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Nutzen und Schaden der KI

KO oder OK?

Das Endspiel um die künstliche Intelligenz hat begonnen. Die spannende Frage ist, ob sie dem Menschen nutzt – oder ihn langfristig infrage stellt.

Gundolf S. Freyermuth01.08.2016

Wir Menschen tendieren dazu, die Welt im Rückspiegel wahrzunehmen – also unsere Gegenwart mit der unmittelbaren Vergangenheit zu verwechseln. Diese Neigung zu verzögerter Einsicht bestimmt auch unsere aktuelle Haltung zur künstlichen Intelligenz: Wir diskutieren KI als Problem einer Zukunft, die es noch zu gestalten gilt. Realiter jedoch leben wir seit einiger Zeit in einer Welt, die von KI durchdrungen ist.

Intelligente Programme bestimmen in Fabriken komplette Produktionsabläufe, balancieren die Belastungen von Stromnetzen und steuern U-Bahnen in Paris wie Nürnberg. Sie helfen Jumbojets zu fliegen und Kampfjets in Luftgefechten geschickter zu manövrieren. Sie lenken autonome Staubsauger durch Wohnungen und Automobile im Straßenverkehr. Sie ersetzen Arbeitsplätze im Banken- und Versicherungssektor, entwerfen Verträge, tätigen Börsengeschäfte und analysieren Rechtsfälle. Sie übersetzen Texte und verfassen eigenständig journalistische Artikel oder Finanzberichte. KIs erkennen in Fotografien und Videos unsere Gesichter und verstehen in Smartphones als Siri oder Cortana unsere Wünsche und Befehle. Sie helfen, Google-Suchanfragen zu beantworten, und empfehlen bei Spotify ungemein treffsicher unbekannte Songs, die unserem Geschmack entsprechen.

Die positiven Konsequenzen des aktuellen KI-Schubs reichen von alltäglichen Bequemlichkeiten, die wir uns vor einem Vierteljahrhundert nicht einmal vorstellen konnten, bis hin zu einem dramatischen Wohlstandszuwachs: Seit den frühen 90er Jahren stieg in Deutschland die Produktivität pro Arbeitsstunde um über 35 Prozent. Pioniere und Propheten der künstlichen Intelligenz wie Microsofts CEO Satya Nadella meinen denn auch, dass KI-Software nach PC-Betriebssystemen und dem Web zur nächsten dominierenden Plattform werde – zur Basis aller Anwendungen. Ray Kurzweil, Erfinder, Bestseller-Futurist und als Director of Engineering für große Teile von Googles KI-Forschung verantwortlich, prognostiziert begeistert die „Singularität“: eine einzigartige Intelligenzexplosion, die – wie zu prähistorischen Zeiten die Entwicklung der Sprache – eine gänzlich neue Menschheit schaffen könnte.

Szenarien einer neuen Revolution
Die eskalierende Leistungsfähigkeit künstlicher Intelligenz weckt allerdings nicht nur Begeisterung. Zum einen verbinden sich mit ihr zwangsläufig gewaltige wirtschaftliche Verwerfungen, da sie die Kenntnisse und Fähigkeiten von Millionen Menschen entwertet. Einschlägige Studien – etwa der ING-DiBa-Bank – sagen voraus, dass bis 2030 die Hälfte aller existierenden Arbeitsplätze gefährdet sei. Zum anderen aber und viel weitreichender scheint die Menschheit selbst in ihrer Existenz bedroht. Stephen Hawking warnte bereits 2014, dass künstliche bald die menschliche Intelligenz übertreffen könnte: „Das wird das größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit werden – und möglicherweise auch das letzte.“

Im selben Jahr analysierte Nick Bostrom, Direktor des Oxforder „Future of Humanity Institute“ in seiner Studie „Superintelligenz“ die „Szenarien einer kommenden Revolution“: In deren Verlauf könne eine sich beständig selbst verbessernde KI ihre Schöpfer unterwerfen oder sogar auslöschen. Nicht wenige digitale Pioniere nehmen solche Befürchtungen ernst: „Ich verstehe gar nicht“, sagt etwa Microsoft-Gründer Bill Gates, „warum manche Leute sich keine Sorgen machen.“ Und Elon Musk, Mitbegründer von PayPal sowie CEO von Tesla und SpaceX, hält KI als Technologie für potentiell nicht weniger gefährlich als die Atombombe: „Mit künstlicher Intelligenz beschwören wir einen Dämon herauf.“

Der in Oxford lehrende Philosoph Luciano Floridi sieht in seinem Buch „The Fourth Revolution. How the Infosphere Is Reshaping Human Reality“ (2014) als Folge der KI eine nächste „Revolution unseres Selbstverständnisses“: Kopernikus erkannte, dass unsere Erde nicht im Zentrum des Universums steht; Charles Darwin, dass wir als Spezies nicht biologisch einzigartig sind, Sigmund Freud, dass wir uns selbst nicht gänzlich trauen können. Auf diese drei großen Kränkungen folgt nun mit KI eine vierte: dass wir nicht (mehr) die einzigen sind, die Informationen verarbeiten und auf ihrer Basis leidlich intelligent entscheiden und handeln können.

Bislang beschränken sich die Leistungen Künstlicher Intelligenz auf zwar beachtliche, aber recht spezielle Fähigkeiten, auf sogenannte „schwache KI“. Eine universelle, menschenähnliche Intelligenz, eine „starke KI“, ist nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Wie viele andere Vordenker und KI-Forscher hält Luciano Floridi daher die apokalyptischen Überlebensängste für weitgehend unbegründet: „Kein nachvollziehbarer Weg führt von den Fähigkeiten eines Computers, einen PKW in eine enge Parklücke zu manövrieren, zu einer bösen, sich autonom weiterentwickelnden Superintelligenz. Wer den Gipfel eines Baums erklettert hat, ist dem Mond nicht ein Stück nähergekommen, er ist vielmehr bereits am Ende seiner Reise angelangt.“

Spielerisch zum Durchbruch
Einige jüngste Entwicklungen gefährden allerdings diese Sicherheit, dass menschliche Intelligenz einzigartig und deshalb maschinell in absehbarer Zukunft kaum nachzubilden oder gar zu übertreffen sei. Die „Gründerväter“ der KI-Forschung – Alan Turing, Claude Elwood Shannon, Marvin Minsky – versuchten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, intelligentes Verhalten nach logischen Kriterien zu planen, zu programmieren und dann von der daraus resultierenden Software exekutieren zu lassen; mit vergleichsweise geringen Erfolgen.

Das spektakuläre Gros der gegenwärtigen Durchbrüche beruht dagegen auf geradezu entgegengesetzten Ansätzen: auf evolutionären Methoden wie genetischen Algorithmen und vor allem auf dem Prinzip eigenständigen (Maschinen-)Lernens. Neuronale Netzwerke – Software, deren Funktionsweise Elementen des menschlichen Gehirns nachgebildet ist – werden nicht programmiert, sondern trainiert: Sie arbeiten sich durch große Datenmengen und identifizieren dabei in schier endlosen Wiederholungsschleifen Muster und Gegenstände, erfolgreiche(re) Verhaltensweisen und Strategien.

Das beste Beispiel für diese Neuausrichtung gibt der Umgang mit digitalen Spielen. Sie bedeuten für die KI-Forschung das, was Mäuse für die medizinische Forschung sind: das bevorzugte Objekt praktischer Experimente. Bereits um 1950 schlugen Turing und Shannon vor, die Leistungsfähigkeit künstlicher Intelligenz mit einem Schachprogramm zu demonstrieren. Es brauchte bekanntlich Jahrzehnte, bis IBMs „Deep Blue“ schließlich 1996 den amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow schlagen konnte. Auch in einer Vielzahl anderer Spiele siegten Programme gegen die besten menschlichen Spieler – von Backgammon (1979) bis Go (2016). Seit einigen Jahren jedoch dienen digitale Spiele in der KI-Forschung nicht mehr allein der Demonstration von KI, sondern deren „Ausbildung“.

Zuerst ließ das Startup „Deep Mind“, gegründet 2010 und 2014 dann für eine halbe Milliarde Dollar von Google erworben, sein „Deep Learning“-Programm Videospiel-Klassiker wie „Pong“, „Breakout“ und „Space Invaders“ bewältigen – in beständigem Trial-and-Error-Handeln und ohne, dass dem Programm die Regeln der jeweiligen Spiele mitgeteilt worden wären. Seitdem sind Videospiele zu einem zentralen Trainingsfeld jener neuen Spielart künstlicher Intelligenz geworden, die auf Verstärkungslernen („reinforcement learning“) und rekursiver Selbstverbesserung („recursive self-improvement“) beruht, d.h. auf der Befähigung, die Fähigkeit zur eigenen Selbstverbesserung zu verbessern.

Hinwendung zu Open Source
Das Neuronale-Netzwerk-Programm Giraffe, entwickelt als Masterarbeit eines britischen Studenten, brachte sich so 2015 innerhalb von 72 Stunden Schach selbst bei. Vor allem aber die komplexen, komplett verdateten, hyperrealistischen und partizipatorischen Welten, die populäre Game Engines wie „Unity“ oder „Unreal“ generieren, bieten KI-Programmen ideale Bedingungen, um realweltliches Handeln zu erlernen. Besonders beliebt ist in der KI-Forschung „Minecraft“, 2014 von Microsoft für 2,5 Milliarden Dollar erworben und inzwischen mit fast 110 Millionen Kopien nach „Tetris“ das am zweitmeisten verkaufte Game.

Microsoft startete denn auch Anfang Juli mit dem „Project Malmo“ eine eigene Open-Source-Plattform für die Nutzung von „Minecraft“ zur KI-Forschung. Damit folgte die Software-Firma dem Vorbild ihrer größten Mitbewerber. Denn ein dominierender Trend in der Entwicklung künstlicher Intelligenz ist die Hinwendung zu den Prinzipien der Open-Source-Bewegung, das heißt zu offener Forschung nach akademischem Vorbild, frei von Geheimniskrämerei oder Patent- und Copyright-Ansprüchen. Im vergangenen Jahr gab Google seine Machine-Learning-Software TensorFlow zur allgemeinen Nutzung frei. Facebook hielt es genauso mit der Server-Software, auf der seine Deep-Learning-Services laufen.

Am spektakulärsten allerdings agierten Elon Musk und sein Partner Sam Altman, dessen Startup-Akzelerator „Y Combinator“ zu den frühen Investoren von Dropbox und AirBnb gehört. Die beiden Multi-Milliardäre gründeten 2015 die gemeinnützige Organisation OpenAI (AI = artificial intelligence) und versahen sie mit einem Stiftungskapital von einer Milliarde Dollar. Unterstützt wird OpenAI von Amazon und vielen Silicon-Valley-Größen. Erklärtes Ziel ist es, durch allgemein zugängliche Forschung die Schaffung einer „guten KI“ zu befördern und damit die oben skizzierten Gefahren abzuwenden.

Fluchtpunkt aller OpenAI-Anstrengungen ist die enge Zusammenarbeit zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Bei ihr wird die KI auf die Werte unserer Kultur verpflichtet, so dass sie ausschließlich als Verlängerung unseres Willens wirken kann. Die Vision einer solchen Kooperation – und mit ihr verbunden einer Selbstevolutionierung des Homo sapiens zu einem noch klügeren Wesen – ist allerdings nichts Neues. Sie zählt vielmehr zu den ältesten Träumen und Zielen der Digitalisierung. Bereits Anfang der 1960er Jahre forderte zum

Beispiel der Internet-Wegbereiter J.C.R. Licklider eine „Mensch-Computer-Symbiose“: Digitale Hard- und Software sollte als „Intelligenzverstärker“ dienen. Was Microsofts CEO-Satya Nadella jüngst als „Partnerschaft der Zukunft“ bezeichnete, die funktionale Verschmelzung menschlicher und künstlicher Intelligenz, hat daher eine lange Vorgeschichte – und ist zugleich, das können wir sehen, wenn wir nur unseren Blick vom Rückspiegel ab- und nach vorne wenden, im vergangenen Jahrzehnt zum integralen Teil unseres Alltags geworden.


Weitere Beispiele
… für Künstliche Intelligenz in der Anwendung finden Sie in auf unserer Website unter www.rotary.de/ki

Gundolf S. Freyermuth
Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth lehrt Media and Game Studies und ist Gründungsdirektor des Cologne Game Lab an der TH Köln. In seinem Kultbuch Cyberland: Eine Führung durch den High-Tech-Underground (Rowohlt) beschrieb er bereits 1996 die digitale Zukunft, in der wir heute leben.

© IFS – Internationale Filmschule Köln
      

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