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Jubiläum

Neue alte Faszination

Jubiläum - Neue alte Faszination
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Das evangelische Gesangbuch wird 500 Jahre alt und immer mehr junge Menschen begeistern sich wieder für alte Kirchenmusik. Warum nur?

28.12.2023

"Wie uns die Alten sungen" – so sangen und hörten wir gerade wieder allerorten eines der bekanntesten und beliebtesten Weihnachtslieder, das Michael Praetorius mit seinem unvergesslichen Chorsatz von 1609 bekannt gemacht hat. Das alte Lied und der alte Satz mit seiner Schlichtheit berühren. Auch der Text – das vergängliche Bild einer zarten Blume und eines neugeborenen Kindes – rühren mit ihrem Klang und ihrer Sprache an, ohne kitschig zu sein. Doch jetzt, nach dem Jahreswechsel, wenn langsam wieder der Alltag einkehrt, verschwinden auch die alten Melodien und Texte gleichsam mit den Glaskugeln und Engeln für ein Jahr auf dem Speicher. Auch für diese Zeit im Jahr gibt es alte Lieder: "Das alte Jahr vergangen ist" zum Beispiel. Eher herb, eher etwas für Kenner oder für Liebhaber der Bachschen Vertonung im Orgelbüchlein.

Was in der Weihnachtszeit selbstverständlich ist: alte Lieder zu hören und zu singen – dafür muss man sich in der restlichen Zeit des Jahres manchmal nahezu rechtfertigen.

Als junge Organistin, Dirigentin, Cembalistin und Kirchenmusikerin bin ich es gewohnt, erklären zu müssen, warum ich mich für diese sogenannte Alte Musik interessiere. Nicht selten kommt es vor, dass ich in einem Kontext die Jüngste bin, in dem darüber gesprochen wird, welche Musik für "junge Leute" angeboten werden soll, damit sie nicht fremdeln. Gottesdienstvorbereitung, Arbeit mit Konfirmanden, Kooperation mit Schulen – nicht nur im kirchlichen Kontext haben Menschen Sorge, Berührungsängste mit den alten Liedern, mit traditioneller Kirchenmusik könnten dazu führen, dass sich jüngere Menschen ausgeschlossen fühlen.

Und gleichzeitig erlebe ich es in der Lehre, im Unterrichten von angehenden Kirchenmusikern und Organisten, dass es zahlreiche junge Menschen gibt, die sich genau hierfür interessieren, die sich wie ich dafür entschieden haben, einen großen Teil ihres Lebens der Beschäftigung mit Musik vergangener Zeiten zu widmen.

In diesem Satz steckt für mich bereits der Kern dessen, warum ich glaube, dass wir auch heute – 500 Jahre nach Erscheinen des "Achtliederbuchs", dem gewissermaßen ersten evangelischen Gesangbuch – noch diese alten Lieder singen und die Kompositionen musizieren können und vielleicht sogar sollten. Denn was die Reformation unter anderem ins Rollen gebracht hat, ist doch eine immer wieder auf den Ursprung zurückgehende kritische und suchende persönliche Beschäftigung mit alten Texten. Dass man alte Texte neu lesen, sie im Kontext ihrer Entstehung interpretieren, mit seinem eigenen Horizont in Einklang bringen und seine persönlichen Schlüsse daraus ziehen kann, sie aber dennoch zu unserem Kulturschatz gehören und als solcher nicht im Museum verstauben, sondern am Leben erhalten werden müssen.

Auch alte Melodien, Harmonien, musikalische Figuren, Rhythmen und Dynamiken können und müssen wir neu hören, wenn wir sie mit unserem Leben in Einklang bringen wollen. Ihrer unmittelbaren emotionalen Wirkung auf uns können wir uns vielleicht noch weniger entziehen, als dies bei gesprochenem Wort der Fall ist. Musik kann daher ebenso starke Zu- wie auch Abneigung hervorrufen. Dies ist ein persönlicher und auf Hörgewohnheiten und Geschmack beruhender Eindruck. Doch glaube ich, dass eben die impulsive Reaktion auf Musik – ob alt oder neu – auch eine große Chance bietet, in einen lebendigen non-verbalen Dialog zu treten: als Musiker etwas auf klangliche Art mitzuteilen und als Hörer sich auf eine auditiv geführte Reise zu begeben, was im Idealfall durch das gemeinsame Erleben auch eine Wirkung auf den Interpreten zeitigt.

Ich wünsche mir, wenn ich Werke von Bach oder noch früheren Komponisten aufführe, dass ich die Zuhörer mit meiner eigenen Begeisterung für die überraschenden Momente, die schwungvollen oder todtraurigen Passagen, anstecken und sie emotional berühren kann, weil ich selbst mich in der Musik mitteile und ausdrücke. Dass ich sie wie in einem Gemälde oder Theaterstück in eine phantastische und plastische Landschaft entführen und eine Geschichte erzählen kann, in der sie Ungewohntes und Bekanntes entdecken.

Um dies jedoch lebendig und mitreißend gestalten zu können, muss ich als Interpretin erst einmal selbst in die Welt der aufzuführenden Musik eintauchen. Solche Entdeckungsreisen gehören für mich zum Schönsten und Arbeitsintensivsten in meiner täglichen Arbeit als Musikerin. Wenn ich ein mir noch unbekanntes Werk beginne zu erschließen, muss ich jede Note genau lesen, versuchen, über Hintergründe der Entstehung, technische Gegebenheiten der Instrumente und viele anderen Parameter so viel wie möglich zu erfahren. Letztlich dient jedoch alles dem Zweck, meine eigene Weise zu finden, wie ich dieses Werk aufführe und mich mit meiner Lebens- und Wahrnehmungswelt in ihm wiederzufinden. Ich muss mich für ein Tempo, einen Charakter und abertausende kleiner Details bewusst oder unbewusst entscheiden, jedes Mal aufs Neue und möglicherweise immer ein bisschen anders. Da Musik allgemein – gleich welcher Epoche und Gattung – eine im Moment stattfindende und damit vergängliche Kunst ist, kann sie für mich nichts anderes als ein lebendiger, wenn auch verantwortungsvoller Ausdruck meiner Selbst in dem Werk eines anderen sein. Ob dieses Werk 1000 Jahre oder zwei Wochen alt ist, ändert nichts daran.

Wenn ich aber in die Welt eines wirklich alten Werkes eintauche, finde ich neben den Tönen häufig auch Text vor, der ebenso alt oder gar noch älter ist. Gerade die reformatorischen Lieder haben jahrhundertelang Komponisten dazu angeregt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Der reiche Schatz an Kompositionen, die wir den Reformatoren direkt oder indirekt zu verdanken haben, bringt allerdings auch die eine oder andere Stolperstelle mit sich, wenn uns die Musik vielleicht ganz leicht über die Lippen oder ins Ohr geht, wir uns aber an den womöglich sperrigen Texten stören oder gar mit einem garstigen Ausdruck eine Weltanschauung vorfinden, die so gar nicht in unsere heutige Lebenswelt passt. Vieles davon lässt sich bei näherer Betrachtung durch den Kontext erklären, durch die Musik vermitteln oder aufbrechen, doch hier und da bleiben Fremdheitsgefühle. Ich finde dennoch, dass auch diese dazugehören, wie in einer Stadt schöne und vermeintlich hässliche Gebäude letztlich doch ein lebendiges Stadtbild ausmachen, das nicht eine Museumslandschaft oder Filmkulisse, sondern ein von lebendigen Menschen bewohnter Ort ist.

Auch die alten Lieder mit ihren Spuren von Freud und Leid früherer Generationen können uns heute lebenden alten wie jungen Menschen ein bereichernder musikalischer Lebensraum sein, den wir auf musikalischen Spaziergängen musizierend oder hörend erkunden und miteinander teilen können. Wir müssen uns nur darauf einlassen und bereit sein, auch Unbekanntes oder gar manchmal Unbequemes zu entdecken.

2023, anna scholl, orgel, dirigentin, cembalo, wien, kirchenmusik
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Anna Scholl, geboren 1990, ist als Organistin, Cembalistin und Dirigentin sowohl im Bereich der Kirchenmusik als auch im Musiktheater tätig. Sie unterrichtet im Fach Orgel an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien und war viele Jahre künstlerische Leiterin des Festivals Internationaler Orgelsommer in Altenbruch und Lüdingworth (Cuxhaven), wo sie die beiden herausragenden historischen Orgeln betreute und zahlreiche Projekte rund um Alte Musik mit jungen Musikern ins Leben rief.