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Titelthema

Eine publizistische Stimme jüdischen Lebens

Titelthema - Eine publizistische Stimme jüdischen Lebens
Verlegerin Nora Pester: „Ein Verlag für das gesamte jüdische Leben von heute“. Weitere Informationen zum Programm des Verlags unter hentrichhentrich.de © Charlotte Menin

Zum 70. Todestag Karl Wolfskehls gibt der Rotary Verlag ein Porträt des Dichters heraus. Die Originalausgabe erschien in einem ganz besonderen Berliner Verlag.

01.07.2018

In Kürze erscheint im Rotary Verlag das biographische Porträt „Karl Wolfskehl. Vom Bohemien zum Dichter des Exils“ von Sabine Neubert. Das kleine Buch ist die Lizenzausgabe eines unter gleichem Namen im Verlag Hentrich und Hentrich erschienenen Titels.

Das Verlagshaus wurde in den 80er Jahren von dem Drucker Gerhard Hentrich in Berlin gegründet, der bis dahin vor allem Theaterprogramme und -plakate produzierte. Eines Tages kamen zwei Lehrer zu ihm in die Druckerei mit einem Buchmanuskript über steinerne Zeugen in Berlin, die sowohl an die jüdische Geschichte als auch an die NS-Verbrechen in der Stadt erinnern. Die beiden Lehrer hatten für ihr Manuskript keinen Verlag gefunden und wollten deshalb das Buch selbst verlegen. Hentrich antwortete ihnen, dass der Druck des Buches nicht das Problem sei, doch müsse es ja irgendwie auch unter die Leute. So entstand die Idee zur Gründung des Verlags.

Das Programm des Hauses war von Beginn an stark mit der persönlichen Lebensgeschichte Gerhard Hentrichs verbunden. Seine Mutter galt nach den Rassekriterien der Nationalsozialisten als Jüdin, weshalb die Familie im „Dritten Reich“ starken Repressionen ausgesetzt war. Er selbst hatte als junger Mann im Krieg ein Bein verloren und war dadurch sein Leben lang gehandicapt und gezeichnet. Entsprechend groß war sein Hass auf das NS-Regime. In den Publikationen seines Verlags – der schnell den Fokus auf die Aufarbeitung der NS-Geschichte und die Verfolgung der Juden bis hin zur Shoa richtete – fand Gerhard Hentrich nunmehr die Möglichkeit, alles das aufzuarbeiten, was ihn persönlich seit Jahrzehnten umgetrieben hatte. Nachdem Mitte der 90er Jahre auch der Sohn in das Haus eingestiegen war, hieß der Verlag Hentrich und Hentrich.

 

Nachfolge

Bis zum Jahr 2009, als er 85 Jahre alt war, führte Gerhard Hentrich seinen Verlag vollumfänglich, brachte er jedes Jahr rund zwanzig Titel heraus. Doch da das Ende schon absehbar war und der Sohn sich auf sein Antiquariat konzentrieren wollte, musste eine Regelung gefunden werden. Über einen Freund fand der Verleger seine kongeniale Nachfolgerin in Nora Pester.

Die junge Politikwissenschaftlerin  stammte aus Leipzig und hatte beim dortigen Forum Verlag ihre ersten Verlagserfahrungen gesammelt. Nach Jahren in Wien hatte sie gerade beim Berliner Verlag Matthes und Seitz angeheuert, als sie das Angebot erhielt, Hentrich und Hentrich zu übernehmen. Ihr war bewusst, dass wenn sie das nicht machen würde, niemand weiteres sichtbar war, der das Haus übernehmen würde. So ist sie ins kalte Wasser gesprungen, hat einen Kredit aufgenommen und den Verlag gekauft: „Hätte ich damals mehr Zeit zum Nachdenken gehabt“, so Nora Pester heute, „hätte ich es sicher nicht gemacht. Und das wäre ein Fehler gewesen. Manchmal ist es ganz gut, wenn man bestimmte Dinge nicht in letzter Konsequenz bedenken kann.“

So wurde Nora Pester, die sich selbst „eine klassische DDR-Sozialisation, konfessionslos und nicht religiös“ bescheinigt, zur Verlegerin eines dezidiert jüdischen Buchprogramms. „Ich kann nicht verhehlen, dass ich im Moment der Verlagsübernahme Zweifel hatte, ob es richtig ist, dass eine Nichtjüdin einen solchen Verlag führt“, blickt sie heute zurück. Geholfen hat ihr, dass sie den Verlag zwar ökonomisch allein zu verantworten hat, jedoch in inhaltlichen Fragen keineswegs allein dasteht. Der Verlag verfügt über ein Netz von Herausgebern mit unterschiedlichen Schwerpunkten rund um das Thema Judentum, die überwiegend selbst auch jüdisch sind. Ihr eigenes Verlagsteam besteht zudem aus Judaisten und Historikern.

 

Erweiterung des Programms

Als Nora Pester den Verlag übernahm, wurde ihr sehr schnell klar, dass sie zwar die Tradition des Gründers fortsetzen, das Programm jedoch um Titel mit einem stärkeren Gegenwartsbezug erweitern wollte: „Ich möchte mich nicht mehr nur mit der Zerstörung des Judentums und des jüdischen Lebens durch die Nazis beschäftigen, sondern auch mit jüdischer Gegenwart bzw. Vergangenheit vor der Shoa. Deshalb haben wir ganz schnell den Zeitrahmen unserer Neuerscheinungen von 1933 bis 1945 nach hinten und nach vorne erweitert.“ Fragen wie: Was ist eigentlich jüdisches Leben? Was ist jüdische Kultur? Wie werden Juden in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen? prägen immer stärker das Programm von Hentrich und Hentrich.

Vor allem die jüngere Generation, und hier ganz besonders die Kinder und Enkel der im Zuge der Kontingentflüchtlingswelle in den 90er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderten Familien, stellt sich elementare Fragen zur eigenen Identität: Was macht mein Jüdischsein aus? Wo finde ich mich wieder? Möchte ich säkular leben oder orientiere ich mich an der Orthodoxie? Welchen Weg schlage ich ein, wenn ich eine Familie gründe? Was gebe ich eines Tages an die eigenen Kinder weiter? Auf diese und andere Probleme wie Sterbehilfe und Sterbebegleitung aus jüdischer Sicht versucht Nora Pester mit ihren Autoren Antworten zu geben. „Wir wollen ein Verlag für das gesamte jüdische Leben von heute sein, der die aktuellen Themen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ebenso abbildet wie die Diskurse unter den Akademikern.“ Bücher über koscheres Kochen gehören deshalb ebenso zum Programm wie Begleitbände zu wissenschaftlichen Tagungen oder aktuelle Debattenbücher wie „Vereinte Nationen gegen Israel“. Rund 50 Neuerscheinungen bringt Hentrich und Hentrich so inzwischen jedes Jahr heraus – was für einen kleinen Verlag eine enorme Leistung ist. Zumal es keinen Mäzen im Hintergrund gibt, der diese Titel finanziert.

Besonders lesens- und empfehlenswert sind die zahlreichen Bände aus den beiden Reihen „Jüdische Miniaturen“ und „Jüdische Memoiren“, die noch von Gerhard Hentrich begründet wurden. Als Nora Pester den Verlag übernahm, waren in den „Miniaturen“ bereits rund 95 Titel erschienen, inzwischen ist sie bei Band 230 angelangt: „Wir haben gelernt und erfahren, dass dieses Format nicht nur zeitlos ist, sondern dass es sogar dem Zeitgeist entgegenkommt. Sprich: Die Bücher sind klein, kompakt, leicht verständlich, günstig und schnell zu konsumieren. Sie sind ideal für das Internet-Zeitalter, weil sie ausführlicher sind als ein Wikipedia-Artikel, und auch noch quellenreicher recherchiert; und gleichzeitig sind sie keine Drei-bis-vierhundert-Seiten-Monographie, die dann auf dem Nachttisch verstaubt.“

Herausgeber der Reihe ist der Historiker Hermann Simon, der aus einer alten Berliner jüdischen Familie stammt und bis 2015 Direktor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ war. Das Kriterium dafür, über wen eine „Miniatur“ erscheint, ist vor allem die Frage, wer in seiner Zeit in gesellschaftlich relevanten Bereichen wie Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Medizin Maßgebliches geleistet hat. Natürlich geht es dabei auch immer wieder darum, Persönlichkeiten, die durch die Zäsur des Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten sind, wiederzuentdecken. „Die Shoa“, so Nora Pester nachdenklich, „hat ja nicht nur Menschen ausgelöscht, ermordet, vertrieben, sondern sie hat auch – was oft vergessen wird – deren Wirken ausgelöscht. Damit einhergegangen ist ein unglaublicher Verlust an Wissen und Leistungen aller Art.“ So vermittelt die Reihe der „Jüdischen Miniaturen“ mit ihren Porträts über den Komponisten Felix Mendelssohn, den Revolutionär und Bankier Ludwig Bamberger, den Kulturhistoriker Aby Warburg, den Philosophen Franz Rosenzweig oder den legendären Präsidenten des FC Bayern Kurt Landauer zumindest eine Ahnung von dem einstigen Reichtum jüdischen Lebens in Deutschland, das durch das „Dritte Reich“ für immer verloren ging. Um so erfreulicher, dass diese Porträts nachwachsenden Generationen zumindest ein wenig davon erzählen.

 

Ein besonderes Geschenk

Aus diesem Grunde hat sich der Rotary Verlag dazu entschlossen, dass eingangs erwähnte Porträt „Karl Wolfskehl. Vom Bohemien zum Dichter des Exils“ als Lizenausgabe nachzudrucken. Das Buch erscheint als bibliophile Ausgabe in edlem Leinen mit Prägedruck. Ein ideales Mitbringsel also, wenn Sie demnächst wieder einmal zu einem Geburtstag oder Empfang eingeladen sind und schnell nach einem geistreichen Geschenk suchen.

Vor allem jedoch ist dieses kleine Porträt eine Erinnerung daran, was nicht zuletzt auch Rotary an Freunden wie Karl Wolfskehl verloren hat.