Bekennstnisse eines Ex-Zuschauers
Abschied vom Fernsehen
Dass ich mir die Nase an einer Schaufensterscheibe plattdrücke, hinter der stumm ein Schwarzweißfernseher läuft, ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Digital Natives – eingeborene Digitaliens – nennt der amerikanische Pädagoge Marc Prensky die Angehörigen der Generation, die bereits mit Computer und Internet aufwuchs und sich ein Offline-Leben kaum mehr vorstellen kann. Im Vergleich zu ihnen bin ich Ureinwohner von Fernsehland.
Das neue Medium bot scheinbar alles: Filme wie im Kino, Nachrichten wie im Radio, Übertragungen von Theateraufführungen, Parlamentsdebatten und Fußballspiele, dazu noch Originalproduktionen: Fernsehspiele, Serien, Shows. Sein Siegeszug war nicht aufzuhalten. Bald bestimmte das TV-Programm unser aller Alltagsleben. Zur Tagesschau musste man zu Hause sein. Spielte die bundesdeutsche Nationalmannschaft oder lief ein Krimi von Durbridge, waren die Straßen leergefegt. Eine ganze Gesellschaft schaute dasselbe. Das Fernsehen stiftete elektronisch nationale Gemeinschaft und damit wesentlich bundesdeutsche Nachkriegsidentität. Um 1970, als die Bilder auch noch farbig geworden war, vollendete sich so der Aufstieg zum kulturellen Leitmedium: Nur zwei Jahrzehnte nach seiner Einführung dominierte das Fernsehen die Weltwahrnehmung der Zeitgenossen.
Höhepunkt: Leitmedium (1970–1990)
Inhaltlich bot das öffentlich-rechtliche System der Bundesrepublik zwar wenig Auswahl. Doch die politisch gewollte Einschränkung eskalierte nur den technisch begründeten Mangel, der für die analoge Ausstrahlung von Audiovisionen überall auf der Welt galt: Die Zahl vorhandener Frequenzen, damit möglicher Sender und Sendeplätze war limitiert, deren Reichweite begrenzt. Als Zuschauer hatte man daher auch in Ländern, die private Sender erlaubten, beschränkte Auswahl und so gut wie keine Kontrolle. Weltweit blieb das Massenpublikum mit seinem „leidenschaftlichen Anliegen“, wie Walter Benjamin schrieb, „die Dinge sich näher zu bringen“, Sklave der Programme und ihrer Macher.
Dieser Zustand schien in den frühen siebziger Jahren, als ich mich im Studium zum ersten Mal mit dem Fernsehen theoretisch auseinandersetzte, mehr oder weniger „natürlich“, weil den grundsätzlichen Qualitäten beziehungsweise Mängeln des Massenmediums geschuldet. Marshall McLuhan etwa behauptete im Hinblick auf die – im Vergleich zum Kino – schlechte Bild- und Tonqualität des Fernsehens, sie sei unverzichtbar für dessen Charakter als „kühles Medium“: Sollte das Fernsehen einmal HD-Bilder liefern, dann wäre es eben kein Fernsehen mehr. Ebenso dekretierte die aufkommende „Flow“-Theorie die selbstlaufende Abfolge des TV-Angebots zur Conditio sine qua non des Mediums: Das Sich-treiben-Lassen in der Fremdbestimmtheit des Programms definiere das Fernseherlebnis. Das zeitgenössische Verständnis des neuen Mediums setzte so zweierlei absolut – den aktuellen Stand der Technik und den kulturellen Gebrauch, der damals von ihr gemacht wurde.
Nur ein Jahrzehnt später allerdings wandelten sich wesentliche Elemente dieses techno-kulturellen Arrangements, des Mediendispositivs der Television. Techniken und Praktiken kamen auf, die das Fernsehen erst zu dem postindustriellen Medium werden ließen, dessen Verschwinden wir heute beobachten. In der Bundesrepublik erlaubte das duale System plötzlich private Konkurrenz zu ARD und ZDF. Die Einführung des Kabelfernsehens und später des Satelliten-TV überwand den Mangel terrestrischer Frequenzen. Der Weg vom „Broadcasting“ zum „Narrowcasting“ wurde frei – von der Versendung eines beschränkten Angebots, das dem kleinsten gemeinsamen Nenner eines Massenpublikums genügen muss, zur Befriedigung von Minderheitenbedürfnissen in einer Vielzahl von Spartenkanälen. Mit dieser fortschreitenden „Kanalisation“ – durchaus auch inhaltlich in Richtung Gosse – begann der Niedergang des Fernsehens als nationales Massenmedium.
Dabei half neben der massenhaften Gewohnheit des zapping und channel surfing eine weitere neue Technik: der Videorecorder. Mitte der achtziger Jahre war er ein Luxusgut, um 2000 sollte er fast so stark verbreitet sein wie das Fernsehen selbst.
Ende der neunziger Jahre kamen noch die DVD und multimediale Spielkonsolen dazu, in den Nullerjahren der digitale PVR. Parallel dazu erwuchs dem Fernsehen eine gänzlich neue Konkurrenz: PCs wandelten sich von reinen Arbeits- zu multimedialen Informations- und Unterhaltungsmaschinen. Seit Mitte der neunziger Jahre waren sie stationär vernetzt, zehn Jahre später auch mobil. Dank Napster, iTunes und P2P-Tauschbörsen bildeten sich neue, gänzlich digitale Praktiken der Distribution und Rezeption von Kulturwaren aus. Für Audiovisuelles bedeutete dabei 2005 YouTube den Urknall. Scott Kirsner beschrieb die Konsequenzen in „The Future of Web Video“ als die – nach der Einführung von Kino und Fernsehen – dritte audiovisuelle Medienwende.
Binnen Monaten explodierte die Videonutzung. 2006 war YouTube die am schnellsten wachsende Website. Im WWW ließen sich damals bereits rund 50.000 abendfüllende Filme herunterladen, ein Zehntel des kulturellen Gesamtbestandes. Anfang 2008 machten Video-Daten mehr als die Hälfte des Netzverkehrs aus. Heute schauen jeden Monat rund 1,2 Milliarden Menschen über 200 Milliarden Online-Videos. Meine eigenen Fernsehgewohnheiten haben sich denn auch drastisch geändert: Erst nabelte ich mich wie Millionen andere auch durch zeitversetztes Sehen von Nischenangeboten und den Kauf von Spielfilmen und TV-Serien mehr und mehr vom vorgegebenen Programm der großen Sender ab. 2004 verzichtete ich dann ganz auf den Fernseher. An seine Stelle traten Laptop und Projektor, DVDs und Downloads, später iPhone und iPad.
Die monolithische industrielle Massenkultur zersplittert so von innen heraus. Mit der Segmentierung begann der Zerfall analog-elektronisch gestifteter Gemeinschaft. Statistisch gesehen ist das Fernsehen zwar weiterhin die beliebteste Unterhaltungsform – der durchschnittliche Deutsche sieht jeden Tag 223 Minuten fern –, doch werden die dudelnden Apparate immer weniger wahrgenommen. Wie einst das Radio hat sich das Fernsehen zum Nebenbeimedium gewandelt. Jüngste Zahlen zeigen etwa, dass 88 Prozent aller Amerikaner etwas anderes machen, während sie vermeintlich TV schauen – z.B. E-Mails schreiben, chatten, im WWW surfen. Das alles läuft zwar kaum auf den Tod des Fernsehens hinaus, wohl aber auf das Ende des Fernsehens, wie wir es kennen. Eine neue Ära audiovisueller Information und Unterhaltung zieht herauf, gekennzeichnet durch neue Technologie und neue Inhalte, gewandelte Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen.
Neuerfindung: Post-TV-Ära (2010 –>)
Nach Neuerfindung verlangt vor allem der Fernseher selbst. Das Vorbild dafür gibt ein anderes industrielles Kommunikationsmittel: das Telefon. Mit den analogen Wählscheibenapparaten der fünfziger und sechziger Jahre haben aktuelle SmartPhones kaum mehr etwas gemeinsam. Denn sie sind nichts anderes als vernetzte PCs, die sich in der Jackettasche tragen und mobil zu allen möglichen Zwecken nutzen lassen, zur Produktion und globalen Distribution von Texten, Fotos und Videos etwa oder zur Navigation und natürlich auch zum Betrachten von Spielfilmen und TV-Serien. Die geringste Zeit werden sie noch zum Führen von Gesprächen gebraucht. Für allzu viel Fernsehen im klassischen Sinne – programmierte Unterhaltung, die rein passiv angeschaut wird – dürften denn auch die SmartTVs der nahen Zukunft nicht mehr benutzt werden.
Die Tendenz geht zur Computerisierung und Multiplizierung der Monitore, zum zweiten und dritten Screen, etwa zu Kombinationen von TV und Tablets , wie sie heute schon zahlreiche Apps für iOS und Android möglich machen. Als breitbandig vernetzte Ensembles von Multimediacomputern werden SmartTVs aber Empfangs- und Sendegeräte zugleich sein und damit nicht mehr nur Apparaturen für passiven Konsum, sondern Talentverstärker und Kommunikationsmittel: Maschinen für transmediale Information, Unterhaltung und Spiel.
Nachhaltig verändern sich ebenfalls Quantität und Qualität der Inhalte, das also, was im traditionellen Fernsehen das national zu empfangende Programm ausmachte. An die Stelle des medialen Mangels, auf dessen durchgeplante Verwaltung in der industriellen Epoche die Macht der kulturellen Institutionen beruhte – von Musiklabels, Verlagen und eben auch Fernsehsendern – tritt allzeitige globale On-Demand-Verfügung über beliebigen Content. Insofern nähert sich das Regime fester Sendezeiten seinem Ende, von Live-Übertragungen einmal abgesehen. Sender werden zu Plattformen. Der Weg führt von massenmedialen Standardprogrammen zu einer segmentierten Vielfalt, wie sie im Printbereich Zeitungskioske und Buchläden bieten – oder audiovisuell heute schon Plattformen wie YouTube, die Download- und Streaming-Services von Apple und Amazon und in den USA auch Hulu und Netflix, die beide über die Zweitverwertung von TV-Material hinaus anfangen, eigene Serien produzieren.
Die Vorauswahl durch Programmmacher ersetzen dabei Empfehlungssysteme, soziale wie algorithmische, die den Einzelnen einen Weg durch das unüberschaubar reichhaltige Angebot weisen. Erweitert wird es noch durch Nischenproduktionen von Amateuren und semi-professionellen Anfängern, die unter den Bedingungen analoger Produktion und Distribution nie entstanden wären, nun aber dank billiger digitaler Technik, Crowdfunding und Online-Distribution weltweit ihr Publikum suchen. „Broadcast Yourself“ lautet der YouTube-Slogan. Die Ermächtigung von Konsumenten zu Produzenten, die massenhafte audiovisuelle Alphabetisierung, verspricht eine demokratisierte audiovisuelle Kultur.
Die Beteiligung an ihr ist bislang freilich generationell geschieden: Während die meisten Älteren, insbesondere die große Kohorte der auf die Siebzig zugehenden Babyboomer oder 68er, weiterhin Fernsehen im heimischen Wohnzimmer „nach Programm“ schauen, konsumieren Teenager und Twens mehr mobil und zeitversetzt, beziehen TV-Serien über DVD oder Downloads, „multitasken“, wenn sie schon vor dem TV-Gerät sitzen, mit Smartphone, Tablet oder Laptop oder zweckentfremden den Fernsehschirm als Monitor für Spielekonsolen – wie auch mancher „Digital Immigrant“ zwischen dreißig und sechzig. Mir selbst jedenfalls, eingewandert nach Digitalien, als ich 1984 meinen ersten PC kaufte, scheint die Vergangenheit in Fernsehland unendlich fern. „Die Zukunft des Fernsehens“, schrieb Nicholas Negroponte bereits 1995 in seinem Bestseller „Being Digital“, „besteht darin, dass wir aufhören, das Fernsehen als Fernsehen zu betrachten.“
Aufstieg: Neues Medium (1950–1970)
Zur Welt kam ich zwei Jahre, nachdem die ARD ihren regulären Sendebetrieb aufnahm. 1963, als das bis dato einzige von einem zweiten Programm Konkurrenz erhielt, war ich acht Jahre alt. Kurz darauf schlossen die beiden Nachbarschafts-Kinos. Ich weinte ihnen keine Träne nach. Fernsehen war schöner: Sandmännchen bei den Nachbarn, Sportschau mit meinem Vater in der Eckkneipe. Zu Weihnachten wünschte ich mir einen eigenen Fernseher, bekam jedoch nur ein spieluhrartiges Kinderfernsehen. Schließlich überwanden meine Eltern ihre kulturkonservativen Bedenken und schafften das erste Gerät fürs Wohnzimmer an.Das neue Medium bot scheinbar alles: Filme wie im Kino, Nachrichten wie im Radio, Übertragungen von Theateraufführungen, Parlamentsdebatten und Fußballspiele, dazu noch Originalproduktionen: Fernsehspiele, Serien, Shows. Sein Siegeszug war nicht aufzuhalten. Bald bestimmte das TV-Programm unser aller Alltagsleben. Zur Tagesschau musste man zu Hause sein. Spielte die bundesdeutsche Nationalmannschaft oder lief ein Krimi von Durbridge, waren die Straßen leergefegt. Eine ganze Gesellschaft schaute dasselbe. Das Fernsehen stiftete elektronisch nationale Gemeinschaft und damit wesentlich bundesdeutsche Nachkriegsidentität. Um 1970, als die Bilder auch noch farbig geworden war, vollendete sich so der Aufstieg zum kulturellen Leitmedium: Nur zwei Jahrzehnte nach seiner Einführung dominierte das Fernsehen die Weltwahrnehmung der Zeitgenossen.
Höhepunkt: Leitmedium (1970–1990)
Inhaltlich bot das öffentlich-rechtliche System der Bundesrepublik zwar wenig Auswahl. Doch die politisch gewollte Einschränkung eskalierte nur den technisch begründeten Mangel, der für die analoge Ausstrahlung von Audiovisionen überall auf der Welt galt: Die Zahl vorhandener Frequenzen, damit möglicher Sender und Sendeplätze war limitiert, deren Reichweite begrenzt. Als Zuschauer hatte man daher auch in Ländern, die private Sender erlaubten, beschränkte Auswahl und so gut wie keine Kontrolle. Weltweit blieb das Massenpublikum mit seinem „leidenschaftlichen Anliegen“, wie Walter Benjamin schrieb, „die Dinge sich näher zu bringen“, Sklave der Programme und ihrer Macher.
Dieser Zustand schien in den frühen siebziger Jahren, als ich mich im Studium zum ersten Mal mit dem Fernsehen theoretisch auseinandersetzte, mehr oder weniger „natürlich“, weil den grundsätzlichen Qualitäten beziehungsweise Mängeln des Massenmediums geschuldet. Marshall McLuhan etwa behauptete im Hinblick auf die – im Vergleich zum Kino – schlechte Bild- und Tonqualität des Fernsehens, sie sei unverzichtbar für dessen Charakter als „kühles Medium“: Sollte das Fernsehen einmal HD-Bilder liefern, dann wäre es eben kein Fernsehen mehr. Ebenso dekretierte die aufkommende „Flow“-Theorie die selbstlaufende Abfolge des TV-Angebots zur Conditio sine qua non des Mediums: Das Sich-treiben-Lassen in der Fremdbestimmtheit des Programms definiere das Fernseherlebnis. Das zeitgenössische Verständnis des neuen Mediums setzte so zweierlei absolut – den aktuellen Stand der Technik und den kulturellen Gebrauch, der damals von ihr gemacht wurde.
Nur ein Jahrzehnt später allerdings wandelten sich wesentliche Elemente dieses techno-kulturellen Arrangements, des Mediendispositivs der Television. Techniken und Praktiken kamen auf, die das Fernsehen erst zu dem postindustriellen Medium werden ließen, dessen Verschwinden wir heute beobachten. In der Bundesrepublik erlaubte das duale System plötzlich private Konkurrenz zu ARD und ZDF. Die Einführung des Kabelfernsehens und später des Satelliten-TV überwand den Mangel terrestrischer Frequenzen. Der Weg vom „Broadcasting“ zum „Narrowcasting“ wurde frei – von der Versendung eines beschränkten Angebots, das dem kleinsten gemeinsamen Nenner eines Massenpublikums genügen muss, zur Befriedigung von Minderheitenbedürfnissen in einer Vielzahl von Spartenkanälen. Mit dieser fortschreitenden „Kanalisation“ – durchaus auch inhaltlich in Richtung Gosse – begann der Niedergang des Fernsehens als nationales Massenmedium.
Niedergang: Nebenbeimedium (1990–2010)
Die Konkurrenz der Kanäle, der gebühren- wie der werbefinanzierten, und vor allem der Kampf der öffentlich-rechtlichen Sender um Zuschaltquoten sorgte für eine stete Verflachung des Programms. Insofern schloss Deutschland zum Rest der westlichen Welt auf. Bereits 1988 kritisierte Hans Magnus Enzensberger das Fernsehen ob seiner Beliebig- und Belanglosigkeit als „Nullmedium“. Zwei Jahre später – noch vor dem World Wide Web – entwarf George Gilder in einem hellsichtigen Buch die Utopie eines „Life After Television“. Und wiederum zwei Jahre später war das Ungenügen am Fernsehen in der Massenkultur selbst angekommen: Bruce Springsteen landete mit „57 channels and nothin’ on“ einen Hit. Gerade das jüngere und gebildete Publikum suchte sich, so gut es ging, dem Diktat der teils altbackenen, teils prolligen Programme zu entziehen.Dabei half neben der massenhaften Gewohnheit des zapping und channel surfing eine weitere neue Technik: der Videorecorder. Mitte der achtziger Jahre war er ein Luxusgut, um 2000 sollte er fast so stark verbreitet sein wie das Fernsehen selbst.
Ende der neunziger Jahre kamen noch die DVD und multimediale Spielkonsolen dazu, in den Nullerjahren der digitale PVR. Parallel dazu erwuchs dem Fernsehen eine gänzlich neue Konkurrenz: PCs wandelten sich von reinen Arbeits- zu multimedialen Informations- und Unterhaltungsmaschinen. Seit Mitte der neunziger Jahre waren sie stationär vernetzt, zehn Jahre später auch mobil. Dank Napster, iTunes und P2P-Tauschbörsen bildeten sich neue, gänzlich digitale Praktiken der Distribution und Rezeption von Kulturwaren aus. Für Audiovisuelles bedeutete dabei 2005 YouTube den Urknall. Scott Kirsner beschrieb die Konsequenzen in „The Future of Web Video“ als die – nach der Einführung von Kino und Fernsehen – dritte audiovisuelle Medienwende.
Binnen Monaten explodierte die Videonutzung. 2006 war YouTube die am schnellsten wachsende Website. Im WWW ließen sich damals bereits rund 50.000 abendfüllende Filme herunterladen, ein Zehntel des kulturellen Gesamtbestandes. Anfang 2008 machten Video-Daten mehr als die Hälfte des Netzverkehrs aus. Heute schauen jeden Monat rund 1,2 Milliarden Menschen über 200 Milliarden Online-Videos. Meine eigenen Fernsehgewohnheiten haben sich denn auch drastisch geändert: Erst nabelte ich mich wie Millionen andere auch durch zeitversetztes Sehen von Nischenangeboten und den Kauf von Spielfilmen und TV-Serien mehr und mehr vom vorgegebenen Programm der großen Sender ab. 2004 verzichtete ich dann ganz auf den Fernseher. An seine Stelle traten Laptop und Projektor, DVDs und Downloads, später iPhone und iPad.
Die monolithische industrielle Massenkultur zersplittert so von innen heraus. Mit der Segmentierung begann der Zerfall analog-elektronisch gestifteter Gemeinschaft. Statistisch gesehen ist das Fernsehen zwar weiterhin die beliebteste Unterhaltungsform – der durchschnittliche Deutsche sieht jeden Tag 223 Minuten fern –, doch werden die dudelnden Apparate immer weniger wahrgenommen. Wie einst das Radio hat sich das Fernsehen zum Nebenbeimedium gewandelt. Jüngste Zahlen zeigen etwa, dass 88 Prozent aller Amerikaner etwas anderes machen, während sie vermeintlich TV schauen – z.B. E-Mails schreiben, chatten, im WWW surfen. Das alles läuft zwar kaum auf den Tod des Fernsehens hinaus, wohl aber auf das Ende des Fernsehens, wie wir es kennen. Eine neue Ära audiovisueller Information und Unterhaltung zieht herauf, gekennzeichnet durch neue Technologie und neue Inhalte, gewandelte Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen.
Neuerfindung: Post-TV-Ära (2010 –>)
Nach Neuerfindung verlangt vor allem der Fernseher selbst. Das Vorbild dafür gibt ein anderes industrielles Kommunikationsmittel: das Telefon. Mit den analogen Wählscheibenapparaten der fünfziger und sechziger Jahre haben aktuelle SmartPhones kaum mehr etwas gemeinsam. Denn sie sind nichts anderes als vernetzte PCs, die sich in der Jackettasche tragen und mobil zu allen möglichen Zwecken nutzen lassen, zur Produktion und globalen Distribution von Texten, Fotos und Videos etwa oder zur Navigation und natürlich auch zum Betrachten von Spielfilmen und TV-Serien. Die geringste Zeit werden sie noch zum Führen von Gesprächen gebraucht. Für allzu viel Fernsehen im klassischen Sinne – programmierte Unterhaltung, die rein passiv angeschaut wird – dürften denn auch die SmartTVs der nahen Zukunft nicht mehr benutzt werden.
Die Tendenz geht zur Computerisierung und Multiplizierung der Monitore, zum zweiten und dritten Screen, etwa zu Kombinationen von TV und Tablets , wie sie heute schon zahlreiche Apps für iOS und Android möglich machen. Als breitbandig vernetzte Ensembles von Multimediacomputern werden SmartTVs aber Empfangs- und Sendegeräte zugleich sein und damit nicht mehr nur Apparaturen für passiven Konsum, sondern Talentverstärker und Kommunikationsmittel: Maschinen für transmediale Information, Unterhaltung und Spiel.
Nachhaltig verändern sich ebenfalls Quantität und Qualität der Inhalte, das also, was im traditionellen Fernsehen das national zu empfangende Programm ausmachte. An die Stelle des medialen Mangels, auf dessen durchgeplante Verwaltung in der industriellen Epoche die Macht der kulturellen Institutionen beruhte – von Musiklabels, Verlagen und eben auch Fernsehsendern – tritt allzeitige globale On-Demand-Verfügung über beliebigen Content. Insofern nähert sich das Regime fester Sendezeiten seinem Ende, von Live-Übertragungen einmal abgesehen. Sender werden zu Plattformen. Der Weg führt von massenmedialen Standardprogrammen zu einer segmentierten Vielfalt, wie sie im Printbereich Zeitungskioske und Buchläden bieten – oder audiovisuell heute schon Plattformen wie YouTube, die Download- und Streaming-Services von Apple und Amazon und in den USA auch Hulu und Netflix, die beide über die Zweitverwertung von TV-Material hinaus anfangen, eigene Serien produzieren.
Die Vorauswahl durch Programmmacher ersetzen dabei Empfehlungssysteme, soziale wie algorithmische, die den Einzelnen einen Weg durch das unüberschaubar reichhaltige Angebot weisen. Erweitert wird es noch durch Nischenproduktionen von Amateuren und semi-professionellen Anfängern, die unter den Bedingungen analoger Produktion und Distribution nie entstanden wären, nun aber dank billiger digitaler Technik, Crowdfunding und Online-Distribution weltweit ihr Publikum suchen. „Broadcast Yourself“ lautet der YouTube-Slogan. Die Ermächtigung von Konsumenten zu Produzenten, die massenhafte audiovisuelle Alphabetisierung, verspricht eine demokratisierte audiovisuelle Kultur.
Die Beteiligung an ihr ist bislang freilich generationell geschieden: Während die meisten Älteren, insbesondere die große Kohorte der auf die Siebzig zugehenden Babyboomer oder 68er, weiterhin Fernsehen im heimischen Wohnzimmer „nach Programm“ schauen, konsumieren Teenager und Twens mehr mobil und zeitversetzt, beziehen TV-Serien über DVD oder Downloads, „multitasken“, wenn sie schon vor dem TV-Gerät sitzen, mit Smartphone, Tablet oder Laptop oder zweckentfremden den Fernsehschirm als Monitor für Spielekonsolen – wie auch mancher „Digital Immigrant“ zwischen dreißig und sechzig. Mir selbst jedenfalls, eingewandert nach Digitalien, als ich 1984 meinen ersten PC kaufte, scheint die Vergangenheit in Fernsehland unendlich fern. „Die Zukunft des Fernsehens“, schrieb Nicholas Negroponte bereits 1995 in seinem Bestseller „Being Digital“, „besteht darin, dass wir aufhören, das Fernsehen als Fernsehen zu betrachten.“
Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth lehrt Media and Game Studies und ist Gründungsdirektor des Cologne Game Lab an der TH Köln. In seinem Kultbuch Cyberland: Eine Führung durch den High-Tech-Underground (Rowohlt) beschrieb er bereits 1996 die digitale Zukunft, in der wir heute leben.
© IFS – Internationale Filmschule Köln
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