Editorial
Ende eines Projekts
Das Aus war bereits verkündet. Als zu Beginn dieses Sommers Angela Merkel und Horst Seehofer in aller Öffentlichkeit über den Masterplan des Bundesinnenministers zur Ordnung und Begrenzung der Zuwanderung stritten, schien das Ende für die Regierung gekommen. In den Talkshows wurde über den Autoritätsverlust der Regierungschefin und das mögliche Auseinanderbrechen der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU sinniert; manch Magazin beeilte sich, möglichst als erstes einen Nachruf auf die Ära Merkel zu bringen.
Doch Totgesagte leben bekanntlich länger. Die Kanzlerin und ihr Minister fanden mühsam eine Einigung. Seitdem bemüht sich vor allem das Merkel-Lager, die zweifellos angeschlagene Autorität der Chefin wiederherzustellen. In unzähligen Interviews, Artikeln und Tweets preist es – flankiert von wohlmeinenden Kommentaren in den Medien – die Kanzlerin als weltoffene Führerin des eigenen Landes und Europas; der CSU-Vorsitzende hingegen wird als bayerischer Provinzpolitiker dargestellt, dem das Format für das Berliner und Brüsseler Parkett fehlt. Unterstützung erhält Merkel vor allem aus einer bestimmten Richtung ihrer Partei – den Befürwortern einer schwarz-grünen Zusammenarbeit und einer entsprechenden programmatischen Ausrichtung. Und natürlich von den Grünen selbst.
Gleichwohl ist jenseits aller nachgereichten Unterstützung eines offensichtlich: Das Unbehagen in der Union über einen Kurs, der sie zunehmend von ihren Wurzeln wegführt, wird größer. Neben der Tatsache, dass mit Horst Seehofer erstmals ein Politiker der christlich-sozialen Mitte rebellierte, fiel in diesem Streit vor allem auf, wer sich nicht zur Unterstützung der Kanzlerin äußerte. Schwarz-Grün galt einmal als hoffnungsvolles Projekt, das inhaltlich zwei verschiedene Richtungen des Bürgertums zusammenführen und machtstrategisch der Union neue Koalitionsoptionen öffnen sollte. Heute stellen immer mehr ihrer Anhänger ernüchtert fest, dass in den letzten Jahren vor allem Kernanliegen der Grünen verwirklicht wurden – und das, obwohl es auf Bundesebene noch nicht einmal ein Bündnis mit ihnen gab.
Wie weit vor allem die CDU sich von ihren Ursprüngen entfernt hat, zeigt sich an dem Platz, den sie der Konkurrenz rechts von sich gelassen hat. Die Alternative für Deutschland, die sich trotz aller populistischen Volten überwiegend aus enttäuschten Anhängern der Union zusammensetzt, ist inzwischen fest im politischen System verankert und steht in den Umfragen dieses Sommers bei 17 Prozent. Dem schwarz-grünen Projekt fehlen die Mehrheiten.
Wer die Lage der Union mit dem Schicksal der Sozialdemokraten vergleicht, ahnt nichts Gutes. Diese haben zu Beginn des Jahrhunderts mit der Agenda 2010 das Land reformiert und vorangebracht. Doch haben sie sich dabei so weit von ihrer Kernwählerschaft entfernt, dass links von ihnen eine Konkurrenzpartei entstehen konnte – und die SPD in weiten Teilen des Landes keine Machtoption mehr besitzt. Es fehlen also nicht nur dem schwarz-grünen Projekt die Mehrheiten – dem ganzen Land drohen Verhältnisse, bei denen es immer schwieriger wird, überhaupt noch eine Regierung zu bilden.
Es grüßt Sie herzlichst Ihr
René Nehring
Chefredakteur