der Gemeinde – wurde zu einer Heimstatt der schönen Künste, der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und zu einem prägenden Elternhaus. Der allgemeine Wandel der Institutionen geht freilich auch nicht am Pfarrhaus vorbei. Unterdessen rückt das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 allmählich näher.
Mit dem Schwinden eines Phänomens wächst das Interesse an seiner Eigenart und an seiner Bedeutung. So verhält es sich auch mit dem Phänomen „evangelisches Pfarrhaus“. In einer Zeit globalisierter „Institutionen-Dämmerung“, dem Schwinden der Bindekräfte von Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und auch von Ehe und Familie, steht die kulturprägende Kraft des evangelischen Pfarrhauses und des Protestantismus insgesamt auf dem Spiel. Just in dieser Zeit erscheint von Christine Eichel eine umfangreiche Monographie über das deutsche Pfarrhaus (2012), und das Deutsche Historische Museum in Berlin widmet dem Thema gar eine große Sonderausstellung („Leben nach Luther“, noch bis März 2014 zu sehen). Auch wenn es das eine evangelische Pfarrhaus natürlich nicht gab und gibt, so wird in diesen Arbeiten doch ein einzigartiger Beitrag der protestantischen Geistlichkeit und ihrer Söhne und Töchter zur deutschen und europäischen Kulturgeschichte deutlich.
Anfechtungen
Die Infragestellung des Pfarrhauses als positiv gewertetes religiöses und kulturelles Biotop begann bereits vor längerer Zeit: in den turbulenten Jahren „nach Nietzsche“, also in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und in der NS-Zeit. Der prominente Pfarrerssohn hatte das Christentum im Ganzen als „verdruckst“, „freudlos“ und „nächstenliebesüchtig“ beschrieben. Mit wirklicher „Mannhaftigkeit“ habe dies nichts gemein, und auf „einen Willen zur Macht“ könne man bei den verweichlichten Christenmenschen überhaupt nicht hoffen.
So ist es kein Wunder, dass der Künder des „Anti-Christ“ und seine vulgär-philosophischen, nationalsozialistischen Adepten im evangelischen Pfarrhaus eine besondere „Brutstätte“ jenes als dekadent gebrandmarkten Christentums erkannten und sie zu einer Zielscheibe ihrer Propaganda machten. Im Fokus der Kritik standen die „Pfarrhäusler“, der Pfarrer und seine Kinder, auch wenn – von den gleichen Leuten – die seit Luther geschichtswirksam gewordene pfarrhäusliche Ablösung des Klosters mit seinen zölibatär lebenden Mönchen und Nonnen eine durchaus positive, weil antikatholisch brauchbare Würdigung fand.
Vor dem Hintergrund einer äußerst aggressiven antireligiös-nationalistischen und militaristischen Pathetik und Praxis zwischen 1933 und 1945 ist es keineswegs verwunderlich, wenn sich im Gegenzug der apologetische Impuls aus dem Pfarrhaus selbst besonders wortreich und laut reckte und streckte. „Was für Männer gab das evangelische Pfarrhaus dem deutschen Volke?“ lautete der Titel eines Sammelbandes aus dem Jahre 1938, der 1940 seine 9. Auflage erreicht hatte, in dem eine durchaus imposante „Ahnengalerie“ aufgestellt wurde.
Einen wesentlichen und durchaus wirkmächtigen Bestandteil jener Pfarrhaus-Apologie bildete, ganz auf der Linie des Nationalisierungsprogramms des Deutschen Kaiserreichs im späten 19. Jahrhundert, die Aufzählung der „großen Männer“ – jener Pfarrer und Pfarrerskinder, deren Beitrag für die Kulturgeschichte tatsächlich unübersehbar war oder zumindest gewesen sein sollte. Gelegentlich wurden auch die Pfarrerstöchter erwähnt. Dann allerdings zumeist in ihrer „klassischen Rolle“ als Pfarr-Gehilfin, Mutter oder Managerin des Pfarr-Haushalts. Wie „Herr Käthe“ eben, des Reformators treues Eheweib, die vormalige Zisterzienser-Nonne Katharina von Bora.
In die Auflistung namhafter Pfarrerskinder wurden aber auch Persönlichkeiten eingestreut, die nicht unmittelbar einen Pfarrer zum Vater hatten, wie zum Beispiel Johann Gottfried Herder, der Sohn eines Kantors war, oder Hermann Hesse, Sohn eines Missionars und Buchhändlers. Zumeist genügte es den Verfassern derartiger Pfarrhaus-Helden-Listen schon, wenn der Vater Theologe oder der Großvater Pfarrer gewesen ist. In eine solche Reihe gehörte dann, natürlich, auch Johann Wolfgang von Goethe, bei dem unter den Berufsständen der Ahnen die Zahl der Pfarrer mit elf Vorfahren an dritter Stelle stünde.
Ganz im Duktus der damals modernsten und in ganzer Breite akzeptierten neuen Wissenschaft der Genetik sollte vermittels einer solchen Ahnenreihe gezeigt werden, dass infolge der üblicherweise recht zahlreichen Pfarrerskinder „ein großer Teil deutscher Familien Pfarrersblut in sich trägt“. In dieser biologistisch-völkischen „Aufmischung“ erkannte auch der Psychiater Ernst Kretschmer, selbst Pfarrerssohn, im evangelischen Pfarrhaus „ein Züchtungszentrum für Hochbegabung innerhalb der deutschen Erbmasse“. In seinem Buch „Geniale Menschen“, zuerst 1929, zuletzt 1958 verlegt, bezeichnete er die alten Gelehrten- und Pastoren-Dynastien als eine „speziell für die deutsche Geniezüchtung hervorstechende wichtige Gruppe“. Sie seien in Deutschland „die vererbungsmäßige Hauptgrundlage für die Dichter und Denker“.
Doch auch der Arzt und Dichter Gottfried Benn, Sohn eines pietistisch-sozialdemokratischen Pfarrer-Patriarchen, erblickte in einer genetisch bedingten Kombination von denkerischer und dichterischer Begabung ein Spezifikum des deutschen Geisteslebens, das in dieser Prägung bei keinem anderen Volk zu bemerken sei. Benn spricht vom evangelischen Pfarrstand „als einem erstaunlichen Massiv begabter Erbmasse innerhalb des deutschen Volkes.“ Neben diesem biologischen Argument nannte Benn allerdings die pädagogische Imprägnierung als viel wirkmächtiger, und er unterstreicht die prägende Bedeutung einer „besonderen moralischen und intellektuellen Erziehung“ im Pfarrhaus.
Damit führte er einen Aspekt in die Pfarrhaus-Apologie ein, der seitens der Forschung bald als der entscheidende und ausschlaggebende Faktor für den unbestrittenermaßen hohen Anteil von Pfarrerskindern mit herausragenden Fähigkeiten bzw. beutender Persönlichkeiten des deutschen Kultur- und Geisteslebens angesehen wird: das Aufwachsen im Pfarrhaus und die pfarrhäusliche Erziehung. Der prominenteste und daher immer wieder gern genannte „Pfarrhäusler“, der nicht aus einem solchen bürgerlichen Bildungshaus stammte, wohl aber im Pfarrhaus aufgewachsen war, ist zugleich der wichtigste Vertreter des deutschen Idealismus: der Erzieher und Philosoph Johann Gottlieb Fichte.
Am Ende
Infolge der beiden dezidiert antikirchlichen Dikaturen des 20. Jahrhunderts und der seit den 1970er Jahren wachsender Säkularisierung im europäischen „Westen“ geht seit Jahren die Zahl der Gläubigen beider großen Konfessionen rasant zurück. Kleine Landeskirchen und Pfarreien müssen fusionieren, auf allen Ebenen werden Optimierungsprozesse angestoßen. Selbstversändlich macht die geistig-geistliche Ausdünnung der ländlichen Räume auch vor den Pfarrhäusern nicht Halt. Vor allem im Osten der Republik, ausgerechnet in den Kernländern der Reformation, wurden viele Pfarrer zu Wanderpredigern für zahlreiche Gemeinden. So manches schöne alte Landhaus, in dem einst ein Pastor oder eine Pastorin fast rund um die Uhr für die „Schäflein“ ansprechbar war, wo er oder sie die Amtsgeschäfte führte und die sonntägliche Predigt schrieb, ist längst verkauft und umgewidmet.
In den zeitanalytischen Beschreibungen zur „deutschen Seele“ aus dem Jahre 2011 hält deshalb Richard Wagner kurz und bündig fest, dass „das Pfarrhaus am Ende der Geschichte angekommen ist“. Als einen wichtigen Grund für diesen Befund sieht der rumänisch-deutsche Dichter und sensible Kultur-Diagnostiker im 21. Jahrhundert jedoch weniger die bislang bekannten äußeren, politischen oder ideologischen Infragestellungen, sondern vielmehr eine neue, fundamentalere und darum existenzbedrohende Gefährdung des Pfarrhauses von innen: „Aus den meisten Theologen sind Funktionäre geworden, Netzwerker der Zivilgesellschaft.“ Das Angestelltenverhältnis habe, so Wagner, über das Pfarr-Ethos gesiegt. Deshalb sei das evangelische Pfarrhaus in Deutschland „von der einst angestrebten Bescheidenheit zur Bedeutungslosigkeit gelangt.“
Angesichts der aktuell heftig wabernden Debatte um die neueste EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ ist diese pessimistische Einschätzung Wagners noch um die skeptische Frage zu erweitern, ob die Vorbildwirkung des Pfarrhauses auch an einem anderen Punkt im modernitätsseeligen, bzw. selbstsäkularisierenden Überschwang außer Kraft gesetzt wird: mit Blick auf das bis dato unangefochtene Leitbild von Ehe und Familie. 1917 schrieb der reformierte Schweizer Theologe Wilhelm Hadorn: „Die Reformation hat uns wieder die reine Ehe geschenkt. Wie die Arbeit, so hatte die Kirche (gemeint war natürlich die katholische Kirche…) auch den Ehestand verachtet und geschändet.“ Und deshalb, so Hadorn, war es „eine reformatorische Tat, dass die Reformatoren in den Ehestand eingetreten sind und der Kirche das Vorbild eines reinen und gottgewollten ehelichen Zusammenlebens geschenkt haben.“
Die Fragen, die sich für geistige oder geistliche Pfarrhaus-Liebhaber aufdrängen, benennt Wagner gleich selbst: „Was ist eine Kirche ohne Pfarrhaus? Und – vor allem: „Was bedeutet es, wenn die Kirche sich dieser Frage nicht mehr stellt? Ein Verlust ist anzuzeigen.“ Hat er Recht?
Dr. Thomas A. Seidel (RC Erfurt) ist Geschäftsführender Vorstand der Internationalen Martin Luther Stiftung. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a. „Unterwegs zu Luther – Das Reisebuch: Mit Fotografien von Harald Wenzel-Orf“ (Wartburg Verlag - c/o Evangelisches Medienhaus, 2016) und als Mitherausgeber „Die Reformationsdekade »Luther 2017« in Thüringen: Dokumentation, Reflexion, Perspektive“ (Wartburg Verlag - c/o Evangelisches Medienhaus, 2018).
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