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Die Feinde des Kinos
Mehrfach wurde das Ende des Kinos proklamiert, und die Zahl der Filmpaläste und Lichtspieltheater ist tatsächlich weiter rückläufig. Woran liegt das, und gibt es Hoffnung für die Institution Kino?
Deutsche Katzen sollen sieben Leben haben, französische und amerikanische sogar neun. Das Kino kann es mit ihnen aufnehmen. Achtmal habe es seinen Tod bislang überlebt, konstatiert The Endless End of Cinema. Die im Januar 2023 erschienene Studie summiert die Beinahe-Tode, die Dutzende filmwissenschaftlicher Arbeiten zuvor analysierten, unter anderem The End of Cinema (2015), The Virtual Life of Cinema (2007), The Ending(s) of Cinema (2003) und Death of Cinema (2001). Beim genauen Hinsehen handelt es sich bei den acht Toden um sechs Gefährdungen, die nicht wirklich existenziell waren – etwa durch den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm oder die jüngste Pandemie. Zwei Attacken allerdings haben ein ebenso stetes wie gewaltiges Kinosterben ausgelöst. Die erste Welle erfuhr ich vor Jahrzehnten leidvoll, die zweite verfolge ich heute eher begeistert.
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Sonntagvormittag war Kindervorstellung, als ich in den 1960er Jahren aufwuchs. Im Vorprogramm liefen Zeichentrick- oder Tierfilme, im Hauptprogramm Märchen- oder Karl-May-Filme. Zur Auswahl standen fußläufig zwei „Lichtspieltheater“ – bis wir eines Sommers in den langen Urlaub fuhren. Nach der Rückkehr glänzten dort, wo die verwitterten Vorkriegsfassaden der Kinos gestanden hatten, die Glasfronten zweier Supermärkte. Die Statistik belegt die Anekdote: 1959 gingen knapp 73 Millionen Bundesdeutsche 600 Millionen Mal ins Kino. 1975 kauften die nun 78 Millionen BRDler gerade noch 100 Millionen Karten. Die Konsequenz war das erste große Kinosterben. 1960 operierten in der Bundesrepublik 7000 Kinos, 1978 waren es weniger als die Hälfte, nur noch 2800.
Den kinokulturvernichtenden Verursacher machten schon die Zeitgenossen aus: das Fernsehen. 1952 hatte es seinen öffentlich-rechtlichen Betrieb aufgenommen. In den ersten zwei Jahrzehnten bot es ein bescheidenes Ein-, Zwei-, dann Drei-Sender-Programm, zu empfangen auf kleinen, unscharfen Schwarz-Weiß-Monitoren mit scheppernden Monoton-Lautsprechern. An der – im Vergleich zum Kino – miserablen Bildqualität änderte die Einführung von Farbe gegen Ende der 1960er Jahre wenig. Diese Schwächen glichen jedoch zwei mediale Trumpfkarten mehr als aus: Das Fernsehen konnte live berichten, und es sendete seine Audiovisionen direkt in die Wohnzimmer.
Damit deklassierte die Leistungsfähigkeit des analog-elektronischen TV-Mediums die des älteren optomechanischen Kinos. Denn die neuzeitliche Mediengeschichte durchziehen drei große Entwicklungslinien; im Futurologen-Sprech: Megatrends. Erstens das Streben nach den Wettbewerbsvorteilen, die eine beschleunigte Verfügung über Informationen gewährt. Die mediale Linie führt vom Boten- und Postbrief zu Telegramm und Telefon. Tageszeitungen erschienen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrmals täglich. Ebenso aktuell waren seit den 1920er Jahren Radionachrichten. Der Tonfilm lieferte schließlich audiovisuelle Informationen. Aber das Kino kannte nur Wochenschauen. Erst das Fernsehen führte die Tagesschau ein.
Diese Beschleunigung der Übermittlung begleitete zweitens eine ebenso stete Privatisierung der Verfügung über Informationen und Unterhaltung. Walter Benjamin sprach von „dem leidenschaftlichen Anliegen“, die „Dinge sich räumlich und menschlich näherzubringen“. Die öffentliche Zeit der Kirchturmuhr hatten bald heimische Stand- und Tischuhren ergänzt. Ebenso migrierte musikalische Unterhaltung von Konzerthalle und Varieté via Radio in die Wohnzimmer. Die epochale Leistung des Fernsehens bestand in der Privatisierung auch audiovisueller Werke: von wenigen Theatern über viele (Nachbarschafts-)Kinos zu jedermanns Heimkino. Die technische Unterlegenheit der analogen Elektronik zählte demgegenüber wenig und verringerte sich zudem zügig: größere Bildschirme, höhere Auflösungen, getreuere Farben, Stereo- und Hi-Fi-Ton.
Vor dem dritten neuzeitlichen Dauertrend aber versagte auch das Fernsehen: dem Bedürfnis nach einer Personalisierung der Nutzung. Die Evolution der Zeitmesser endete nicht mit der privaten Standuhr, sondern führte zur persönlichen Taschen- und Armbanduhr. Ebenso kauften Milliarden Menschen Schallplatten, obwohl Radiounterhaltung mehr oder weniger umsonst war: Sie wollten die Musik ihres persönlichen Geschmacks hören und zwar selbstbestimmt. Solche Unabhängigkeit vom vorgegebenen Programm aber bot das Fernsehen nicht. Solange erschwingliche audiovisuelle Äquivalente zur Schallplatte noch nicht existierten – vor Videokassette und DVD –, musste ins Kino gehen, wer sehen wollte, was das Fernsehen nicht zeigen konnte, wollte oder durfte.
Der Film entkam dem Kino
Mitten im ersten großen Kinosterben der 1960er und 1970er Jahre entstanden daher neue Filmkunstkinos; in der Regel durch Umwidmung bestehender Häuser, die von der Schließung bedroht waren. In ihnen fand meine Liebe zum Kino ihre Heimat. Während des Studiums riss ich Karten ab und half einem vorführenden Freund beim Hieven der schweren Zelluloidrollen. Zwischendurch schaute ich gratis Hunderte klassischer oder avantgardistischer Filme, viele im Original, die meisten zwei-, drei-, viermal, aus dem Vorführraum, im Kinosaal. Ich wurde, was Susan Sontag später „cinephil“ nannte. Ich studierte die Geschichte des Kinos, arbeitete als Filmreporter und Drehbuchautor und traf viele der Männer und Frauen, deren Filme ich bewunderte. Kino gewann neue Bedeutung. Die Zahl der Besucher wie der Leinwände wuchs. Aus den 2800 Kinos des Jahres 1978 wurden binnen sechs Jahren 3600. Wenn sich ein Teil des Zugewinns auch Zellteilungen verdankte – der Verwandlung großer Säle in „Schachtelkinos“ –, das Angebot stieg und wurde angenommen. Das Kino schien der Todesgefahr entronnen und auf dem Weg, seine kulturelle Hegemonie im Reich der Audiovisionen zurückzugewinnen.
Heute wissen wir, dass es sich um ein Strohfeuer handelte, ein letztes Aufbäumen einer zunehmend obsoleten Institution. Das massenhafte Verlangen nach Personalisierung audiovisueller Unterhaltung brach sich weiter Bahn. Zunächst befeuerte es den Siegeszug des Videorekorders. Schon zu Beginn der 1990er Jahre erzielte Videoauswertung doppelt so hohe Umsätze wie das Kino. Die DVD, die Ende der 1990er Jahre Filme in dramatisch besserer Qualität verfügbar machte, eskalierte den Niedergang des Kinos – und Fernsehens. 2001 stellte die Los Angeles Times für die USA fest, was weltweit stimmte: „Immer mehr Kinos schließen, die Ticketverkäufe stagnieren oder sind rückläufig, und die Zahl der Stunden, die im Internet verbracht werden, nimmt stetig zu, während der Fernsehkonsum sinkt.“ 1990 gab es im Westen und Osten Deutschlands 4400 Kinos. Heute sind es noch 1700.
Parallel zur Krise der Abspielstätten veränderten sich die Produktion und Distribution linearer Audiovisionen radikal. In der Filmwissenschaft kam die Rede vom „Post-Cinema“ auf. Über Jahrzehnte hinweg hatten Film und Kino eine funktionale Einheit gebildet. Wer vom französischen oder italienischen Kino sprach, meinte das dominante audiovisuelle Medium in seiner Gesamtheit: die spezifischen Praktiken rund um die künstlerisch-technische Herstellung und kulturelle Konsumption von Film. Diese Einheit war technologisch erzwungen. Mit der Elektronisierung und Digitalisierung zerfiel sie. Der Film entkam dem Kino, in dem er einst exklusiv existierte, und drang in die Alltagswelt, in die Wohnungen – via Fernsehen, Videokassetten, DVDs, Streaming – und ebenso an öffentliche Orte wie Kneipen, Warteräume, Flugzeuge, Züge. Digitale Breitbandvernetzung erlaubte gegen Ende der Nullerjahre auch mobilen Empfang von audiovisuellen Inhalten und damit weitere Personalisierung. Ursprünglich Cinematisches steht heute nach Belieben unterwegs zur individuellen Verfügung, mittels Laptops, Smartphones, Tablets oder Datenbrillen. In den ubiquitären Audiovisionen verbinden sich zudem die Genres des Films mit solchen, die einst fernsehspezifisch waren – etwa Serien –, sowie gänzlich neuen Ausdrucksformen, wie sie in sozialen Medien entstehen. Allen vermag digitale Aufnahme- und Bearbeitungstechnik eine „cinematische“ Anmutung zu verleihen. „Mad Men ist ein Film“, sagt DrehbuchLegende Paul Schrader: „Ein 79 Stunden langer Film.“
Das Kino als Ort gemeinsamen Erlebens
Der postcinematischen Allgegenwart des Films entspricht der Funktions- und Bedeutungsverlust des Kinos. Als medialer Ort entstand es in der Tradition des neuzeitlichen Illusionstheaters. Die räumliche Organisation und die prozeduralen Abläufe waren nahezu identisch. Die radikale Differenz bestand in der physischen Abwesenheit des Schauspiels selbst beziehungsweise seiner nur mediatisierten Anwesenheit – als projiziertes Schattenspiel. Der kulturelle wie ökonomische Vorteil lag auf der Hand: Durch Aufzeichnung, Vervielfältigung und Vorführung in Lichtspieltheatern konnten einmal produzierte Schauspiele statt von wenigen lokalen Theaterbesuchern von Millionen Menschen weltweit auf identische Weise erlebt werden.
Einst beseitigte das Kino also Medienmangel, indem es erschwinglichen Zugang zu Audiovisionen gewährte. Gegenwärtig überlebt es primär durch das Gegenteil: künstliche Verknappung. Sie betrifft die ursprünglichen Inhalte – aktuelle Filme, die einem arbiträren „Auswertungsfenster“ im Kino unterliegen – wie auch die „innovativen“ Angebote, die digitale Projektion und Vernetzung möglich machten, Live-Übertragungen von Opernvorstellungen, Rockkonzerten, Sportveranstaltungen. Von der fragilen Situation des postcinematischen Kinos zeugt, dass selbst diese temporäre Exklusivität der Inhalte nicht hinreicht. Hinzukommen müssen lange schon Verkäufe von Genussmitteln: Süßigkeiten, Getränke, selbst mehrgängige, von Kellnern servierte Abendessen. Die Feinde des Kinos sind also nicht, wie viele seiner Freunde meinen, Milliarden von Verächtern, die sich erziehen und gewinnen ließen. Das postcinematische Kino steht vielmehr quer zu drei dominierenden Tendenzen der Medienevolution. Ihren Ausgang nahmen sie in der westlichen Kultur, wirken aber längst weltweit: Wohlständige bürgerliche Individuen wollen beschleunigte und private Verfügung über Informationen und Unterhaltung, um sie zeitlich wie inhaltlich nach persönlichen Vorlieben zu konsumieren.
Gegen diese Chronik eines angekündigten Todes wird gerne eine letzte Funktion vorgebracht, die das Kino immer noch exklusiv erfülle: Es sei ein Ort gemeinschaftlicher Erfahrungen. Heimunterhaltung könne dergleichen nicht bieten. Zweifelsohne lieben wir es, Fiktionen in Gesellschaft zu erleben. Das Theater zeugt seit Jahrtausenden davon und ebenso in der Gegenwart der Massenerfolg digitaler Online-Welten. In ihnen spielen und kommunizieren Millionen. Gegenüber beiden Medien – dem tatsächlichen Miterleben von Theater-Spiel in der materiellen Welt und dem virtuellen Rollen-Mitspiel in Online-Welten – bietet das Kino der Soziabilität ein denkbar ungünstiges Umfeld. Die immobile Zwangsgemeinschaft ist zudem kaum kontrollierbar. „Es scheint irgendwie primitiv, im Dunkeln mit einem Haufen fremder Leute zu sitzen, die entweder Popcorn kauen oder miteinander rumknutschen.“ Das schrieb eine amerikanische Kritikerin vor einem Vierteljahrhundert. Wir sollten einsehen, dass sich in der postcinematischen Gegenwart das Kino überlebt hat.
Anders mag es sich mit virtuellen Kinos verhalten. Als soziale Orte existieren sie rudimentär in Online-Welten seit Jahren. Cinematische Qualität versprechen nun Mixed-Reality-Brillen wie Apples Vision Pro. Nach der Medialisierung des Schauspiels im Kino erscheint eine nächste Konsequenz des Strebens nach Privatisierung und Personalisierung, dass auch das Publikum seine Kino-Körperlichkeit zugunsten postmaterieller Präsenz abstreift. Retten am Ende das Kinoerlebnis ausgerechnet die von seinen Freunden gefürchteten „Gespenster der Digitalisierung“? Ich jedenfalls freue mich darauf, Filme im Kino zu sehen, ohne das Haus verlassen zu müssen.
© IFS – Internationale Filmschule Köln
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