Gastbeitrag von Johann Hinrich Claussen
Stellt euch dem giftigen Erbe!
Die St.-Nicolaus-Kirche in Hamburg-Alsterdorf hat ihre Altarwand aus der NS-Zeit ausgelagert. Ein Vorbild für andere Gemeinden?
Es geschieht nicht alle Tage, dass eine ganze, tonnenschwere Altarwand aus einer Kirche herausgesägt wird, um dann von einem mächtigen Kran in die Luft gehoben, gedreht und dann wenige Meter von ihrem ursprünglichen Ort entfernt in einen neuen Gedenkort integriert zu werden. „Verschub“ lautet der Fachbegriff dafür. Er war im vergangenen Jahr in Hamburg, auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zu erleben. Eine spektakuläre Aktion: Ein höchst problematisches Altarbild wurde endlich aus der Kirche entfernt und zugleich neu sichtbar gemacht. Damit fand ein jahrzehntelanges Ringen einen sinnvollen, vielleicht sogar versöhnlichen Abschluss.
In der deutschen Öffentlichkeit wird intensiv über problematische Bildwerke an und in christlichen Kirchen gestritten. Das prominenteste Beispiel ist die antijüdische Schmähskulptur an der Wittenberger Stadtkirche, gegen die seit dem Reformationsjubiläum 2017 protestiert und prozessiert wird. Doch gibt es über 40 weitere solche „Sauen“ in evangelischen und katholischen Kirchen in Europa. Künstlerisch wertvoller, aber ebenfalls bedenklich sind Passionsdarstellungen auf vielen Altären, bei denen die jüdischen Figuren fratzenhaft entstellt sind. Oder das im Mittelalter beliebte Motiv von „Kirche und Synagoge“: Zwei Frauenskulpturen, von denen die eine triumphiert und die andere mit Blindheit geschlagen ist. Verstörend wirkte schließlich die Entdeckung, dass auf einzelnen Kirchenglocken immer noch Hakenkreuze angebracht waren. Jeder Fall mag anders gelagert sein, aber die intensiv debattierte Frage war stets dieselbe: Wie gehen wir mit „bösen Bildern“ in unseren Kirchen um?
Mit ihrem Altarbild hatten die Alsterdorfer ein besonders fatales Kunstwerk in ihrer St. Nicolaus-Kirche. Gemalt hatte es 1938 der damalige theologische Direktor, der wenige Jahre später die Verantwortung dafür trug, dass über 500 Menschen mit Behinderung abtransportiert wurden, um im sogenannten „Euthanasie“-Programm ermordet zu werden. Dieses Bild passte auf schreckliche Weise perfekt in seine Entstehungszeit. Da ist zunächst der Gekreuzigte: ein arischer Muskelmann. Und dann ist da die Sache mit dem Heiligenschein: Unter dem Kreuz stehen zwölf Figuren, die ganz unprotestantisch einen Heiligenschein tragen – zum Beispiel Maria, Luther oder der Direktor selbst. Bei ihnen sind aber auch drei Gestalten mit Behinderung, die ohne Gloriole auskommen müssen. Sollte damit gesagt sein, dass sie vor Gott weniger wert sind?
In den 1980er Jahren begann die Alsterdorfer Diakonie endlich damit, sich mit ihrer Schuldgeschichte zu beschäftigen. Zeitgleich musste sie skandalöse Zustände in der Pflege abstellen: Die Menschen mit Behinderung waren immer noch in großen Schlafsälen untergebracht, Privatsphäre gab es nicht, bei Unruhe wurde fixiert, bei Ungehorsam sogar geschlagen oder medikamentös „ruhiggestellt“. Die gesamte Kultur dieser Anstalt musste von Grund auf reformiert und von „Fürsorge“ auf „Inklusion“ umgestellt werden. Dabei spielte die Auseinandersetzung mit dem ominösen Altarbild eine zentrale Rolle. Wie kann man vor ihm inklusive Gottesdienste feiern? Wie kann man von der Gottebenbildlichkeit und Würde aller Menschen sprechen, wenn ausgerechnet das Altarbild eine ganz andere Predigt hält?
Vieles wurde versucht: Das Bild wurde teilweise und ganz verhängt. Befriedigend war dies alles nicht. Schließlich fand man eine konsequente Lösung. Das böse Bild wurde aus der Kirche herausgesägt, aber nicht zerstört oder entsorgt. Wenige Schritte hinter der Kirche wurde es in eine architektonisch fein gestaltete Vertiefung eingelassen, so dass es seine Mächtigkeit verlor und man es genau betrachten kann. Informationstafeln erklären seine Geschichte und regen zur Diskussion an. Die neue Altarwand von St. Nicolaus ist aus Glas. Während des Gottesdienstes kann man nun hinausschauen. Man sieht dann die Rückseite des bösen Bildes. Auf ihr stehen die Namen all der in der NS-Diktatur ermordeten Bewohnerinnen und Bewohner. Die Kirche ist also von dem Bild befreit, aber dieses ist keineswegs „aus den Augen, aus dem Sinn“.
Der Alsterdorfer „Verschub“ ist sicherlich kein Modell, das man flächendeckend auf alle Problembilder in deutschen Kirchen anwenden könnte. Aber er zeigt, wie falsch die in den Debatten üblicherweise gehandelte Alternative „Dran lassen!“ oder „Wegtun!“ ist. Denn weder kann es darum gehen, die bösen Bilder einfach so zu lassen, noch darum, sie zu entsorgen. Es geht um „Aufarbeitung“, und diese verbindet immer zweierlei: Man distanziert sich von einem historischen Erbe und macht es damit zum Thema. Wie dies geschehen kann, dafür gibt es vielfältige, kreative Möglichkeiten. Man darf zu den verschiedensten Ergebnissen gelangen. Aber man sollte methodisch diese vier Schritte berücksichtigen.
Das Erste ist, dass man das Problem überhaupt angeht. Die Berliner und die Pfälzische Landeskirche haben schon entsprechende Kirchengesetze erlassen. Sie machen es den betroffenen Kirchengemeinden zur Pflicht, sich mit toxischen Erbstücken zu befassen, und setzen einen Rahmen dafür. Zugleich bieten sie fachkundige Begleitung (und finanzielle Unterstützung) an, denn bei diesem Thema stellt sich bei betroffenen Kirchengemeinden schnell Überforderung ein. Die Kirchenleitungen schreiben aber nicht vor, wie die Ergebnisse der Aufarbeitung aussehen sollen. Das hat die jeweilige Kirchengemeinde selbst zu erarbeiten. Denn jedes Artefakt und jede Situation ist anders. Eine Glocke mit Hakenkreuz muss aus dem Dienst entlassen werden. Bei einer kaum sichtbaren mittelalterlichen Groteske am Turm mag eine Erklär-Tafel genügen. Wie immer die Kirchengemeinde sich entscheidet – wichtig ist, dass sie versucht, Betroffene oder deren Nachfahren in die Beratungen einzubinden: die jüdische Gemeinde in der Nähe oder die Familien von „Euthanasie“-Opern. Allerdings sollte sie nicht versuchen, die heikle Entscheidung an diese zu delegieren. Denn am Ende muss die Kirchengemeinde in eigener Verantwortung entscheiden – natürlich in Abstimmung mit dem Denkmalschutz.
Als Zweites braucht es Historiker, die die Geschichte des Bildes erforschen und erzählen. Was für ein Kunstwerk ist das eigentlich? Wo kommt es her? Was ist seine Bedeutung? Wie wurde es wahrgenommen und benutzt? Das ist häufig erstaunlich wenig bekannt. Forschung ist dabei kein Selbstzweck, sondern dient der sachlichen Information aller, die die betroffene Kirche besuchen oder an ihr vorbeigehen. Sie haben ein Recht darauf, unkompliziert und verständlich Auskunft zu erhalten. Nur dann können sie sich ein eigenes Urteil bilden.
Als Drittes wäre zu entscheiden, was mit dem Bild zu geschehen hat. Genügt ein Kommentar? Sollte man es verhüllen, halb oder ganz? Wäre es besser, eine Künstlerin damit zu beauftragen, ein Gegenbild zu schaffen und so einen Bilder-Streit zu inszenieren? Das kann zu erstaunlichen Ergebnissen führen. Allerdings darf man auch hier nicht hoffen, man könne das Problem nun an die Kunst delegieren. Oder ist das Bild so beleidigend, stachelt es immer noch zum Hass auf, dass man es abnehmen muss? Damit aber wäre die Aufgabe noch nicht erledigt. Man müsste nämlich sagen können, wo das Bildwerk hinsoll und was mit seinem bisherigen Ort zu geschehen hat. Nicht sinnvoll ist es, es in ein räumlich entferntes Museum zu verbringen. Dann würde man sich aus der Verantwortung stehlen und sie einer staatlichen Institution zuschieben. Zugleich würde man verhindern, dass es am ursprünglichen Ort weiterhin zur Auseinandersetzung mit eigener Schuldgeschichte kommt.
Schließlich – und das ist in vielen evangelischen Kirchengemeinden längst eine eingeübte Praxis – gilt es, sich regelmäßig vor und mit dem bösen Bild an die dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu erinnern. Häufig wird von hartrechten Ideologen gegen eine „Ritualisierung“ der deutschen Gedenkkultur polemisiert. Dabei liegt doch gerade im rituellen, gottesdienstlichen Erinnern im Lauf des Kirchenjahres eine große Kraft. Verlässlich und ohne äußeren Anlass kommt die Gemeinde an bekannten Gedenktagen zusammen, lässt sich mit einem belastenden Thema konfrontieren, versucht, die eigene Geschichte zu verstehen, fragt nach einer besseren Zukunft und bringt all dies im Gebet vor Gott. Das ist christliche Gedenkkultur im eigentlichen Sinn.
Aufarbeitung braucht Zeit. Und sie lebt von Zutrauen. Deshalb ist es wichtig, Beschämungsdynamiken zu vermeiden. Es hilft wenig, eine Kirchengemeinde medial oder real auf die Anklagebank zu setzen. Denn das ist bekanntlich kein Ort, an dem man kreativ wird. Genau darum aber geht es: Dass man in der Auseinandersetzung mit einem problematischen Bildwerk der Vergangenheit sich selbst klärt, das eigene Leben, Glauben und Arbeiten von Grund auf verändert, um dafür schließlich ein neues Bild zu gestalten, ohne das alte zu verdrängen. Eine solche Art von Aufarbeitung ist Ausdruck aufgeklärter, evangelischer Freiheit. Ein hoher Anspruch, aber kann man sich ihn auch in kleinen Schritten nähern. Wer hat gesagt, dass man endgültige Lösungen vorlegen müsste? Erinnerungskultur ist ein offener Prozess, und die nächste Generation kann zu ganz anderen Ergebnissen gelangen.
Der Artikel ist zuerst in der März-Ausgabe 2023 des Chrismon-Magazines erschienen.
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