Computerspiel wird Wirklichkeit
Erweiterung der Realität
Die Spiele-App „Pokémon Go“ ist der große Hype dieses Sommers. Rund 7,5 Millionen Downloads gab es allein in den USA innerhalb der ersten Woche. Der Umsatz wird auf 1,6 Millionen US-Dollar geschätzt, täglich. Mit einem derartigen Erfolg haben nicht einmal die Entwickler gerechnet. Doch das Spannende an der Geschichte ist etwas ganz anderes
Pokémon sind Phantasiewesen aus einem bekannten Videospiel von Nintendo. Schon seit 1996 treiben die Monster in Spielen, Serien und Kinofilmen ihr Unwesen. In der App „Pokémon Go“ wird der Spieler zum Trainer der digitalen Monster und muss diese suchen und einfangen. Das Ziel des Smartphone-Spiels ist es, so viele unterschiedliche Arten von Pokémons zu sammeln wie möglich.
Die Besonderheit von Pokémon Go: Will der Spieler die Fabeltierchen finden, muss er mit seinem Smartphone nach draußen gehen und sie physisch suchen, anstatt nur vor dem Monitor zu sitzen. Die Pokémons findet der Spieler an vorgegebenen Orten, die auf einer Karte der App verzeichnet sind. Blicken die Nutzer am Ziel auf ihr Display, entdecken sie das gesuchte Pokémon in der realen Umgebung – vor einer Parkbank, im Supermarkt oder im Vorgarten des Nachbarn.
Das Kartenmaterial bei Pokémon Go basiert im Wesentlichen auf dem des Navigationssystems Google Maps. Die Karten an sich sind real und passen zu der wirklichen Straßenumgebung. Doch die Inhalte auf der Karte entspringen allein den Köpfen der Entwickler.
„Augmented Reality“
Niantic, das Entwicklerstudio hinter Pokémon Go, gehörte einst zum Google-Konzern. Für das Spielvergnügen wird die Google-Anwendung zweckentfremdet und um die digitale Phantasieebene erweitert. Über das herkömmliche GPS-Signal des Smartphones können die Spieler korrekt in der digital-realen Wirklichkeit geortet werden. Die App zeichnet dabei die Umgebung mit der Smartphone-Kamera auf und legt synchron eine digitale Grafik darüber.
Smartphones sind fest im Alltag integriert und die zunehmende Digitalisierung von Inhalten und Kommunikation sorgt dafür, dass eine allgegenwärtige virtuelle Zwischenwelt unser Leben durchzieht. Die virtuelle Realität, wie sie in Sci-Fi-Romanen beschrieben wird, existiert längst. Jetzt ändert sich die Art und Weise, wie wir mit ihr interagieren.
Ursachen des Hypes
Pokémon Go ist nicht das erste „Augmented Reality“-Spiel. Niantic veröffentlichte bereits 2012 die App „Ingress“, die Spieler via Smartphone und GPS-Signal durch die Straßen lotst, um unsichtbare Stützpunkte zu erobern und gemeinschaftlich zu verteidigen. Die Anwendung hat eine treue Fangemeinde, das große Massenpublikum konnte sie aber nicht begeistern.
Den großen Erfolg von Pokémon Go können sich nicht einmal die Entwickler von Niantic erklären. Nintendos starke Pokémon-Marke sorgt für die notwendige Grundaufmerksamkeit quer durch alle Altersgruppen. Pokémon begeistert Kinder, aber auch junge Menschen und Erwachsene, die mit den digitalen Monstern groß geworden sind. Die Monsterjagd wird so zu einem gesellschaftlichen und sozialen Phänomen. Fremde Menschen versammeln sich an Stellen, an denen besonders seltene Monster hausen und finden ein gemeinsames Gesprächsthema. Dadurch verstärkt sich der Hype.
veränderung des Alltags
Pokémon Go ist dabei nur ein Ausblick. Zwei Technologietrends prägen die Computer der Zukunft. Zum einen verlassen Inhalte den Monitor und werden räumlich, vermischen sich wie bei Pokémon Go mit der realen Umgebung. Das Navigationssystem auf der Straße oder der virtuelle Rundgang durch den Rohbau des Hauses sind dabei nur zwei Anwendungsbeispiele. Zum anderen gibt es neue, natürliche Interfaces. Die Computer der Zukunft bedienen wir mit unserem eigenen Körper. Sprache, Blicke und Gesten ersetzen abstrakte Eingabegeräte wie Maus und Tastatur.
Die beiden Kerntechnologien dahinter nennen sich „Augmented“ und „Virtual Reality“. Bei der erweiterten Realität bleibt der Nutzer im Hier und Jetzt und blendet digitale Informationen ergänzend in die Umgebung ein, so wie in Pokémon Go. Die Virtual Reality, kurz VR, hingegen umgibt den Nutzer vollständig. Die Außenwelt wird ausgeblendet und der Träger der VR-Brille hat das Gefühl, an einem völlig anderen Ort zu sein.
Während schon jetzt relativ hochwertige VR-Brillen von Facebook, HTC und Sony in den Läden liegen, brauchen die technischen Lösungen für Augmented Reality noch mehr Entwicklungszeit. Die Geräte sind in der Konstruktion komplexer, da sie den Nutzer nicht einfach nur abschotten, sondern mittels zahlreicher Sensoren die reale Umgebung in Echtzeit erfassen und kartieren müssen. Nur dann können digitale Elemente sinnvoll in die Realität eingebettet werden, um eine Mischrealität zu konstruieren.
Neue Technologien sorgen gemeinhin für Irritation. So wie das Handy in den 90er Jahren und später das Smartphone schickt sich Augmented Reality an, unser Straßenbild mit entsprechenden Endgeräten zu verändern. Wenn Pokémon Go etwas beweist, dann dass Menschen prinzipiell dazu bereit sind, zu akzeptieren, dass digitale Elemente und die bekannte Realität zukünftig eine noch stärkere Einheit bilden. Wichtige Entscheider wie Microsofts Geschäftsführer Satya Nadella hoffen darauf, dass sich der Hype um Pokémon Go in mehr Interesse an Augmented Reality und den kommenden Geräten äußert.
Engagement der großen Konzerne
Schaut man auf die Unternehmen, die hinter diesen Technologien stecken, liest sich das wie das „Who is Who“ der Internet- und Softwarebranche. Viele Milliarden fließen gerade in die Entwicklung dieser neuen Computerplattformen.
Neben Microsoft mit der Augmented-Reality-Brille Hololens ist da beispielsweise Facebook. Schon 2014 kaufte Facebook-Chef Marc Zuckerberg für rund zwei Milliarden US-Dollar das Virtual-Reality-Startup Oculus VR, dem Hersteller der VR-Brille Oculus Rift. Dass Facebook neben der virtuellen auch die erweiterte Realität auf dem Schirm hat, zeigen zahlreiche strategische Übernahmen von Tech-Start Ups in den vergangenen Monaten.
Google setzt sowohl auf die virtuelle als auch die erweiterte Realität. Google Cardboard ist eine günstige VR-Brille aus Pappe für das Smartphone, die schon seit 2014 – häufig kostenlos - verteilt wird. Noch interessanter ist es, dass der Internetriese 2015 hunderte Millionen in das US-StartUp Magic Leap investierte. Magic Leap verspricht eine Augmented-Reality-Brille mit einer völlig neuen Displaytechnologie, die in den kommenden Jahren das Smartphone als Alltagsgerät verdrängen soll. Schon 2017 könnte das neue Gerät an den Start gehen. Details zur verwendeten Technologie und möglichen Anwendungen verrät das Unternehmen kaum. Alles ist streng geheim.
Und dann ist da noch Apple. Aus dem Thema Virtual Reality hält sich das wertvollste Unternehmen der Welt dezent heraus. Aber zu Augmented Reality bezieht Apple-Chef Tim Cook klar Stellung. „Ich denke, dass Augmented Reality extrem interessant und eine neue Kerntechnologie wird“, sagt Cook im August 2016 bei einer Telefonkonferenz mit Analysten. Sein Unternehmen investiere bereits sehr viel und würde das auch weiterhin planen.
Bislang sind Geräte wie Microsofts Hololens noch eher unausgereifte Prototypen. Aber bereits in den nächsten zwei bis drei Jahren könnten sie in den Wohnzimmern und insbesondere den Büros ankommen.
Aufwertung des Smartphones
Pokémon Go ist noch in einer anderen Hinsicht ein guter Wegweiser für zukünftige Technologien. Denn sehr wahrscheinlich werden wir in naher Zukunft nicht mit futuristischen Brillen durch die Straße laufen, sondern wie gehabt auf das Smartphone setzen. Dieses wird so aufgewertet, dass es fit ist für die Darstellung räumlicher Inhalte.
Schon im Herbst bringt Lenovo ein neues Smartphone auf den Markt, dass mit speziellen Sensoren ausgestattet ist. Mit denen kann das Gerät die Umgebung ähnlich sehen und verstehen wie ein Mensch. In Lenovos Augmented-Reality-Smartphone steckt jahrelange Forschungsarbeit von Google. „Mit unserer Technologie wird das Smartphone zu einem magischen Fenster in die physische Welt, es kann Raum und Bewegung auch außerhalb der Grenzen des Touchscreens erkennen”, erklärt Googles Augmented-Reality-Spezialist Johnny Lee.
Weitere Hersteller werden zeitnah folgen, denn Innovationen sind auf dem Smartphone-Markt lange überfällig. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn das nächste Smartphone nicht nur eine, sondern gleich vier unterschiedliche Kameras auf der Rückseite hat.
Science-Fiction für das Wohnzimmer
Trotz der weiten Verbreitung und des bewährten Konzepts wird das Smartphone irgendwann ausgedient haben. Das Allzweckgerät kann zwar viel, integriert sich aber nicht optimal in unseren Alltag. Der permanente Blick auf das Smartphone-Display ist weder sozial noch natürlich und ganz sicher nicht intuitiv.
Das stört auch die Nutzer von Pokémon Go. Die Monster-Jagd erfordert es nahezu durchgehend, dass Spieler das Smartphone in der Hand halten und digital nach neuen Monstern suchen. Die reale Umgebung gerät dabei schon einmal in Vergessenheit. Laut vereinzelter Medienberichte rannten Go-Spieler blindlings über Hindernisse oder in den Straßenverkehr und verursachten so eine Reihe von Unfällen. Technikaffine Straßenräuber studierten die Pfade von Pokémon-Go-Nutzern mit dem eigenen Smartphone und lauerten ihnen in dunklen Ecken auf.
Aus diesem Grund hat Niantic das „Pokémon Go Plus“-Armband entwickelt. Das hält den Spieler über spielinterne Ereignisse via LEDs und Vibration auf dem Laufenden. Und der kann seinen Kopf wieder vom Smartphone-Display abwenden. Für die Zukunft hat Niantics Geschäftsführer John Hanke aber deutlich futuristischere Visionen. „Ich möchte die Kontaktlinse, die die Welt so verändert, wie ich das haben will”, sagte er kürzlich auf einer Fachkonferenz für digitale Spiele.