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Mit Fontane auf Spurensuche

Forum - Mit Fontane auf Spurensuche
Als Gast und mit Blick in den Garten der Schlossherrin Henriette Charlotte von Itzenplitz schrieb Adelbert von Chamisso sein Werk „Peter Schlemihl“. Das kleine Denkmal unweit der Kirche erinnert daran. © EKD Kultur/Andreas Schoelzel

Zwölf Kirchen, drei Routen, ein Ziel: Ein Streifzug mit Theodor Fontane durch die Mark Brandenburg öffnet den Blick für alte und neue Geschichten.

Johann Hinrich Claussen01.10.2019

Bedeutsame Jubiläen beweihräuchern nicht etwas Vergangenes, sondern eröffnen einen frischen Blick auf die Gegenwart. Das ist die große Chance des Fontane-Jahres 2019. Es wird ja gegenwärtig erregt über die Sprachlosigkeiten zwischen West- und Ostdeutschen diskutiert. Da wird viel geklagt und angeklagt. Wie viel aber wäre gewonnen, wenn man sich überhaupt erst einmal kennenlernen würde? Regelmäßig zeigen ja Befragungen, wie erschreckend wenig Westdeutsche jemals in den immer noch neuen Bundesländern waren. Fontane ist auch deshalb ein so wunderbar lebendiger Klassiker, als er immer noch dazu inspiriert, sich mit ihm auf Wanderschaft zu begeben und die eigene, fremde Heimat zu erkunden: die Landschaften zu betrachten, die Städte und Dörfer zu besuchen, die Schlösser und Kirchen zu entdecken.

Klaus-Martin Bresgott und ich haben ein Buch veröffentlicht, das sich von Fontane zu Kirchen der Mark Brandenburg, ihren Städten und Dörfern führen lässt. Es ist kein Kirchenführer herkömmlicher Art. Auf drei Routen durch das Ruppiner Land, das Havel-Land und den Oderbruch besucht es jeweils vier Kirchen und die Menschen, die sie öffnen. Dabei erinnert es daran, was Fontane damals über sie zu berichten wusste, macht sich aber auch – in der Nachfolge dieses großen Journalisten und Erzählers – selbst auf die Suche nach neuen Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, weil sie das Leben dieser Kirchen und ihrer Gemeinwesen jetzt bestimmen. So gewinnt man einen ganz anderen Eindruck von dem, was unsere gemeinsame Heimat heute ist. Was es da alles zu entdecken gibt, sei an einem Beispiel zeigt, das die allerwenigsten kennen dürften.

Kunersdorf im Oderbruch
Es ist mehr als nur ein Spiel mit Worten, wenn man im Oderbruch ins Grübeln über Lebensbrüche gerät. Auch andernorts weiß man von den immensen Überflutungen, die regelmäßig über das erst im 18. Jahrhundert trockengelegte Feuchtgebiet gekommen sind und so vieles zerstörten, was Menschen sich aufgebaut hatten. Weniger bekannt ist, wie verheerend der Zweite Weltkrieg hier in seinen letzten Tagen getobt hat. Eine der letzten, überaus harten und vollkommen sinnlosen Schlachten zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht kostete ungezählte Menschen das Leben, die Felder des Oderbruchs waren mit Leichen übersät. Ortschaft um Ortschaft wurde zerstört, so auch Kunersdorf. Die Bevölkerung war zu großen Teilen nach Mecklenburg evakuiert worden. Als sie im Juni und Juli 1945 zurückkehrte, fand sie ihre alte Heimat nicht mehr vor. Das Schloss mit seinem Gutsgebäude und die Kirche waren schwer beschädigt, ausgebrannt ebenso wie viele Scheunen und Wohnhäuser. Auf diese erste folgte bald eine zweite Zerstörung. Der neue, von den Sowjets eingesetzte Bürgermeister ließ Schloss und Kirche unter dem Vorwand abbrechen, es würden Steine gebraucht. Doch in Wahrheit ging es ihm nicht um Wiederaufbau, sondern um den endgültigen Systembruch. Was vorher das Leben in Kunersdorf geprägt hatte, sollte nicht mehr sein. Wer heute nach Kunersdorf kommt, wird kaum etwas entdecken, das an das alte Schloss erinnert. Wo früher die Kirche war, steht heute das Feuerwehrhaus.

Wer wissen möchte, was es hier früher einmal gab, kann dies bei Fontane nachlesen. In seinen „Wanderungen“ bezeugt er den unerhörten geschichtlichen Reichtum dieses kleinen, abgelegenen Ortes, der allen Klischees über reaktionäre „Junker“ widerspricht. Begründet hat ihn eine Frau, die Frau von Friedland. So nannte sich Helene Charlotte von Lestwitz nach ihrer Scheidung und Befreiung aus einer unglücklichen Ehe. Dieser persönliche Lebensbruch sollte zum Anfang eines Wunders werden. Im Jahr 1788 zog Frau von Friedland nach Kunersdorf, um im Schloss mit ihrer Tochter Henriette Charlotte, der späteren Gräfin von Itzenplitz, zu leben und sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ein Jahr vor der Französischen Revolution übernahm sie den landwirtschaftlichen Betrieb und unterzog ihn einer Reform, die man revolutionär nennen könnte, wenn sie nicht so unblutig verlaufen wäre.

Eine ganz eminente Frau
Zeitgenossen, so Fontane, nannten sie „eine seltene und ganz eminente Frau“, „eine wahre Mutter ihrer Untergebenen“, „nicht bloß eine Landwirtin, sondern eine höchst geistreiche und in allen Dingen unterrichtete Frau“, überhaupt „eine der merkwürdigsten Frauen, die je existiert haben“. Fontane hob auch „ihr Organisations- und Erziehungstalent“ hervor sowie „ihre Gabe, Leute aus dem Bauernstande zu treuen und tüchtigen Verwaltern, Förstern und Jägern heranzubilden“, und setzte dieser Aufklärerin mit nur zwei Sätzen ein Denkmal: „Durch Umsicht, Sorgsamkeit und Anspannung aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel den Reichtum des Bruchbodens gefördert und seine Naturkräfte lebendig gemacht zu haben, wird immer ein besonderes und nicht zu überschätzendes Verdienst dieser ausgezeichneten Frau bleiben. Was sie tat, wurde Beispiel, weckte Nacheiferung und wurde, wie ihr zum Nutzen, so dem ganzen Landesteile zum Segen.“ Doch dieses schöne Leben sollte jäh abbrechen: „Sie starb noch nicht 49 Jahr alt am 23. Februar 1803 infolge einer heftigen Erkältung, die sie sich zu rascher Hülfe herbeieilend, bei einem, in der Nähe von Cunersdorf ausgebrochenen Feuer zugezogen hatte.“

Kein Dorf ohne Kirche
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde fast alles, was an die Frau von Friedland und ihre Tochter erinnerte, dem Boden gleichgemacht. Doch es blieb nicht beim Abbruch. Die Kunersdorfer bauten eine neue Kirche. Mit Unterstützung der Kirchenleitung von Berlin, vor allem mit großem Gemeinsinn und hartnäckigem Behauptungswillen machten sie sich an die Arbeit: die alten und die neuen Einwohner. Nach dem Krieg wurden hier fast so viele Flüchtlinge, wie es Alteingesessene gab, angesiedelt. Die meisten von ihnen waren fromme Katholiken aus Schlesien, die sich ein Dorf ohne Kirche nicht vorstellen konnten, selbst wenn sie einer anderen Konfession gehörte. Schon 1951, mitten im Stalinismus, begann das Bauen. Viel geschah in Eigenarbeit: Fundament ausschachten, Steine auf- und abladen, Holz spenden und anliefern. Die alten, protestantischen, und die neuen, katholischen Kunersdorfer taten dies gemeinsam. Wenn es das Wort damals schon gegeben hätte, hätte man dies ein Integrationsprojekt nennen können. Es wurde übrigens auch mit List und Tücke betrieben, die Staatswirtschaft hielt ja wichtige Baustoffe zurück. So fuhr der Pfarrer mehrfach mit seinen Konfirmanden nach West-Berlin, um heimlich in den Rucksäcken versteckt Nägel für die Kuppel nach Hause zu schmuggeln. Pfingsten 1955 war es dann so weit: Die Kirche konnte von Bischof Otto Dibelius eingeweiht werden.

Als Baugrund hatte man ausgerechnet den Friedhof bekommen. Doch war dies kein Nachteil, denn heute liegt die Kirche direkt an einer viel befahrenen Straße. Sie ist deshalb eine der sichtbarsten Kirchen der Mark Brandenburg – und eine der wenigen modernen. Dem Architekten Curt Steinberg gelang es, Tradition und Moderne zu versöhnen: ein stolzer Turm steht neben einer bergenden Kuppel. Diese Kuppel schafft im Inneren einen offenen und hellen Raum. Zu jeder Uhrzeit scheint die Sonne in den runden Bau. Keine Emporen, kein Patronatsgestühl verdunkelt und stört die Einheit der versammelten Gemeinde. Es ist keine reiche Kirche, kostbare Kunst hat sie nicht vorzuweisen, dafür strahlt sie eine warme, harmonische, einladende Konzentration aus.

Der Mann ohne Schatten
Lange Zeit war sie eine Simultankirche, genutzt für evangelische und katholische Gottesdienste – bis die katholische Gemeinde zu klein wurde. Aber immer noch ist dies ein Ort, an dem Lebensbrüche bedacht, geteilt und vor Gott gebracht werden können: Krieg, Terror, Flucht und Vertreibung, Enteignung, Unterdrückung, dann friedliche Revolution, Wiedervereinigung mit neuen Chancen und neuen Brüchen. Hinter der Kirche hat sich glücklicherweise ein besonderer Erinnerungsort erhalten: die Grabkolonnade für die freien Geister, die hier einmal gelebt haben. Es lohnt sich, die Inschrift für die Frau von Friedland zu entziffern.

Nicht weit von der Kirche entfernt steht ein kleines Denkmal, das an ein literarisches Wunder erinnert. Es hat sich hier zugetragen, als die Tochter der Frau von Friedland, Henriette Charlotte von Itzenplitz, Schlossherrin war. Im Sommer 1813 war Adelbert von Chamisso, französischer Emigrant, ehemaliger preußischer Offizier, Naturforscher und Dichter, ihr Gast. Fontane berichtet davon. Nach seinem Kriegseinsatz gegen Napoleon widmete sich Chamisso „ausschließlich den Wissenschaften, besonders dem Studium der Botanik“. Da er kein Geld hatte, kam er nach Kunersdorf, um im Auftrag der Gräfin eine große Pflanzensammlung anzulegen. Er „verweilte einen Sommer lang in dieser ländlichen Zurückgezogenheit, und unterzog sich seiner Aufgabe mit gewissenhaftem Fleiß. Das von ihm herrührende Herbarium existiert noch. Die Mußestunde gehörte aber der Dichtkunst, und im Cunersdorfer Bibliothekszimmer war es, wo unser Chamisso am offenen Fenster und den Blick auf den schönen Park gerichtet, den ‚Peter Schlemihl‘, seine bedeutendste und originellste Arbeit niederschrieb.“

Diese Novelle erzählt von Peter Schlemihl, der einem grauen Herrn seinen Schatten verkauft. Dafür erhält er einen Beutel mit Goldstücken, der nie leer wird, so oft man auch hineingreift. Doch muss er feststellen, dass kein Mensch ohne seinen Schatten leben kann. Die anderen haben Angst vor ihm, weichen vor ihm zurück, verhöhnen und verjagen ihn. Nirgends kann er bleiben, ruhelos und in unstillbarer Scham muss er umherirren bis an das Ende seines Lebens. Da hilft ihm all das viele Gold nicht.

Wer nach Kunersdorf reist, sollte Chamissos „Peter Schlemihl“ dabei haben, sich unter den schattigen Baum neben dem Gedenkstein für den schattenlosen Emigranten setzen, der sich hier tief in die deutsche Literaturgeschichte hineingeschrieben hat, diese Erzählung in einem Zug durchlesen und dabei über all die vielen Lebensbrüche, die zur Geschichte dieses Ortes gehören, nachdenken, und darüber, was sie heilen könnte.


Buchtipp
Johann Hinrich Claussen, Klaus-Martin Bresgott Streifzüge durch das Land Fontanes zu Kirchen in der Mark Brandenburg, Monumente Publikationen, 128 Seiten, 19,80 Euro, monumente-shop.de

Johann Hinrich Claussen
Dr. Johann Hinrich Claussen (RC Hamburg) ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Der Theologe schreibt regelmäßig Beiträge für überregionale Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. Zudem hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht und verfasst regelmäßig seinen Blog Kulturbeutel bei Chrismon. ekd.de