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Ein Staat – zwei Gesellschaften?

Titelthema - Ein Staat – zwei Gesellschaften?
Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere: „Beitritt eines kollabierenden deutschen Teilstaates zu einem größeren Kernstaat“ © Martin Athenstädt/ picture-alliance / dpa

Gedanken zur Lage im wiedervereinigten Deutschland

Klaus Schroeder 01.10.2018

Die Deutschen in Ost und West sind sich in mancherlei Beziehung auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung fremd geblieben. Viele Ostdeutsche murren ob ihrer fortbestehenden finanziellen Schlechterstellung gegenüber den Westdeutschen, viele Westdeutsche halten ihre Landsleute im Osten angesichts der hohen finanziellen West-Ost-Transfers für undankbar. Wie die überdurchschnittlichen Wahlerfolge der AfD und der im Vergleich zum Westen deutlich höhere Zulauf zur rechtsextremen Szene in den neuen Ländern offenbaren, zieht sich weiterhin auch ein – mitunter konstruierter – politisch-kultureller Graben durch Deutschland. Anstatt zu ergründen, woran das liegt, rücken Kommentatoren die Ostdeutschen pauschalisierend in die „rechte Ecke“.

Die Geschehnisse in Chemnitz im September nach der Ermordung eines Deutschen mutmaßlich durch zwei oder drei Asylbewerber und die mediale Verarbeitung der Vorgänge bestätigen diese Annahme eindrucksvoll. Neben mehreren tausend Bürgern, die ihre Trauer über einen getöteten Deutschen und ihre Abscheu gegenüber den Tätern zeigen wollten, demonstrierten in Chemnitz auch mehrere hundert Rechtsextremisten. Einige wenige hoben die Hand zum Hitlergruß und es gab Pöbeleien und Rangeleien gegenüber jugendlichen Ausländern, die wiederum mit obszönen Gesten Demonstrationsteilnehmer provozierten.

Schnell war in den meisten überregionalen Medien die Rede von tausenden Rechtsradikalen, die aufmarschiert seien, und von „Hetzjagden auf Ausländer“ oder gar von „pogromartigen Ausschreitungen“. Selbst der Regierungssprecher und die Bundeskanzlerin teilten diese Auffassung. Der Regierungssprecher sprach sogar von „Zusammenrottungen“, die es gegeben hätte. Offenbar weiß er nicht, dass dieser Begriff für einen mehr als fragwürdigen Straftatbestand in der DDR stand. Die Gemüter werden sich angesichts der medialen Reaktionen und des Streits über den Begriff „Hetzjagd“ zumindest in weiten Teilen Ostdeutschlands nicht so schnell beruhigen. Warum jemand zum Ausländerfeind erklärt wird, wenn er kriminelle Asylbewerber und sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge schnell abschieben will, leuchtet einer Mehrheit der Ostdeutschen und vielen Westdeutschen nicht ein. Und: Ist den rot-grünen Politikern und den Medien bewusst, dass sie mit ihren pauschalisierenden und vorurteilsbehafteten Berichten und Kommentaren der AfD die ostdeutschen Wähler geradezu in die Arme treiben?

Die fortbestehende Entfremdung zwischen Ost und West zumindest bei Minderheiten lässt sich vor allem auf zwei Faktoren zurückführen: die jahrzehntelange Teilung und den sozialen Umbruch nach der Wiedervereinigung. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 erfolgte nicht auf Augenhöhe, sondern es war der Beitritt eines kollabierenden deutschen Teilstaates zu einem größeren Kernstaat. Fast alle DDR-Bewohner erstrebten die Einheit, um so schnell wie möglich so wie die Westdeutschen leben zu können. Diese wiederum wollten in ihrer weit überwiegenden Mehrheit weder den Lebensstil ihrer „Brüder und Schwestern“ noch die „sozialistischen Errungenschaften der DDR“ übernehmen. Aus dieser Ausgangslage erklären sich gleichermaßen die identitätsstiftende ostdeutsche Trotzreaktion, die sich schon kurz nach der Vereinigung einstellte, sowie westdeutsche Überlegenheitsgefühle.

Der von der Bundesregierung betriebene konsumorientierte Transformationspfad führte zu einer schnellen Angleichung des Wohlstandes. Das reale Bruttoinlands- produkt pro Kopf lag 1989 in der DDR bei gerade einmal einem Drittel des westdeutschen Niveaus. Dieser Wert entsprach dem Mitte/Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik erreichten Stand. Die Überlegenheit der westdeutschen Wirtschaft wird noch deutlicher, wenn die Produktivität betrachtet wird. Die DDR kam hier je nach Berechnungsmethode auf nur etwa 13 bis 30 Prozent des westdeutschen Niveaus. Gemessen an dieser Ausgangslage lässt sich in den ersten fünf Jahren nach der Vereinigung ein historisch beispielloser Wohlstandssprung verzeichnen.

 

Der Abstand bleibt

Heute erreichen unter Berücksichtigung fortbestehender regionaler Kaufkraftunterschiede die ostdeutschen Haushaltseinkommen durchschnittlich etwa 85 bis 90 Prozent des Westniveaus. Das BIP je Einwohner liegt aber nur bei gut 70 Prozent und die Produktivität bei etwa 80 Prozent des Westniveaus. Die Wohlstandsangleichung erfolgte in den ersten Jahren des Transformationsprozesses; seither blieb der Abstand in etwa gleich. Die ostdeutsche Wirtschaft hinkt der westdeutschen immer noch 25 bis 30 Jahre hinterher, so dass eine Konvergenz, wenn überhaupt, erst in einigen Jahrzehnten erreicht sein wird.

Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung verdankt sich der Lebensstandard der ostdeutschen Bevölkerung weiterhin beträchtlichen finanziellen West-Ost-Transfers. Die vor allem in den sozialen Sektor fließenden Zuwendungen liegen nach unterschiedlichen Schätzungen inzwischen bei etwa 2 Billionen Euro. Hierdurch gelangen eine soziale Abfederung des Transformationsprozesses und eine weitgehende schnelle Wohlstandsangleichung zwischen Ost und West.

Noch heute fortbestehende Unterschiede sind aber weniger materieller als politischer und mentaler Art. Viele vornehmlich ältere, aber inzwischen auch jüngere Ostdeutsche fremdeln weiterhin mit den demokratischen Institutionen und setzen eher auf den Staat als auf Eigeninitiative. Eine kapitalismuskritische bis antikapitalistische Grundhaltung ist trotz, vielleicht auch gerade wegen der Überlegenheit der sozialen Marktwirtschaft in der innerdeutschen Systemkonkurrenz in den letzten Jahren angestiegen. Offenbar haben viele Ostdeutsche das Debakel der zentralistischen Planwirtschaft vergessen oder verdrängt. Nur etwa die Hälfte – bei den Jüngeren sogar nur ein Viertel – assoziieren bei einer Umfrage vor einigen Jahren mit Planwirtschaft Mangel (West: 71,3 bzw. 73,1 Prozent), knapp die Hälfte denkt an Sicherheit und knapp ein Viertel an Wohlstand (West: 29,4 bzw. 10,8 Prozent). Umgekehrt ist es bei der Marktwirtschaft: Etwa dop-pelt so häufig wie Westdeutsche denken Ostdeutsche zuerst an Ausbeutung (81,6 bzw. 43,3 Prozent), in der jungen Generation sind es sogar knapp 95 Prozent gegenüber gut 51 Prozent im Westen.

Ost und West unterscheiden sich auch im politischen Verhalten. Die Wahlbeteiligung ist im Osten deutlich niedriger und populistische Parteien erhalten mehr Zuspruch. Bei der Bundestagswahl 2017 erhielten links- und rechtspopulistische Parteien zusammen knapp 40 Prozent der Stimmen (West: 18,1 Prozent). Gleichzeitig ist das rechtsextreme Personenpotential im Osten, das schon zu DDR-Zeiten relativ hoch war, deutlich größer als im Westen, mit der Folge, dass es in den neuen Ländern mehr als doppelt so viele rechtsextreme Gewalttaten wie in den alten gibt.

Die Unterschiede resultieren nicht nur aus unterschiedlichen Sozialisationen vor 1990, sondern sind auch Folge des radikalen sozialen Wandels nach der Vereinigung. Viele Menschen wurden aus überschaubaren sozialen Milieus und planbaren Lebensverläufen herausgerissen. Alte Sicherheiten, auch wenn sie zuvor als einengend empfunden worden waren, verschwanden und hinterließen eine Leerstelle. Die neue Freiheit setzte vorerst vermeintlich keine Grenzen. Auf sich allein gestellt, fehlte vor allem vielen Jugendlichen das Gefühl, gebraucht und anerkannt zu werden.

 

Diktatur in milderem Licht

Ein positiver Bezug auf die DDR ist weiterhin bei einer Mehrheit der Ostdeutschen ausgeprägt, nicht nur in älteren, sondern auch in jüngeren Generationen. Die sozialistische Diktatur wird in immer milderem Licht gesehen, nur noch eine Minderheit betont den Unrechtscharakter und die unerträglichen Verhältnisse. Im Nachhinein wird die DDR als ein Staat bewertet, in dem vieles besser als heute gewesen sei und in dem vor allem soziale Absicherung und Gerechtigkeit geherrscht hätten.

Die Weichzeichnung der DDR wird in vielen Familien an die junge Generation weitergegeben. Der Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur ist vielen jungen Menschen nicht geläufig. Sie übernehmen das schlichte Welt- und Gesellschaftsbild der Altvorderen, demzufolge „die da oben“ alles bestimmen, und „wir hier unten“ nichts zu sagen haben. Das treffe auf die DDR ebenso wie auf das wiedervereinigte Deutschland zu, wo auch staatliche Maßnahmen als „alternativlos“ bezeichnet werden. Die Kritik an der Bundeskanzlerin Merkel bzw. dem „System Merkel“ nicht nur durch Rechtspopulisten, sondern auch auf der linken Seite des politischen Spektrums, steht beispielhaft für das Gefühl einer Bevormundung.

Die Unterschiede in der Mentalität und in dem Blick auf Vergangenheit und Gegenwart werden nicht so schnell verschwinden. Vielleicht ist es ja wie beim Rauchen: Angeblich dauert es nach dem Aufhören noch einmal ebenso lange, bis die Auswirkungen komplett verschwunden sind. Wir waren 45 Jahre geteilt und es wird wahrscheinlich auch 45 Jahre dauern, bis wir nicht mehr über Ost-West-Unterschiede reden.

Die öffentliche Wahrnehmung hebt zumeist fortbestehende Unterschiede und Probleme des Wiedervereinigungsprozesses hervor und übersieht oft die positiven Seiten. So gerät aus dem Blick, dass die Umwelt in den ostdeutschen Ländern flächendeckend saniert und die Infrastruktur umfassend modernisiert wurde. Viele nahezu zerstörte Innenstädte erstrahlen in neuem Glanz. Aber auch der Einzelne profitiert von der schnellen Wohlstandsangleichung und der Verbesserung des Gesundheitswesens. Die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung deutlich niedrigere ostdeutsche Lebenserwartung liegt bei Frauen inzwischen auf annähernd gleichem Niveau und beträgt bei Männern nur noch etwa ein Jahr weniger. Seit der Jahrtausendwende sind sich die Deutschen in West und Ost zudem einig, dass die Wiedervereinigung ein Grund zur Freude und nicht zur Sorge ist.

 

Kollektive Kränkungen

Viele Ostdeutsche – beileibe nicht nur die, die seinerzeit an verantwortlicher Stelle tätig waren und sich durch den Untergang ihres Staates um ihre Lebensleistung betrogen fühlen – empfinden eine Kritik an der sozialistischen Diktatur als Angriff auf ihre Person. Sie differenzieren nicht zwischen System und eigener Lebenswelt und fordern mehr Verständnis und Anerkennung auch für den politisch-ideologischen Rahmen, der ihnen bis 1989 gleichsam aufoktroyiert war. Doch letzterer darf nicht im Nachhinein legitimiert werden.

Der individuellen Lebensleistung aber gebührt Anerkennung, unabhängig davon, in welcher Ordnung ein Mensch gelebt hat. Gerade an der Differenzierung zwischen diesen beiden Faktoren mangelt es bis zum heutigen Tag. Viele Westdeutsche rechnen sich quasi persönlich die Überlegenheit ihres Systems zu und werten gleichzeitig Ostdeutsche gemeinsam mit deren altem System ab. Erst wenn diese Pauschalisierungen ausgeräumt sind, kann ein Zusammenleben ohne individuelle oder sogar kollektive Kränkungen gelingen. Dabei darf jedoch die notwendige Delegitimierung der sozialistischen Diktatur nicht zugunsten einer Anerkennung individueller Lebensleistungen, die das System miteinschließt, aufgegeben werden.

Trotz aller Probleme: Berücksichtigt man die historisch wohl singulären schwierigen Ausgangsbedingungen – die katastrophale ökonomische, infrastrukturelle und ökologische Schlussbilanz der DDR, ihr zum damaligen Zeitpunkt unerwarteter Zusammenbruch, nicht vorhandene historische Vorbilder, Fehlen einer etablierten Gegenelite im SED-Staat, unterschiedliche, ja gegensätzliche Sozialisationen und Lebenserfahrungen in Ost und West –, so hellt sich das Bild deutlich auf. Dann erscheint die deutsche Wiedervereinigung trotz aller Widrigkeiten und Probleme unter dem Strich als eine Erfolgsgeschichte, auf die wir stolz sein dürfen.

Klaus  Schroeder

Klaus Schroeder ist wissenschaftlicher Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat und Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

 

 

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