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Entgrenzung der Erinnerung
75 Jahre Kriegsende: Wie und woran erinnern wir uns? An die Niederlage oder an die Befreiung? Zum Wandel des historischen Blicks.
Vom Zweiten Weltkrieg ist in diesen Tagen der Unsicherheit öfter die Rede. Das Jahr 1945 dient dem Vergleich: Seit dem Krieg habe es keine so tief greifende Einschränkung des öffentlichen Lebens mehr gegeben, hört man. Wie zuletzt in der Kriegswirtschaft stellen Firmen die Produktion um und fabrizieren Mundschutz-Masken statt Unterwäsche. Mitten in die Pandemie fällt dann noch der 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa. Der Kulturbetrieb reagiert und erinnert mit virtuellen Ausstellungen und digitalen Projekten an das Ende der Gewaltherrschaft und die Befreiung vom Nationalsozialismus.
So andersartig diese Formen öffentlicher Erinnerung auch erscheinen mögen: Dass unser Blick auf Zurückliegendes durch die Zeitumstände geprägt wird, ist ja nicht neu. Gesellschaftliche Entwicklungen haben unser Bild vom Kriegsende stets ebenso geprägt wie geschichtswissenschaftliche Trends. Diesen Gegenwartsbezug, der auch kollektive Identitätsangebote umfasst, umschrieb Reinhart Koselleck prägnant als Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Damit ist auch klar: Die Erinnerung an 1945 hat selbst eine Geschichte.
Der Fokus damals und heute
In den 1980er und 1990er Jahren interessierten sich Historiker in erster Linie für zwei Fragen: „Welche Auswirkungen hatte der Krieg auf die Gesellschaft?“ lautete die erste. Sie ging zum einen auf sozial- und kulturgeschichtliche Impulse der Zeitgeschichte zurück. So ging es beispielsweise um die Erfahrungen der Soldaten und der Zivilbevölkerung, um die nationalsozialistische Propaganda oder den Einsatz von Zwangsarbeitern. Zugleich wurde darüber debattiert, wie sinnvoll es sei, die Geschichte beider Weltkriege gemeinsam in den Blick zu nehmen. Die einen sprachen von einem zweiten Dreißigjährigen Krieg und einem „Zeitalter der Weltkriege“. Andere hielten dagegen und pochten darauf, dass die Ermordung der europäischen Juden einen einzigartigen Zivilisationsbruch darstellte, der in einem erweiterten Bild der Weltkriege nicht an den Rand geraten dürfe. Schließlich prüften international vergleichende Studien, wie sich die Kriegführung bis 1945 radikalisiert hatte und inwieweit man in einem Land von einem „totalen Krieg“ sprechen konnte. Die Mobilisierung von Frauen zum Beispiel war ein Anhaltspunkt. Während es also einerseits darum ging, den Zweiten Weltkrieg aus einer spezifisch deutschen Geschichte zu erklären, kreiste das Interesse andererseits um die länderübergreifenden Ausformungen des Krieges.
Die zweite Frage lautete: Wie verbrecherisch war der Krieg, den die Wehrmacht in Ost- und Südosteuropa geführt hat? Eine Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die von 1995 bis 1999 lief, hatte sie auf die Tagesordnung der Republik gesetzt. Schon in ihrem Titel – „Verbrechen der Wehrmacht“ – sahen viele eine Provokation. Zu lange hatte die Legende von der „sauberen Wehrmacht“ nachgewirkt, die zwischen einer verbrecherischen SS und den ganz normalen Streitkräften trennte, als hätten diese mit dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg nichts zu tun gehabt. Diese Debatte, die im März 1997 den Deutschen Bundestag erreichte, knüpfte an den nationalgeschichtlichen Ansatz an. Um zu klären, warum „ganz normale Männer“ im Krieg verbrecherisch handelten, mussten ihre Lebensläufe und Sozialisationsbedingungen ausgeleuchtet werden. In der Forschung war vielen Kriegsverbrechen längst bekannt; dank der Ausstellung, der 2001 bis 2004 eine zweite, überarbeitete folgte, gehören sie seitdem zum kollektiven Wissen. Damit hatte sich das Bild des Krieges, an den sich die Deutschen an den Jahrestagen der Kapitulation erinnerten, deutlich verändert.
Freiheit dank Kapitulation
Zu den älteren, aber bis heute weiter schwelenden Deutungskontroversen gehört die Gretchenfrage der Erinnerung an das Kriegsende: War der 8. Mai 1945 ein Tag der Niederlage oder der Befreiung? Jahrzehntelang hatte das Kriegsende hierzulande, als nationale Katastrophe verstanden, vor allem an die deutschen Opfer erinnert – und weniger an die Opfer der Deutschen. Das stand im Einklang mit vielen persönlichen Erfahrungen, war aber auch als Entlastungsstrategie willkommen. In seiner Rede zum 40. Jahrestag 1985 wechselte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Blickrichtung: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Als eine „Befreiung“ der Deutschen vom Faschismus hatte bislang vor allem das SED-Regime das Kriegsende und den Sieg der Roten Armee gedeutet – für viele Bundesbürger ein Grund mehr, den Begriff zu meiden. Weizsäcker gab einen neuen Ton vor, der vor dem Hintergrund des westdeutschen Weges in die Demokratie die bedingungslose Kapitulation als Voraussetzung der Freiheit verstand. Für die Ostdeutschen galt das bis 1990 nicht. Was Hannah Arendt auf Revolutionen gemünzt hatte, gilt auch hier: dass die „Befreiung tatsächlich eine Bedingung von Freiheit“ ist, dagegen „Freiheit keineswegs zwangsläufig das Ergebnis von Befreiung“. Zu ergänzen wäre noch, dass die Deutschen ihre Befreiung nicht sich selbst, sondern den Alliierten zu verdanken hatten.
Verschiedene Kriegsenden
Seitdem hat sich das Rad der Erinnerungsgeschichte weitergedreht. Tendenzen der Forschung, politische Entwicklungen und gesellschaftliche Interessen haben den Blickwinkel, aus dem wir auf das Kriegsende 1945 zurückschauen, erneut verschoben. Sicher, es gibt weiterhin den verständlichen Wunsch, mehr über die „eigene“ nationale Geschichte des Kriegsendes zu erfahren. So haben Historiker die Endphase des Krieges 1944/45 als einen besonderen Untersuchungszeitraum abgesteckt und etwa die beispiellose Selbstmordwelle untersucht, aber auch die sogenannten Endphasenverbrechen der Nationalsozialisten, die Ermordung von Fahnenflüchtigen, Kriegsgefangenen und KZ-Insassen.
Neu im Angebot der Erinnerung an 1945 ist dagegen ihre Entnationalisierung. Befeuert durch den Globalisierungsprozess, dominiert die Globalgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft spätestens seit der Jahrtausendwende den historischen Blick. Eine deutsche Geschichte scheint nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen dreht sich alles um grenzübergreifende Interaktion, um das Zusammenspiel historischer Entwicklungen jenseits des Nationalstaats. So wird beispielsweise der 8./9. Mai 1945 als ein deutsch-polnischer Fixpunkt kollektiver Erinnerung, als „Erinnerungsort“, von beiden Seiten beleuchtet.
Nicht zuletzt rückt jetzt die Pluralität der Kriegsenden mehr und mehr ins historische Bewusstsein. Die Potsdamer Konferenz 1945 zeigt, um was es geht. Als sich vor 75 Jahren der amerikanische Präsident Harry S. Truman, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Staatschef Josef Stalin im Schloss Cecilienhof trafen, stand ja nicht nur der Umgang mit dem besiegten Deutschland und die Einteilung Europas in Interessensphären auf der Tagesordnung. Die „Großen Drei“ befassten sich auch mit dem Krieg in Ostasien, der unvermindert weitertobte, während in Europa die Waffen schwiegen. Mit der japanischen Invasion Chinas hatte der Krieg hier im Juli 1937 begonnen.
In Potsdam-Babelsberg entschied Truman, die Atombombe einzusetzen, um Japan in die Knie zu zwingen. Dass eine neue Ausstellung im Schloss Cecilienhof den pazifischen Kriegsschauplatz einbezieht, zeugt beispielhaft von dem Bemühen um den globalen Blick auf die Kriegsenden.
Verständnis für die anderen
Tatsächlich ist der Plural angezeigt. Schaut man über den Tellerrand der nationalen Erinnerung hinaus, wird rasch deutlich, dass der Krieg nicht, zumindest nicht nur, am 8. Mai 1945 vorbei war. Ganz abgesehen von dem lokalen Gedächtnis, das wie in Köln die Zerstörung der Stadt mit dem Zusammenbruch verbindet, endete der Krieg allein in den besetzten Ländern Europas zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Paris feierten die Menschen am 25. August 1944 die Ankunft der Alliierten; für Italien war der 25. April 1945 der Tag der Befreiung, als die Partisanen die Kontrolle über die Großstädte übernahmen; in der Sowjetunion wurde der Sieg offiziell am 9. Mai verkündet und gefeiert. Die Vereinigten Staaten erklärten den 15. August 1945, den Tag der japanischen Kapitulation, zu ihrem Siegestag. Die unterschiedlichen Gedenk- und Feiertage spiegeln verschiedene Erfahrungen wider.
Der weltgeschichtliche Blick auf das Kriegsende leuchtet zunächst ein, weil er unsere Erfahrungen einer globalisierten Welt aufgreift, Eurozentrismus überwindet und der weltweiten Verflechtung des Weltkrieges wie selbstverständlich Rechnung trägt. Doch die Deutung, dass der Krieg 1937 von Japan entfesselt wurde, sich von Ostasien aus zu einem Weltkrieg auswuchs und im August 1945 endete, riskiert Verzerrungen. Der Einmarsch der Wehrmacht und der SS-Einsatzgruppen in Polen 1939 erscheint lediglich als ein weiterer Akt des Dramas, was der Bedeutung der nationalsozialistischen Eroberungspläne nicht gerecht wird. Darüber hinaus verlören Ereignisse, die für den europäischen Kriegsschauplatz maßgeblich waren, an Bedeutung: namentlich die als Anfang vom Ende der NS-Herrschaft gefeierte Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 und eben der Sieg der Roten Armee im Mai 1945.
Schließlich ist der globale Blick nur um den Preis der Unschärfe im Nahbereich zu haben. Die Fragen nach Ursachen und Folgen verweisen auf die nationale Pfadabhängigkeit der Geschichte. Wer wissen will, wie es zum 8. Mai 1945 kam, muss bis zum 30. Januar 1933 zurückgehen, mindestens. Die Geschichte des Kriegsendes lässt sich ohne seine Vorgeschichte nicht ernsthaft erzählen – und die liegt nicht im pazifischen Raum. Zum Glück schließen sich global- und nationalgeschichtliche Erinnerungen an das Kriegsende nicht aus. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit von 1945 im eigenen Land lässt sich als Bedingung für die Entgrenzung der Erinnerung verstehen: für einen historischen Blick aus der Vogelperspektive, der Verständnis für die Erfahrungen und Wahrnehmungen der anderen weckt. Digitale Projekte tragen zu dieser Annäherung bei, nicht nur in Zeiten der räumlichen Distanzierung.
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Jörg Echternkamp ist Wissenschaftlicher Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozial- wissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universi- tät Halle-Wittenberg. Im Mai 2019 war er Gastwissenschaftler an der Hebräischen Universität von Jerusalem.