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Klänge wie aus einer anderen Welt

Über das Erlebnis und die Bedeutung der Kirchenmusik. Gedanken zum Werk Mendelssohn-Bartholdys, Bachs, Händels, Mozarts u.a.

Johann Hinrich Claussen11.12.2014

Ob das Christentum heute noch eine lebendige Kraft sei, darüber streiten nicht nur die Gelehrten. Je nach Perspektive und Interesse erklären Soziologen, Theologen, Politiker und Meinungshändler, dass das Christentum immer noch den kulturellen Grund der Gesellschaft darstelle – oder unwiederbringlich an Bedeutung verloren habe. Wenig wird bei diesem ewigen Pro und Contra berücksichtigt, wie sehr das Christentum „in der Luft liegt“. Als Musik nämlich wird es von Zeitgenossen genossen und geliebt, ohne dass sich damit jedoch notwendigerweise ein Bekenntnis verbände. Als Musik ist das Christentum gegenwärtig, zugleich aber ist die Kirchenmusik eine Kunst und deshalb frei. Sie lässt sich nicht kirchlich festlegen, überschreitet theologische Grenzen, bindet niemanden, der sie hört. Wer sie aber hört, wird berührt und dabei herausgefordert, sich zu dieser Musik zu verhalten. Adventslieder und Weihnachtsoratorien, Psalmen und Hymnen, Requien und Passionen, Messen und Choräle, Gospel und Sakropop – vieles mag altvertraut sein und ist doch, wenn man bewusst zuhört, jedes Mal von neuem eine Überraschung: ein verblüffendes Kunsterlebnis und die unerwartete Nötigung, sich über den eigenen Glauben oder Nicht-Glauben klarer zu werden.


Brücke zum Christentum
Für aufgeklärte Geister ist die Kirchenmusik die beste Brücke zur eigenen Religiosität und zum Christentum. Das war schon im 18. Jahrhundert so. Ausgerechnet der große Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg hatte eine verborgene fromme Ader – musikalischer Art. Wenn ihn auch die Predigten und Gebete der evangelischen Pastoren seiner Zeit wenig angesprochen haben dürften, so konnten doch Choral und Orgel seinen religiösen Sinn wecken. Er war zwar selbst ganz unmusikalisch, aber auch wer kein Instrument spielt oder nicht singen kann, ist für die Kirchenmusik noch lange nicht verloren, wie diese Notiz aus den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts beweist: „Ich verstehe von Musik wenig, spiele gar kein Instrument, außer dass ich gut pfeifen kann. Hiervon habe ich schon mehr Nutzen gezogen als viele andere von ihren Arien auf der Flöte und auf dem Clavichord. Ich würde vergeblich versuchen, mit Worten auszudrücken, was ich empfinde, wenn ich an einem stillen Abend den Choral ‚In allen meinen Taten’ recht gut pfeife und mir den Text dazu denke, ich singe nicht gern alleine. Wenn ich an die Zeile komme ‚hast du es denn beschlossen’, was fühle ich da oft für Mut, neues Feuer die Menge, was für Vertrauen auf Gott, ich wollte mich in die See stürzen und mit meinem Glauben nicht ertrinken, mit dem Bewusstsein einer einzigen Guttat eine Welt nicht fürchten.“


Lichtenbergs Lieblingschoral stammt übrigens von Paul Fleming, einem ebenso grandiosen wie unglücklichen Genie der evangelischen Barocklyrik. Er lebte mitten im Dreißigjährigen Krieg, reiste viel, kam bis nach Moskau und Persien und starb viel zu früh in Hamburg mit nur dreißig Jahren an einer Lungenentzündung. Im heutigen „Evangelischen Gesangbuch“ hat sich von den vielen Versen Flemings nur Lichtenbergs Lieblingslied erhalten: „In allen meinen Taten“. Es zeigt hochkonzentriert, alles andere weglassend, radikal und direkt, was den christlichen Glauben im letzten ausmacht. Glaube ist Vertrauen. Wer Gott vertraut, in allen Lebenslagen, in allen Tiefen, in jedem Glück, der hat alles, das vollständige Heil, den großen Trost. Ihm fehlt nichts, wenn er nur von Herzen singen kann:

In allen meinen Taten
lass ich den Höchsten raten,
der alles kann und hat;
er muss zu allen Dingen,
solls anders wohl gelingen,
mir selber geben Rat und Tat.

Die Strophe, die Lichtenberg so gern gepfiffen hat, ist jedoch nicht in das heutige Gesangbuch aufgenommen worden. Sie klingt wohl zu hart und herb:

Hat er es denn beschlossen,
so will ich unverdrossen,
an mein Verhängnis gehen;
kein Unfall unter allen
wird mir zu harte fallen,
ich will ihn überstehen.

Das ist die schwerste Glaubensprüfung: mit Gottvertrauen auch in das eigene Verhängnis zu gehen.


Über Flemings Lied hat Lichtenberg noch eine zweite Notiz verfasst. Am Karsamstag des Jahres 1775 spazierte er abends durch London. Es wurde dunkel, der Mond ging auf, da kam er zu dem Haus, aus dem 1649 König Charles I. auf das Schafott getreten war. Er hatte den Bürgerkrieg gegen die Puritaner unter Oliver Cromwell verloren und musste dies mit seinem königlichen Leben bezahlen. Daran dachte Lichtenberg, als er durch das abendliche London lief: Da geschah es, „dass mir einer von den Leuten begegnete, die sich bei den Orgelmachern Orgeln mieten und damit auf den Straßen herumziehen, und so lange im Gehen spielen, bis sie irgendjemand anruft und sie für Sixpence ihre Stücke durchspielen lässt. Die Orgel war gut, und auf einmal fing dieser Orgelspieler an, den vortrefflichen Choral ‚In allen meinen Taten’ zu spielen, so melancholisch, so meiner damaligen Verfassung angemessen, dass mich ein unbeschreiblich andächtiger Schauer überlief. Ich dachte dann im Mondenlicht und unter dem freien Himmel an meine entfernten Freunde zurück, meine Leiden wurden mir erträglich und verschwanden ganz. Ich konnte mich nicht enthalten, die Worte leise dazu zu singen. ‚Hast du es dann beschlossen, so will ich unverdrossen an mein Verhängnis gehen.’ Vor mir lag das majestätische Gebäude vom vollen Monde erleuchtet, es war Abend vor Ostern. Hier zu diesem Fenster stieg Karl heraus, um die vergängliche Krone mit der unvergänglichen zu vertauschen. Gott, was ist weltliche Größe!“


Ein eigenes Wahrheitsmoment
Solche und viele andere wunderbare Geschichten lassen sich über die Kirchenmusik finden und erzählen. Sie eröffnen neue Zugänge, erschweren sie aber auch, denn das geschichtliche Verstehen ist immer mit dem Erleben von Fremdheit verbunden. Wenn man ein altes Kunstwerk begreifen will, muss man seine Historie kennenlernen. Je mehr man dies jedoch tut, desto fremder wird es einem dabei, man erkennt, dass seine Zeit nicht die eigene ist. Vergangenheit und Gegenwart sind durch einen tiefen Graben getrennt. Es ist wichtig, sich durch Erfahrungen historischer Fremdheit irritieren zu lassen. Denn erst dann ist man bereit, sich überraschen zu lassen von diesen Momenten, in denen man glaubt, diese alte, uralte Musik sei recht eigentlich für einen selbst geschrieben. Kostbar sind diese Augenblicke der Gleichzeitigkeit. Sie stellen sich aber nur ein, wenn man sie nicht für selbstverständlich hält.


In Abwandlung eines Nietzsche-Wortes kann man sagen, dass der Glaube ohne die Musik ein Irrtum oder zumindest nur die Hälfte wert wäre. In der Kirchenmusik steckt ein eigenes Wahrheitsmoment. Sie führt auf ihre Weise zu – wenn es im Deutschen dafür ein Wort gäbe – einer Einsicht der Ohren. Sie kann das Erleben einer Evidenz schenken. Sie kann die Erkenntnis sinnliche Wirklichkeit werden lassen, dass man selbst erkannt ist und erhört wird. Dass man eine Seele hat und diese einen unendlichen Wert besitzt, weil sie auf Gott hin geschaffen ist und von ihm erfüllt wird. Kirchenmusik kann in den Glauben führen. Wem dies jedoch eine zu vollmundige Behauptung wäre, müsste doch zugeben, dass diese Musik in besonderer Weise zur Selbsterkenntnis anstiften kann. Im Spiegel – besser: im Echo-Raum – dieser Musik wird einem bewusst, wer man ist, in welcher Welt man lebt, wie weit ihr Horizont ist, wie tief sie reicht, welche religiösen Möglichkeiten einem jetzt gegeben oder nicht mehr gegeben sind.


In dieser Perspektive habe ich in meinem Buch über die Kirchenmusik, als einem erzählenden Sachbuch für Amateure (also Liebhaber) wie mich, die großen Stationen dieser erstaunlichen Geschichte darzustellen versucht: die verlorenen Ursprünge im Alten Israel und in der Alten Kirche, der gregorianische Choral und die mittelalterliche Kirche, Luther und der Gemeindegesang der Reformation, Palestrina und die Mehrstimmigkeit der katholischen Reformation, die Orgel als ein unendliches Instrument, Bach als Mitte und Höhepunkt der Geschichte der Kirchenmusik, Händel und der Auszug der geistlichen Musik aus der Kirche, Mozart und die Kunst des Requiems; Mendelssohn und die Musik des aufgeklärten Protestantismus sowie schließlich Tom Dorsey und der afroamerikanische Gospel.
Nach zweitausend Jahren Christentumsmusik kann man sich nun fragen, was noch kommen mag. Kommt überhaupt noch etwas? Man kann dieser Frage aus zwei Blickwinkeln nachgehen. Betrachtet man das Christentum in globaler Perspektive, ist man erstaunt über seine Vitalität. Es wächst weltweit und zwar rasant. Dabei löst es sich von den konfessionellen Prägungen Europas und sucht sich neue Ausdrucks- und Gemeinschaftsformen. Vor allem das Pfingstlertum erobert große Teile Südamerikas, Afrikas und Ostasiens, verbindet dabei die Tradition des Gospel mit jeweils lokalen Musiktraditionen und globaler Popkultur. Was hier an neuer christlicher Musik entsteht, ist in Europa kaum bekannt. Die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten sind noch nicht im Ansatz abzusehen.


Was kommt?
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Perspektive auf Deutschland und Nordwesteuropa beschränkt. Noch gibt es hier viele, fein ausgestattete Kirchen, mit vorzüglichen Orgeln, belebt von professionell ausgebildeten und vergleichsweise auskömmlich bezahlten Kirchenmusikern, die gemeinsam mit unzähligen Instrumentalisten und Chorsängern, die meisten davon engagierte Ehrenamtliche, eine Fülle von Konzerten und musikalischen Gottesdiensten anbieten. Doch dies wird weniger werden. Wie kann man dieses Weniger-Werden vernünftig gestalten? Interessanter noch ist die Frage, wie es um die inneren Bedingungen christlicher Musik in Europa bestellt ist. Der Glaube hier verändert sich ebenfalls rasant. Er wird leiser, zögerlicher und verlässt traditionelle Formen, ohne dass klar wäre, welche neue Gestalt er annehmen wird. Welche Musik wird dem gerecht? Das ist eine schwerwiegende Frage, die eigentlich nur der Heilige Geist beantworten könnte.


In die Zukunft kann niemand sehen. Wenn es aber auch zukünftig Librettisten und Komponisten gelingt, in die biblischen Texte einzudringen, sie poetisch zu ergründen, ihren Nachhall in den alten Werken zu verfolgen, dabei zugleich heutige Glaubensmöglichkeiten zu beschreiben und dafür eine zeitgemäße Klangsprache zu finden, dann wird die Kirchenmusik eine lebendige Kunst bleiben. Und wenn sich aus der langen Geschichte der Kirchenmusik eine klare Lehre ziehen lässt, dann ist es diese: Die christliche Musik ist immer dann vital, eine kulturelle und religiöse Kraft, wenn sie Grenzen überwindet – Grenzen zwischen Völkern und Nationen, zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen Sprachen und Stilen, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Kirche und Kultur, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Glaube und Zweifel.

Johann Hinrich Claussen
Dr. Johann Hinrich Claussen, RC Hamburg, ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Der Theologe und Autor schreibt regelmäßig Beiträge für Medien wie die „FAZ“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Spiegel“.