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Magische Orte

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Grabkammer der Difunta Correa, Schutzheilige der Reisenden und Autofahrer, Vallecito, Provinz San Juan, Argentinien © Mauritius Images / Watchtheworld / Alamy

Ein neues Buch erzählt die Geschichten von 40 seltsamen religiösen Orten. Es ist geschrieben, aber nicht zu Ende – und möchte zum Entdecken und Nachdenken anregen.

Johann Hinrich Claussen01.11.2020

Die Zeit ist günstig für Reiseliteratur. Frau Corona hat Ausflüge in ferne Länder unmöglich gemacht. Wer dennoch Weltneugier in sich spürt, kann zu einem alten Ersatz greifen und mit einem Reisebuch zu Entdeckungsfahrten aufbrechen. Das konnte ich nicht wissen, als ich im vergangenen Jahr ein Buch geschrieben habe, das jetzt, nach dem Epochenbruch „Covid-19“, erschienen ist. Es sucht einen anderen Zugang zur „Sache mit Gott“, nicht über Glaubenslehren, sondern über interessante, befremdliche, erschreckende oder anrührende Glaubensorte. Die Welt ist ja voller Religion, ob es einem gefällt oder nicht. Und Religionen sind ohne ihre Landschaften nicht zu denken: Berge, auf deren Gipfeln die Götter wohnen, Flüsse, deren Wasser ewiges Leben spendet, riesige Steine, die vom Himmel gefallen sein müssen, Quellen, die Sünden abwaschen, Gräber von Urahnen, an denen man Heilung erfahren kann. Solche religiösen Orte sind faszinierend, denn sie stellen mitten auf dieser Erde ein Stück der Überwelt dar. Die allermeisten von ihnen kann man bis auf weiteres nicht besuchen – hoffentlich ist mein Buch da ein kleiner Ersatz.

Auf der Spur der "Kryptojuden"

Beim Schreiben habe ich mit zwei Orten begonnen, mit denen ich ein eigenes Erleben verbinde. Auf einer Reise durch den Norden Portugals kamen wir nach Belmonte, ein verträumtes Bergstädtchen, wie es dort viele gibt – wären da nicht diese an Hauswände geritzten hebräischen Schriftzeichen. Seltsam, im katholischen Nordportugal. Sie zeigen, dass Belmonte anders ist als alle Nachbarortschaften. Denn hier lebten und leben „Kryptojuden“. Vor einem halben Jahrtausend mussten Juden aus Spanien fliehen. In Belmonte fanden einige von ihnen eine neue Heimat. Unter dem Anschein des Katholischen konnten sie ihre Religion bewahren. Heute müssen sie sich nicht mehr verstecken oder als Katholiken ausgeben. 1989 wurden sie endlich als Religionsgemeinschaft anerkannt. 1996 bekamen sie eine eigene Synagoge, ein öffentlich sichtbares Haus für ihren Glauben, einer der wenigen Neubauten des Ortes.

Der andere Ort ist weiter entfernt. Nach meinem Theologiestudium habe ich ein Jahr lang in Argentinien als „Hilfspastor“ gearbeitet. Sofort waren mir die Haufen von Wasserflaschen an Landstraßen und Tankstellen aufgefallen. Als in säuberlicher Müllentsorgung geübter Deutscher erkannte ich darin zuerst nur eine Umweltverschmutzung. Doch dann entdeckte ich kleine Schreine am Wegesrand, und mir fielen Aufkleber an ungezählten Lastwagen auf. Sie alle gehören zum Kult der Difunta Correa, der inoffiziellen Heiligen der argentinischen Lastwagenfahrer und Reisenden. In Vallecito, einem Flecken im wüstenhaften Nordwesten des Landes, hat sie ihr zentrales Heiligtum. Dieser Kult gründet auf einer Legende. 1841, in Argentinien herrschte wieder ein Bürgerkrieg, da rannte eine junge Frau namens María Antonia Deolinda y Correa in die Wüste. Ihr Mann war verschleppt worden. Sie eilte ihm nach, ohne Proviant oder Wasser mitzunehmen. Nur ihr neugeborenes Kind trug sie in den Armen. Bald war sie so erschöpft, dass sie sich unter einen Baum legte und verdurstete. Einige Tage später entdeckten Gauchos die beiden. Die Mutter tot – aber das Kind, es lebte! Es lag an der Brust seiner Mutter. Über ihren Tod hinaus hatte die „verstorbene Correa“ es gestillt.

Auf dieses erste Wunder sollten unendlich viele folgen. Bis heute bitten Arme sie um ihre Hilfe: auf Reisen, für Prüfungen und Sportwettbewerbe, bei Ehewünschen. Nach größeren Gnadenerweisen hat man sie zu besuchen. So wurde Vallecito zum „argentinischen Mekka“. Im Jahr sollen es eine Million Besucher sein. Sie alle haben die Difunta Correa um etwas gebeten, ihr Wunsch wurde erfüllt, nun bringen sie eine Gegengabe: Autos, Motorräder, Sportpokale, Hochzeitskleider. Wer das bizarr findet, sollte sich auf Youtube einige der Clips ansehen, in denen diese Pilger ihren Glauben an die Difunta Correa bekennen und von deren Wundern erzählen – Zeugnisse einer fremdartigen, aber auch anrührenden Volksfrömmigkeit.

Nicht alle der fast 40 seltsamen religiösen Orte habe ich selbst besucht – das Budget des Verlages und die Urlaubsregeln meiner Kirche gaben das leider nicht her. Aber fast für jeden habe ich eine ortskundige Person aufgetan. Mit ihrer Hilfe erforschte ich die Millionenwallfahrten von Kerbala oder Allahabad, besuchte die von Muslimen und Juden gemeinsam genutzte Höhle der Patriarchen von Hebron, betrauerte die zerstörten Schreine der Uiguren in Xinjiang und die vernichteten Kirchen im syrischen Al-Raqqa, erkundigte mich über den hochinteressanten Religionskonflikt auf dem 4205 Meter hohen Mauna Kea auf Hawaii, oder staunte über die Schönheit des Moos-Tempels von Kokedera. An meine Grenzen brachte mich allerdings der Rattentempel von Deshnok, denn ich leide unter einer Nager-Phobie. Zum Glück war unser jüngster Sohn bereit, die Youtube-Recherche zu übernehmen. Aber auch in Deutschland bin ich auf manche Seltsamkeit gestoßen: auf den Tierfriedhof von Hamburg-Jenfeld, die Externsteine, einen Kult-Ort für Rechtsextreme bei Detmold, auch mein lieber Kirchentag erschien mir im globalen Vergleich nun als ein ziemlich erstaunlicher „Ort“.

Einzigartiger Ort des Friedens

Und was ist mein liebster Seltsamkeitsort? Es ist die Lagerkapelle des Grenzdurchgangslagers Friedland – die unscheinbarste Kirche Deutschlands. Sie ist in ihrer äußeren Gestalt nur eine Baracke: ein lang gestreckter Bau aus weiß getünchtem Holz, eine Notkirche neben Notunterkünften. Aber unfassbare Schicksale hat sie in sich aufgenommen, ein Ort des seelischen Ein- und Ausatmens für vertriebene und geflohene Menschen. Zunächst für die Millionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mittel- und Osteuropa kamen. Danach für Ungarn, Sinti und Roma, Chilenen, vietnamesische Boat-People, DDR-Flüchtlinge, Russlanddeutsche, jüdische Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, Syrer, Iraker und Afghanen, Sudanesen. Immer noch ist das Grenzdurchgangslager Friedland in Betrieb, ebenso wie dessen Lagerkapelle. Zweimal in der Woche hält der Lagerpastor gemeinsam mit einem syrisch-armenischen Diakon Abendandachten. Christen sehr unterschiedlicher Konfessionen, aber auch Muslime nehmen an ihnen teil – in dieser armen und doch so wohltuenden Kapelle, einem einzigartigen Ort des Friedens. Denn meines Wissens gibt es in keinem der vielen Flüchtlingslager unserer Zeit etwas Vergleichbares.

Wenn man aber bedenkt, dass die Mehrheit der globalen Fluchtbevölkerung – im Unterschied zu den sesshaften Wohlstandseuropäern – sehr religiös eingestellt ist, sollte man einmal darüber nachdenken, ob man nicht auch Lagerkirchen, -tempel und -moscheen errichten sollte – als sichere Orte für Gebet und Seelsorge. Nun ist mein Buch gedruckt, und ich bin gespannt, welche Reaktionen es geben wird. Hoffentlich werden viele sagen, dass dieser oder jener höchst seltsame religiöse Ort fehlt. Deshalb wollte ich ein Buch schreiben, das nicht zu Ende ist, wenn man seine letzte Seite gelesen hat – denn dann sollte das eigene Suchen und Finden der Leser erst beginnen.


Buchtipp

 

Johann Hinrich Claussen,

Die seltsamsten Orte der Religionen: Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen

C.H. Beck, 2020,

240 Seiten, 20 Euro

chbeck.de

Johann Hinrich Claussen
Dr. Johann Hinrich Claussen (RC Hamburg) ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Der Theologe schreibt regelmäßig Beiträge für überregionale Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. Zudem hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht und verfasst regelmäßig seinen Blog Kulturbeutel bei Chrismon. ekd.de