Titelthema
Entbürgerlichte Landschaften?
Im Zuge der jüngsten Landtagswahlen war oft die Klage zu hören, dass dem Osten der Republik das Bürgertum fehle. Ein genauerer Blick zeigt, dass dieses Urteil zu kurz greift.
Bürgerlich“ – mindestens in zwei Debatten, die beide um den Osten kreisen, kam und kommt dieser Vokabel in den vergangenen Wochen eine unerwartete Aktualität zu. Viele öffentliche Stimme konstatieren momentan, dass es dem Osten Deutschlands an „Bürgerlichkeit“ mangele: Durch die doppelte Diktaturerfahrung von Nationalsozialismus und SED-Herrschaft deformiert, wähle er jetzt zu größeren Teilen als der Westen der Republik die sogenannte Alternative für Deutschland. Zugleich wehren insbesondere Christdemokraten die Bemühungen der AfD ab, sich selbst als „bürgerlich“ zu stilisieren, um damit die im Lokalen gelegentlich praktizierte Zusammenarbeit der CDU mit der AfD mehr und mehr zu normalisieren.
Idealisierte Vorstellungen
In beiden Fällen haben wir es mit einem verkürzten, vor allem aber idealisierten Bild des Bürgerlichen zu tun. Der Blick in die Vergangenheit und das, was die Geschichtswissenschaft dort an Einsichten produziert hat, hilft, die aktuelle Debatte zu versachlichen. Ein „Ja, aber“, ein „Nein, aber“ und ein Verweis darüber hinaus sollen nicht nur differenzieren helfen, was in der Debatte höchst holzschnittartig zur Diskussion steht, sondern zugleich auch einen Anstoß dazu geben, das Gespräch ins Produktive zu wenden.
Ja, der Osten Deutschlands ist sozialhistorisch gesehen weniger bürgerlich als der Westen, aber zu einer Defizitanalyse mit Blick auf die aktuelle politische Kultur und vor allem zu der so beliebten Pathologisierung des Ostens taugt der Befund alleine nicht. Warum? Bei allen Unterschieden im Detail ist sich die Forschung darüber einig, dass sich das Bürgerliche in der Gesellschaft nur in einer ambivalenten Wechselbeziehung von Sozialstruktur einerseits und einem System von Werten, Praktiken und Verhaltensmustern andererseits bestimmen lässt. Besitz und Bildung verbanden sich vor allem mit spezifischen Berufen und Professionen: der selbstständige Unternehmer stand neben dem Wissenschaftler, der hohe Beamte neben dem freien Künstler. Die männliche Form ist hier bewusst gewählt: Zum Bürgertum gehörte auch die Arbeits- und Machtteilung in der Familie, die der Frau konsequent die häusliche Sphäre und die schwächere Rolle zuwies.
Was die so verschiedenen Segmente von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum dann zusammenhielt, war ein „bürgerlicher Wertehimmel“, in dem ein ganzes Set von Verhaltensanforderungen im Kern vor allem auf die Bildung des Selbst als eines spezifisch bürgerlichen Persönlichkeitsideals ausgerichtet waren. Ein Clou für die Diskussion von heute wird erst dann daraus, wenn wir eine dritte Komponente hinzudenken, nämlich ein aus dieser Gemengelage herrührendes politisches Gestaltungsideal, welches tief in das Gemeinwesen eingriff.
Feindbild Bürgertum
Alle drei Komponenten haben unterschiedliche Entwicklungslogiken und -verläufe, wirkten phasenverschoben und erodierten ungleichzeitig. Besitz und Bildung verbanden sich im deutschen Kaiserreich und in den darauf folgenden Jahren mit einem Ensemble von Professionen, die in der DDR nach und nach abgeschafft oder grundlegend umgestaltet wurden. So versuchte die politische Führung gleich zu Beginn, durch die Gründung der „Arbeiter- und Bauernfakultäten“, die bürgerliche „Festung Universität“ zu stürmen und das Bildungsprivileg zu brechen. Im Laufe der folgenden DDR-Generationen löste die „neue Intelligenz“ das „alte Bürgertum“ als Träger von Funktionen ab.
Ökonomisch hatte die Bodenreform nicht nur die Junker und Großgrundbesitzer entmachtet, sondern mit den Neubauern eine neue soziale Klientel geschaffen, die das System besonders eng an sich gebunden zu haben glaubte. Der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung und den von ihr ausgehenden gesellschaftlichen Distinktionen wurde die Basis entzogen, indem man die private Großindustrie enteignete, mittelständische Gewerbetreibende „sozialisierte“ und das Handwerk in Genossenschaften zusammenfasste. Damit war die abhängige Erwerbsarbeit zum gesellschaftlich dominanten Leitmodell erhoben: Unternehmer, kleine und mittlere Selbständige, Handwerker, Angestellte, aber auch die rhetorisch ständig beschworene Arbeiterschaft sollten im staatlich gewollten Sozialmodell der DDR zum Milieu der Werktätigen verschmelzen.
Bildungsbürgerliche Refugien
Soweit die Theorie, in der Praxis entwickelte sich auch in der DDR einiges anders: Standen den SED-Funktionären in politischen, ökonomischen und sozialen Belangen alle Steuerungsmechanismen zur Verfügung, um ihr Gesellschaftsexperiment zu realisieren und ihre Macht zu festigen, so fehlte ihnen in kulturellen Belangen der feste Stand und der Zugriff. Ein konsistentes und handlungsleitendes Konzept von einer „Kulturgesellschaft DDR“ hat es nicht gegeben. Selbst Partei- und Staatsführung griffen im Dilemma von drohender Amerikanisierung des Alltags wie im Westen und der Nivellierung durch den aus der Not geborenen proletarischen Habitus auf die immerhin bewährte „solide Bürgerlichkeit“ zurück und wirkten so – entgegen aller verbalen Forderung nach einem „sozialistischen Stil“ – auf der Ebene der Verkehrsformen vielmehr konservierend als revolutionär.
Solche Wirkungsmechanismen lassen sich über die bereits genannten Beispiele hinaus für die verschiedensten Bereiche nachweisen: für den Bau und die Einrichtung von Kulturhäusern, die als „Horte der Ordnung“ und „Salons der Sozialisten“ die bürgerliche Wohn- und Repräsentationskultur übernahmen und imitierten, ohne aber in der Lebenswelt der Zielgruppe der Werktätigen anzukommen; für die organisatorische wie auch inhaltliche Weiterführung einer regionalen Heimatbewegung, die den Lokalpatriotismus nur mühsam und ansatzweise rot übertünchte; für das Verhalten späterer DDR-Eliten, von denen sich führende Repräsentanten in ihren Lebens-, Denk-, Politik- und Handlungsstilen vor allem an den Eliten des Bürgertums orientierten und so die Ausbildung einer eigenen „sozialistischen“ Führungskultur konterkarierten.
Auch im Alltags- und Kulturleben waren Residuen von Bürgerlichkeit weithin sichtbar, die sich über die Generationen hinweg zu einer Kleinbürgerlichkeit verdichteten, die bis weit in die sozialistische Dienstklasse und Führungselite ausstrahlte. Wer Fotografien von der Waldsiedlung Wandlitz betrachtet, in der die Mitglieder des SED-Politbüros mit allen Privilegien der Spitzenelite wohnten, der bekommt rasch einen Eindruck von der kleinbürgerlichen Geschmacksmesalliance.
Wo die soziale Basis des Bürgertums weggebrochen war, da blieb mindestens eine Reminiszenz an die Bürgerlichkeit als Kulturform erhalten, die in mancherlei Hinsicht vielleicht sogar ausgeprägter war als vergleichbare Phänomene in Westdeutschland. Gerade wegen des politischen Außendrucks konservierte sich in schmalen Segmenten der Gesellschaft der Rekurs auf die Bürgerlichkeit, obwohl sich Lebensstilprägung und soziale Schichtung nicht mehr zur Deckung bringen ließen. Attraktiv war dabei weniger die Bindung an die bürgerliche Gesamtkultur des 19. Jahrhunderts, sondern vor allem die Funktion als Ausdruck von Opposition.
Stellvertretend dafür steht das „Pfarrhaus“: Diese dezidiert bürgerliche Institution des 19. Jahrhunderts repräsentierte auch in der DDR in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen eine Lebenswelt und eine politische Haltung, die der herrschenden Ideologie entgegenstand. Es waren gewissermaßen die utopischen Überschüsse des bürgerlichen Projekts, die sich einer vollständigen Funktionalisierung entzogen, die seine anhaltende Attraktivität ausmachten und die letztlich auch zu den mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln der friedlichen Revolution von 1989 gehörten.
Dass in den vergangenen Landtagswahlkämpfen in Brandenburg und Sachsen die Alternative für Deutschland mit dem Slogan „Vollende die Wende“ warb, steht in krassem Gegensatz zu dieser Schlussfolgerung. Nein, die AfD ist meilenweit davon entfernt, eine bürgerliche Partei zu sein. Wer in der Diktion von Gangstern spricht, wie es der Germanist Heinrich Detering neulich der AfD-Spitze nachgewiesen hat, kann das auch mit Tweedjacket und Perlenkette nicht überdecken.
Keine Frage des Habitus
Allerdings wäre es falsch, in Auseinandersetzung mit der AfD Bürgerlichkeit vor allem als Geschmacks- und Habitusfrage in Anschlag zu bringen: Ein besonderes Auftreten, gute Manieren, Affektkontrolle, eine bewusst gewählte Sprache – wo sich selbst beim AfD-Spitzenpersonal ein bürgerlicher Habitus nicht finden lässt, wird man auch in den Reihen der etablierten demokratischen Parteien oftmals nicht fündig. Und ebenso gilt, dass bürgerlicher Duktus und die damit verbundenen „feinen Unterschiede“ vor politischer Radikalisierung nicht schützen, im Gegenteil: Es waren ganz maßgeblich die Funktionseliten von Besitz und Bildung, die die Diktatur des Nationalsozialismus etablierten und entwickelten.
Ein Wettbewerb der guten Manieren ginge auch am Kern vorbei: Für heute ist Bürgerlichkeit nicht als Habitus von Bedeutung, sondern als politisches Gestaltungsmoment: Die Wertschätzung des Individuums, das Ideal von Mündigkeit und eines hohen Maßes von Selbstverantwortung verbindet sich in den besseren Teilen bürgerlichen Denkens mit dem Anspruch auf und der Verpflichtung zu politischer Teilhabe, die dann auf das Gemeinwohl aller zielt. Auf der Folie eines solchen inklusiv gedachten politischen Begriffs von Bürgerlichkeit scheint dann umso deutlicher hervor, dass die AfD nicht bürgerlich und der Osten nicht unbürgerlich ist.
Prof. Dr. Thomas Großbölting, RC Münster-St. Mauritz, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Werken gehören „SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit, und Entbürgerlichung in Halle“ (Mitteldeutscher Verlag) sowie „Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand (Chr. Links).
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