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Über die Geschichte des Begriffs „Mitte“, die Notwendigkeit der Extreme und aktuelle Herausforderungen an die Politik

»?Eine Art Idealstaatsersatz??«

Im Gespräch mit Herfried Münkler

15.01.2011

Mit Büchern wie „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“ hat sich Herfried Münkler den Ruf eines „Ein-Mann-Think Tanks“ (DIE ZEIT) erworben. Mit seinem neuen Buch „Mitte und Maß“ hat der Berliner Politikwissenschaftler maßgeblichen Anteil an der aktuellen Mitte-Diskussion. Das Rotary Magazin traf den Professor in seinem Studierzimmer im Herzen der Hauptstadt.

 

Herr Professor Münkler, was hat Sie an dem Thema „Mitte“ gereizt?

Zunächst einmal ist „Mitte“ sicherlich kein Thema, das besonders sexy ist. Es hat durchaus etwas „Tantenhaftes“. In dieser Republik ist ständig von der Mitte die Rede, aber sie wird nicht erkundet und vermessen. Das wollte ich so nicht stehen lassen. Deshalb habe ich einige Überlegungen darüber angestellt, was die Mitte ist, wo sie liegt und inwieweit sie sich möglicherweise verändert.

 

Was bedeutet Mitte?

Mitte ist ein enorm tiefer Ordnungsentwurf. Dahinter steht die zentrale Vorstellung, dass wenn man sich in der Mitte befindet, nicht oben oder unten ist und nicht rechts oder links. Man meidet die Extreme und hält sich in einem sicheren Bereich auf. In diesem Zusammenhang ist mir der Sinnspruch aufgefallen, den ich meinem Buch voranstelle: „In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Der stand in meiner Studentenzeit in Frankfurt an fast jeder Toilettentür. Dies führte mich zu der Fragestellung, ob Mitte möglicherweise auch etwas ist, das entgegen der ursprünglichen Absicht gefährlich und riskant sein kann.

 

Seit wann gibt es die Mitte als politische Idee?

In gewisser Hinsicht hat das bereits der Begründer meines Fachs, Aristoteles, vorgeschlagen als die Vermeidung der Ex-treme. Er hat z.B. gefragt: „Was ist Tapferkeit? – Die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit“. Und: „Was ist Freigiebigkeit? – Die Mitte zwischen Verschwendungssucht und Knausrigkeit.“ Aristoteles hat die Orientierung von gesellschaftlichen Ordnungen auf die Mitte als eine Art Idealstaatsersatz begriffen. Anders als sein Lehrer Platon glaubte Aristoteles nicht an den Idealstaat, deshalb wollte er die Politik auf die Mitte hin ausrichten, so dass Städte und Staaten im Gleichgewicht bleiben.

 

Wie definiert sich die „Mitte der Gesellschaft“?

Im früheren Gesellschaftsmodell der Pyramide war die Mitte nicht besonders auffällig. Für eine Pyramide muss ich nur die Spitze und die Basis kennen. Dies hat sich umgekehrt zur sogenannten „Zwiebel“, bei der der Umfang in der Mitte entscheidend ist. Dieses Modell hat zur Voraussetzung, dass die untere und die obere Mittelschicht sich tendenziell als ein Verband verstehen, dass die Austausche und die Transfers zwischen ihnen funktionieren und dass in der oberen Mittelschicht diejenigen, die mehr einzahlen als sie herausbekommen, das innerlich zustimmend tun, weil sie im Ergebnis davon überzeugt sind, auf diese Weise gesellschaftlich Stabilität zu generieren.

 

Führt diese Stabilität dazu, dass Gesellschaften der Mitte extremeren Ordnungen überlegen sind?
Natürlich hat die gesellschaftliche Zentrierung auch ihren Preis. Die Genies und die spannenden Figuren sind sicherlich nicht in der Mitte zu finden, wo eine gemäßigte Lebensform gepflegt wird, sondern an den Extremen. Aber die Extreme sind riskant. Da wird häufig ein kurzes, aber kreatives Leben geführt; oder es werden Experimente durchgeführt, die in Katastrophen enden. Die Weimarer Republik war politik- und kulturgeschichtlich sicherlich spannender, als es die Bundesrepublik je vermocht hat. Aber der Preis, den die Deutschen für diese kurze Zeit einer aufregenden, politisch wilden Republik der Extreme gezahlt haben, war sehr hoch.

 

Sie betonen jedoch immer wieder auch das Wechselspiel von Mitte und Extrem. Braucht die Mitte das Extrem?

Ich glaube schon. Denn gäbe es keine Extreme, wüssten wir nicht, wo die Mitte ist. Das gilt nicht nur im geometrischen Sinne. Wenn man sich ansieht, was die Mitte unterhält, so sind dies die Figuren am Rande: entweder Promis, die sich in eigentümlicher Weise benehmen, oder aber der Blick ins Verbrechen hinein. Ich würde fast annehmen, dass die Häufigkeit, mit der Krimis gesehen werden, etwas zu tun hat mit der Dichte von gesellschaftlicher Mitte. Man kompensiert die Ruhe des eigenen Lebens, indem man sich durch den gesicherten Abstand des Fernsehgerätes auf extreme Lebensformen einlässt.

 

Ist dies der Grund dafür, dass Revoluzzer gerade in gutbürgerlichen Salons stets gern gesehene Gäste sind?

Exakt. Wenn man eine feste Position in der Mitte hat, kann man sich diese Art von Hofnarrentum leisten. Die Mitte bringt zudem nicht unbedingt viele neue Ideen aus sich hervor und ist deshalb auf eine gewisse Abwechslung, vielleicht auch Innovation, angewiesen. Deswegen lädt man relativ gern diese interessanteren Figuren ein, lässt sich von ihnen unterhalten – und mokiert sich anschließend über sie.

 

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Mitte als stabilisierendes Element „in unmittelbarer Konkurrenz zu einem Ordnungsmodell eines ständigen gesellschaftlichen und politischen Fortschritts“ steht. Ist Mitte konservativ?

Jedenfalls gegenüber dramatischen, universalen Fortschrittsvorstellungen insistiert der Mitte-Gedanke immer auf ein „Nicht allzu sehr“ oder „Eile mit Weile“. Wenn die Propheten des Fortschritts darauf abheben, dass „das Zeitfenster nur kurze Zeit offen“ ist, dann versucht die Mitte das in gewisser Weise zu dämpfen. Die Intensität, mit der die Mitte konservativ ist, hat auch etwas damit zu tun, wie sehr sich die Extreme in diesen Konstellationen äußern. Wenn die Partei des Fortschritts schwach ist, dann kann die Mitte nicht konservativ sein, weil es dann zu einer Erstarrung der Gesellschaft kommt.

 

„Konservativ“ meint also im Sinne des Maßhaltens – und weniger der Reaktion?

Exakt. Mitte und Maß gehören zusammen. So leicht es auf den ersten Blick ist, zu bestimmen, wo Mitte ist, so schwierig ist das Nachdenken über Maß. Maß ist eine Vorstellung von Gesellschaften, in denen wir heute offenbar nicht mehr leben. Vielmehr spielen permanente Überbietung und Außerkraftsetzung eine Rolle: technologischer Art, ästhetischer Art und derlei mehr. Das Maß ist einer der gefährdetsten Begriffe, und wer mit Maß kommt, der hat etwas „Onkelhaftes“ und ist fast unerträglich. Andererseits hat sich in der Gier-Debatte infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise gezeigt, dass es bis in die sich progressiv oder sehr konservativ hinein verstehenden Kreise vielleicht keine konkrete Vorstellung von, aber einen sehr starken Wunsch nach dem Maß gibt.

 

Der Begriff der „Neuen Mitte“ kam 1998 nicht von den Konservativen, sondern von Rot-Grün. War das anmaßend?

Die Sozialdemokratie und auch die Grünen haben das Problem, dass sie sagen, dass sie Leute, die von unten kommen, nach oben bringen wollen. Im Ergebnis kommen diese irgendwann in der Mitte an. Die Dynamisierung des Bildungssystems, wie sie von der Sozialdemokratie zumal in den sechziger und siebziger Jahren vorangebracht worden ist, hat zweifellos dazu geführt, dass viele soziale Karrieren stattgefunden haben. Aber wenn die Leute oben angekommen sind, kehren sie dieser Partei den Rücken. Deshalb hat Peter Glotz noch in der Ära Brandt den Begriff der „Neuen Mitte“ geprägt. Gerhard Schröder hat ihn dann wieder aufgegriffen. Es war ein Versuch, die Aufsteiger, die das Ergebnis des Erfolgs der eigenen Politik sind, an sich zu binden. Eigentlich passen „neu“ und „Mitte“ gar nicht zusammen, aber es hat funktioniert.

 

Es fällt aber auf, dass wann immer bei der SPD ein Kanzler versucht, mittig zu sein, die Partei irgendwann gegen ihn aufsteht.

Die Sozialdemokratie ist klassisch die Partei, die es sich in der Mitte nicht bequem machen kann, sondern auch noch die soziale Herkunft von „unten“ und die politische Tradition der Linken im Auge behalten muss. Das zerreißt sie immer wieder. Deshalb hat es oft – auch schon im Kaiserreich – starke Auseinandersetzungen zwischen den Flügeln gegeben. Die Frage ist, wie stark der Körper dazwischen ist. Wenn der Körper stärker ist als die Flügel, dann ist die Partei in einer Position der Regierungsfähigkeit. Wenn aber die Organisation nur noch aus dem rechten und dem linken Flügel besteht, dann ist die Partei in einer Situation der tendenziellen Abspaltung.

 

Warum sehen Sie Mitte auch als ein sehr deutsches Thema?

Ich habe bereits auf die Weimarer Republik hingewiesen. Obwohl sie schon lange Geschichte ist, gehört es zur politischen Intellektualräson, dass sie sich nicht wiederholen darf. Gemeint ist die Polarisierung der Republik, das Zerrieben-Werden zwischen rechts und links. Schaut man genauer hin, dann ist die Mitte ein viel umfänglicheres deutsches Thema, auch in geopolitischer Hinsicht. Dazu gehört die Vorstellung, im Zentrum Europas zu liegen. Mitte kann eine sehr komfortable Situation sein, aber auch eine gefährdete. Wenn Mitte als Einkreisung verstanden wird, wie im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, dann wird sie aggressiv und schlägt um sich. Eigentlich haben die Deutschen in den letzten mehr als hundert Jahren permanent mit dem Problem der Mitte zu tun gehabt. Entweder haben sie darunter gelitten oder sich damit beruhigt, dass sie – wie mein Kollege Winkler das genannt hat – auf dem „Weg nach Westen“ die Mitte aufgegeben haben. Das geteilte Europa und das geteilte Deutschland hatten keine Mitte mehr. Und dann ist 1990 die Mitte zurückgekehrt, und nun stehen wir vor dem Problem, wie wir Deutsche unsere eigene Mitte wiederfinden – in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht.

 

Die Mittellage gilt als wichtige Ursache des „deutschen Sonderwegs“ in der Geschichte. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren die Mittelmächte, die sowohl in der „zivilisatorischen Leichtigkeit“ des Westens zu Hause waren als auch in der „Innerlichkeit und Tiefe“ des Ostens. Dennoch gehörten sie keiner Seite richtig an.

Es gab damals eine Vorstellung von Mitte, in der gewissermaßen die Vorzüge des Ostens und die Vorzüge des Westens miteinander verbunden sein sollten, wobei die Verfechter dieses Gedankens immer insistierten, man könne nur die Vorzüge miteinander verbinden, die Nachteile und Probleme könne man außen vorlassen. Das war natürlich nicht so.

 

Als Deutschland eine Mitteposition einnahm, hatten wir eine Gesellschaft der Extreme; als Konrad Adenauer die Bundesrepublik fest im Westen verankert hatte, haben wir eine Gesellschaft der Mitte bekommen. Schließen sich äußere Mittellage und innere Mittegesellschaft aus?

Damit haben Sie exakt die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre beschrieben: entweder die geopolitische Mittellage, dann ist man aber gesellschaftlich und politisch zerrissen. Oder man ist eine relativ ruhige und politisch wie sozial zentrierte Gesellschaft, dann aber ohne geopolitische Mittellage.

Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist, herauszubekommen, inwieweit man in beiden Fällen Mitte sein kann. Wir sind auch aufgrund des europäischen Prozesses in die Mitte Europas eingerückt. Für diese neue „Mittigkeit“ wieder mit einer zerrissenen und extremen Gesellschaft zu zahlen wäre ein vermutlich zu hoher Preis. Also müssen wir herausbekommen, wie es möglich ist, beides miteinander zu kombinieren.

 

Die Bonner Republik galt als Inbegriff von Mitte, Helmut Schelsky nannte sie prägend eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“. Was ist die Berliner Republik?

Die alte Bundesrepublik hat stark davon profitiert, dass die früheren Oberschichten entweder desavouiert waren, oder im Krieg weggeschossen worden sind, oder teilweise von den Nazis nach dem Hitler-Attentat ermordet wurden. Es war viel Platz vorhanden, so dass die Erfahrung des Aufstiegs und des Festsetzens in der Mitte sehr dicht war. Es gibt auch Abstiege in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die besser Mittelschichtengesellschaft heißen würde. Aber in der Summe war es eine Mitte, die sich im kollektiven sozialen Aufstieg befand.

In der Berliner Republik – das hat aber wenig mit Berlin oder mit Bonn zu tun, sondern mit den weltpolitischen Veränderungen, für die auch die Globalisierung steht – ist die Gesichertheit der sozialen Mitte sehr viel prekärer. Wir müssen sehr viel mehr Transfers aufwenden, also Umverteilung über Steuern und Bezuschussung, um diese Mitte-Effekte erzielen zu können, als das die alte Bundesrepublik tat. Das hat zum Ergebnis, dass diejenigen, die schon relativ früh in der Einkommenspyramide den Steuerhöchstsatz zahlen müssen, eine gewisse Müdigkeit an der breiten Sozialwirtschaft haben. Dass von daher die Mitte zu halten anstrengender, bzw. gefährdeter geworden ist, wird vermutlich die große Herausforderung der nächsten Jahre sein.
Das Interview führte René Nehring.