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Evangelische Gläubige beim Kirchentag: Übermaß von Selbstgewissheit oder eigentümliche Verzagtheit? © Michael Debets/Pacific Press /ddp images

Warum sich die evangelische Kirche aus den aktuellen Debatten unserer Gesellschaft nicht heraushalten kann

Johann Hinrich Claussen01.06.2018

Da eine solche Unsicherheit schwer auszuhalten ist, reagieren viele sie lieber aggressiv ab, flüchten sich in Wut und Skandalisierung, nehmen sie lieber polemische Abkürzungen, als ernsthaft nachzudenken. Der Zeitgeist ist offenkundig auf Krawall gebürstet, was Empörungspublizisten von links wie rechts auszunutzen wissen.

Die evangelische Kirche sollte auf dieser trüben Welle nicht mitsurfen, sondern sich für Sachlichkeit, Fairness und Verständigung einsetzen. Klischees haben es an sich, zugleich sowohl richtig wie auch falsch zu sein. Sie bewahren Erfahrungswissen auf, verspielen dessen Wahrheitsgehalt aber durch unbedachte Verallgemeinerung. Deshalb ist es nötig, sie regelmäßig zu überprüfen. Zum Beispiel das Klischee vom politisierten Protestantismus: Spirituell entkernt, suche er sein Heil in der Politik und spiele sich als moralischer Besserwisser auf, um seinen Glaubensmangel zu verbergen.

Natürlich kann man für dieses Klischee einzelne Belege finden. Es soll ja schon vorgekommen sein, dass ein Pastor einen nur halb durchdachten Leitartikel von der Kanzel verlesen oder eine Bischöfin eine unbedachte Äußerung zur Tagespolitik getätigt hat. Doch was ist damit ausgesagt? Wer die Gegenwart genauer betrachtet und über etwas kirchengeschichtliche Bildung verfügt, dem bietet sich ein anderes Bild.

Schlachten der Vergangenheit
In den 1970er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte die evangelische Kirche eine heftige Polarisierung erfasst: junge Linke gegen alte Rechte. Unduldsamkeit bestimmte viele Äußerungen. Besonders die Kirchentage dieser Zeit waren nicht eben Orte des herrschaftsfreien Diskurses. Zur ganzen Wahrheit jedoch gehört, dass dieser Konflikt ein Recht hatte. Eine neue Generation trat gegen Kirchenleitungen an, die oft noch nationalprotestantisch geprägt waren.

Die damaligen Leitungsfiguren sind inzwischen vergessen – auch, dass sie auf den Generationenprotest nur disziplinarrechtlich zu reagieren wussten. Doch auch die Protagonisten des damaligen Protest-Protestantismus sind längst im Ruhestand. Diese Epoche der Kirchengeschichte ist vorbei. Im Vergleich zu früher erscheint die evangelische Kirche heute als fast schon entpolitisiert. Kaum jemand tritt mehr mit dem Völlegefühl auf eine Kanzel, die einzig mögliche Wahrheit zu verkünden, oder spricht den Anhängern anderer Meinungen das Christ-Sein ab.

In kirchlichen Debatten wird mehr gefragt und gesucht als verkündigt und behauptet. Wenn etwas bedenkDazu muss sie sich grundsätzlich auf ihre gesellschaftliche Aufgabe besinnen. In Deutschland sind Staat und Religion getrennt. Die evangelische Kirche ist keine Partei und hat keine Macht. (Kleine Testfrage am Rande: Welche politische Entscheidung der vergangenen dreißig Jahre wurde aufgrund einer kirchlichen Meinungsäußerung getroffen?) Zugleich ist sie Teil der Polis, gehört sie zur Gesellschaft.

Hier, im öffentlichen Raum zwischen dem Staat und dem Privatem, wird über drängende Gegenwartsfragen diskutiert. Es ist ein Charakteristikum deutscher Religionskultur, dass die evangelische Kirche dabei als zivilgesellschaftlicher Akteur mitwirkt. Sie erhält die Chance, gut hörbar ihre Anliegen zu vertreten.

Obwohl dies von ganz links und neuerdings von ganz rechts bekämpft wird – da sind sich Teile der LINKEN und der AfD erstaunlich einig – gibt es Gründe anzunehmen, dass diese deutsche, liberale Religionskultur sinnvoller ist als ein doktrinärer Laizismus. Für die evangelische Kirche heißt dies, dass sie die Aufgabe hat, öffentlich für eine christliche Humanität einzutreten und für eine Balance aus Nüchternheit und Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Besonnenheit zu werben.

Zweierlei Versuchung
Sie versucht damit das umzusetzen, was Immanuel Kant in seinem Spätwerk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) skizziert hat. In kritischer Fortschreibung reformatorischer Einsichten forderte er, dass die Kirchen keine Heilsanstalten oder Nebenregierungen sein sollten, sondern „ethisch-bürgerliche Gesellschaften“. Als religiös-ethische Zwischen-Institutionen gestalten sie den öffentlichen Raum so, dass eine freie ethische Urteilsbildung entsteht.

Die evangelische Kirche versteht sich als „Institution der Freiheit“. Dazu muss sie zwei Versuchungen widerstehen. Erstens der „katholischen“ Versuchung, als Institution höherer Ordnung und Sprachrohr unfehlbarer Wahrheit aufzutreten (so wird sie allerdings oft von den Medien dargestellt). Zweitens der „puritanischen“ nachdenklich, uneitel und – wenn möglich – in längeren, ausgereiften Texten oder Reden vertritt. Dafür gibt es übrigens einige gute Beispiele aus jüngerer Zeit.

Es ist deshalb sehr die Frage, ob das in einigen Kreisen allzu beliebte Protestantismus-Bashing eigentlich fair ist. Man sollte sich gut überlegen, ob man in diesen Chor einstimmen sollte. Denn vielleicht dient das Klischee von der ach so politisierten evangelischen Kirche bei einigen auch dem Ziel, durch Dauerskandalisierung eine für Deutschland wichtige Institution zu delegitimieren.

Man bedenke nur diese oft übersehene Qualität der gern geschmähten Volkskirche: Wie wenige andere Institutionen umfasst sie sehr verschiedene Menschen aus Stadt und Land, Ost und West, reich und arm, alt und jung, männlich und weiblich, konservativ und liberal, Reeder Versuchung, als Gemeinschaft der Besserwisser und Bessertuer aufzutreten, die moralisch stets auf der rechten Seite stehen. Diese Versuchungen sind freiheitsfeindlich, weil sie gegen Kritik von außen immunisieren und nach innen Gesinnungsdruck produzieren.

Evangelisches Bürgertum
Erstaunlich viel wird auch heute noch von der evangelischen Kirche erwartet. Das ist erfreulich, leider bleibt oft im Unklaren, wer was tun soll. Meist schaut man auf die höchsten Würdenträger. Aber haben wirklich allein die Bischöfe die Aufgabe, in der Öffentlichkeit für christliche Humanität einzutreten? Früher waren es vor allem engagierte Bürger – nachdenkliche Politiker oder engagierte Intellektuelle –, die den Protestantismus mit Debattenbeiträgen repräsentierten.

Mir scheint, dass das eigentliche Problem der evangelischen Kirche heute weniger in einer polarisierenden Politisierung besteht als eher in einer Art Scheinpolitik. Um sich in einer überdrehten Mediengesellschaft überhaupt noch Gehör zu verschaffen, ist man versucht, mit verkürzten Statements oder Talkshow-Plattitüden auf sich aufmerksam zu machen.

Doch der eigenen Aufgabe wird man eher gerecht, indem man die evangelische Sache und Umweltschützer, Flüchtlingsaktivist und Polizistin. Das ist oft anstrengend, aber auch eine wunderbare Chance; vor allem dann, wenn man mit dieser Unterschiedlichkeit gemeinsam Gottesdienst feiert, sich vor dem Horizont des Ewigen versammelt, dabei sich selbst relativiert und im anderen ein Kind Gottes entdeckt. Das ist eine schöne Frömmigkeitsübung, die allerdings einer gewissen Regelmäßigkeit bedarf, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Widersprüchliche Erwartungen
Eine erbauliche Geschichte zum Schluss: Vor zwei Jahren saß ich Anfang Januar mit Kollegen zusammen. Wir tauschten uns über unsere Weihnachtsgottesdienste aus. Da sagte einer: „Mir ist etwas Seltsames passiert. Am Tag vor Heiligabend hat mir ein Mann zwei wütende E-Mails geschrieben: Ich sollte es nicht wagen, in der Christmette über Pegida zu predigen! Sonst würde ich was erleben! Dabei wollte ich doch nur über die Weihnachtsgeschichte predigen.“

Darauf ein anderer: „Bei mir war es genau anders herum. Ich habe Heiligabend über die Weihnachtsgeschichte gepredigt und bekam am nächsten Morgen die zornige E-Mail einer Frau: Ich hätte ja überhaupt nicht über Pegida gepredigt! Das ganze Weihnachtsfest hätte ich ihr verdorben!“

Johann Hinrich Claussen
Dr. Johann Hinrich Claussen, RC Hamburg, ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Der Theologe und Autor schreibt regelmäßig Beiträge für Medien wie die „FAZ“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Spiegel“.