Deutsche Intelektuelle
Grauen vor dem digitalen Morgen
Stecken die Dichter und Denker unserer Tage in einer Identitätskrise? Obwohl sich die Welt in einem permanenten digitalen Wandel befindet, obwohl alte politische Gewissheiten nicht mehr gelten, und obwohl die Naturwissenschaften regelmäßig neue Horizonte vermessen, gibt es kaum noch bekannte Groß-Deuter, die den Zeitgenossen den Lauf der Ereignisse erklären. Die Beiträge des Juli-Titelthemas begeben sich auf die Suche nach den Ursachen dieses Phänomens – und nach dem Platz des Intellektuellen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Über den größten Teil des 20. Jahrhunderts hinweg pflegten Intellektuelle als Vermittler fortgeschrittenen gesellschaftlichen Wissens zu operieren. Im Zentrum ihrer Interventionen stand kulturelle Selbstaufklärung, die Korrektur rückständiger Welt- und Menschenbilder oder Wertvorstellungen. Man denke nur an die Rolle der Intellektuellen in den bundesdeutschen Debatten der fünfziger bis achtziger Jahre, etwa um Wiederbewaffnung, NS-Vergangenheit und Holocaust, Notstandsgesetzgebung, Demokratisierung der Schulen und Hochschulen, Grenzen des Wachstums, RAF, Nachrüstung, Volkszählung …
Doch nach der doppelten Zeitenwende um 1990 – dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Mauer einerseits und der Eröffnung des World Wide Web und damit der globalen Durchsetzung digital vernetzter Medien andererseits – änderte sich Grundlegendes. Immer mehr Debatten entstanden nicht mehr in intellektueller Auseinandersetzung mit der Realität, also weitgehend ungeplant, sondern als kalkulierte Kampagnen, die in immer kürzerer Folge in Redaktionsstuben ausgeheckt und dann wie Säue durch das massenmediale Diskursdorf getrieben wurden. Wenn er auch keineswegs der einzige war, der intellektuell anmutende Strohfeuer anzettelte, so war Frank Schirrmacher, der jüngst verstorbene Mitherausgeber der FAZ, als begnadeter „Erregungstechniker“ (Jens Jessen) darin doch ein unbestrittener Meister.
Ende einer Episode
Nun ist der Tod des Intellektuellen als kultureller Typus seit Anbruch der Postmoderne oft verkündet worden. Jean-François Lyotard beschrieb 1983 das „Grabmal des Intellektuellen“, Russell Jacoby 1987 „Die letzten Intellektuellen“ in den USA, Wolf Lepenies 1992 den „Aufstieg und Fall des Intellektuellen in Europa“, und Henning Ritter befürchtete im selben Jahr in einem „Intellektuellendämmerung“ betitelten Sammelband, „die Intellektuellen könnten nur eine Episode gewesen sein“. Doch was sich in Deutschland beobachten lässt, gewissermaßen in der Geisterstunde zwischen industrieller Abend- und digitaler Morgendämmerung, ist ja gerade nicht der Tod des Intellektuellen, sondern vielmehr sein irrlichterndes Weiterwirken – als Untoter; teils die heraufziehende digitale Kultur ignorierend, teils sie erbittert bekämpfend.
In historischer Perspektive überrascht das wenig. Denn Medien machen Menschen, gerade auch geistige Menschen, die nicht nur Medien konsumieren, sondern sich ihrer zum öffentlichen Ausdruck bedienen. Das Aufkommen radikal neuer Medien bewirkte insofern in der Regel nicht nur jeweils einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas), sondern produzierte auch neue Typen des geistigen Menschen. Im Gefolge des Buchdrucks entstand – als Vorgänger des Intellektuellen – der Typus des Gelehrten. Im deutschen Sprachraum fand er seine idealtypische Verkörperung in „Polyhistoren“ – also Universalgelehrten – wie Johann Wolfgang von Goethe oder Alexander von Humboldt, herausragenden Protagonisten einer sich verbürgerlichenden Elitekultur.
Abhängigkeit von den Medien
Die fortschreitende Industrialisierung ließ im Laufe des 19. Jahrhunderts den Gelehrten jedoch zu einer historischen Figur werden. Kunst und Wissenschaft trennten sich und damit die Anstrengung, den Sinn menschlichen Lebens und die Wahrheit der materiellen Welt zu verstehen. Wissenschaftler arbeiteten in neuen, immer enger definierten Disziplinen. Auch die ästhetische Produktion differenzierte sich aus. Dieser Prozess der arbeitsteiligen Organisation geistiger Arbeit hinterließ im öffentlichen Leben eine Lücke: die Befähigung zur Reflektion des Universellen und Fürsprache des Allgemeinen. Der neue industrielle Typus des Intellektuellen sollte sie füllen.
Der Begriff selbst kam um die Wende zum 20. Jahrhundert auf, im Kontext der Dreyfus-Affäre und Émile Zolas „J’accuse“. Im Vergleich zum Gelehrten vor- und frühindustrieller Kultur kennzeichnete den öffentlichen Intellektuellen der entwickelten industriellen Kultur dreierlei: Er war zum einen anerkannter Spezialist – als Romanautor oder Dramatiker, als Publizist oder Akademiker. Zum zweiten nahm er die Position eines intellektuell wie sozial Unabhängigen ein, der sich gewissermaßen interessenlos einmischte. „Ein Intellektueller, der sich an die Herrschenden heranmacht“, schrieb der Romancier Heinrich Mann, „begeht Verrat am Geist.“ Und Jean-Paul Sartre, der Voltaire der fünften Republik, meinte: „Der Intellektuelle ist jemand, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen.“ Um das aber zu können, musste zum dritten der Intellektuelle professionellen Zugang zu den Massenmedien besitzen. Als Spezialist mochte sein primäres Ausdrucks- und Reputationsmedium noch das Buch sein, als öffentlicher Intellektueller jedoch publizierte er vor allem in Zeitschriften und Zeitungen.
Insofern führt im deutschen Sprachraum eine klare Linie von Karl Kraus und seiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts intellektuell ungemein einflussreichen Zeitschrift Die Fackel über Kurt Tucholsky und Die Weltbühne zu Hans Magnus Enzensberger und den von ihm begründeten Zeitschriften Kursbuch und TransAtlantik: Gemeinsam war diesen führenden Intellektuellen verschiedener Epochen, dass sie sich als Sprachrohre und kulturelle Kommunikatoren verstanden und daher sich die Machtbasis eigener Publikationsorgane schufen, um von den etablierten Massenmedien unabhängig opponieren zu können.
Gerade an der Karriere Enzensbergers lässt sich der Aufstieg und Niedergang massenmedialer Öffentlichkeit nachzeichnen. Da der Erfolg von Kursbuch wie TransAtlantik auf kleinere Kreise beschränkt blieb, banden sich Enzensbergers Interventionen als öffentlicher Intellektueller wesentlich an drei mächtige „Institutionen“ bundesdeutschen Geisteslebens: Joachim Unselds Suhrkamp-Verlag, bei dem Enzensberger das Gros seiner Schriften verlegte; Rudolf Augsteins Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dessen recht regelmäßiger Autor und Interviewpartner er war, sowie seit den neunziger Jahren auch Frank Schirrmachers Frankfurter Allgemeine Zeitung. In demselben Maße aber, in dem diese Institutionen, weil sie analoger Medialität und vordigitalem Denken zu lange verhaftet blieben, an kulturellem Einfluss – zumindest für die jüngeren Generationen – verloren, schwand Enzensbergers Sichtbarkeit als öffentlicher Intellektueller. Seine jüngsten Verlautbarungen – etwa die in der FAZ im Februar publizierten, rückwärtsgewandten „Regeln für die digitale Welt“: „Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg“, „Waren oder Dienstleistungen via Internet sollte man meiden” usw. – stießen, wenn sie denn im Netz überhaupt wahrgenommen wurden, primär auf Spott. Eine vergleichbare Unfähigkeit, die in der vordigitalen Öffentlichkeit erworbene Reputation in die digitale zu übertragen, ließe sich für viele andere bundesdeutsche Intellektuelle konstatieren.
Kapitulation vor der Gegenwart
Müsste man ein einzelnes Ereignis benennen, in dem der stete Realitätsverlust intellektuellen Denkens kulminierte, so wäre das der FAZ-Abdruck einer Teilsequenz des menschlichen Genoms im Jahr 2000 – „sechs Zeitungsseiten Buchstabensalat, der dem Laien unverständlich bleiben musste“ (Hansjörg Müller). Und eben nicht nur ihm, sondern auch der Mehrheit der deutschen Intellektuellen. Mit dieser Demonstration begann in Jens Jessens Worten „der Triumph des Performativen über die Semantik“. Geisteswissenschaftlich geschulte Intellektualität kapitulierte vor einem zentralen Thema digitaler Kultur. Die öffentlichen Intellektuellen entäußerten sich der „Macht der Kritik“, die Umberto Eco ihnen einst als zentrale Befähigung attestierte. Mit der unkommentierten Publikation des genetischen Codes – seiner Zuschaustellung als unerklärlicher Schrecken – wurde in einem führenden Feuilleton der Anspruch aufgegeben, Vorreiter des Zeitgeistes zu sein. Stattdessen betätigte man sich von nun an primär als Nachtreter.
Zwar blieb der Wunsch, öffentlich Einfluss zu nehmen. An die Stelle inhaltlicher Partizipation an gesellschaftlich wirksamen Debatten trat jedoch das inszenierte „Stakkato der Coups“ (Thierry Chervel). Die Babyboomer-Intellektuellen beschieden sich, wie Ursula Weidenfeld schreibt, „Kinder des 20. Jahrhunderts“ zu bleiben: „Sie fürchten das Neue, weil es die Welt verändern und ihre eigene Welt vernichten wird. […] Die Kraft und die Phantasie, die neue Welt, die neuen Möglichkeiten so zu gestalten, dass sie nicht nur Bedrohung sind – sondern Freiheit – muss eine nächste Generation aufbringen.“ Wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Gelehrte, so erscheint daher nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Intellektuelle industrieller Prägung als historische Figur. Mit der Industrialisierung kam er über die Welt, und mit dem Vergehen dieser Epoche scheint er wieder zu verschwinden.
Strukturwandel der Öffentlichkeit
Vor unseren – ängstlichen, staunenden, freudigen – Augen vollzieht sich ein weiterer, dritter Strukturwandel der Öffentlichkeit. Wieder einmal, wie im Gefolge von Renaissance und Mechanisierung, Aufklärung und Industrialisierung, werden mit neuer Technologie, dem digitalen Transmedium, die Gewissheiten intellektuellen Lebens in Frage gestellt: die Dauerhaftigkeit und Gültigkeit von Wissen, die Art und Weisen, es zu speichern und zu distribuieren. Die Schwarm-Öffentlichkeiten des Netzes reduzieren die Bedeutung des Massenmedialen. Was also mag kommen nach dem verschwindenden Typus des Intellektuellen industrieller Prägung?
Den Weg mag einmal mehr der Blick auf die Mediengeschichte weisen. Produzierte der Buchdruck den Gelehrten und ließen die industriellen Massenmedien den öffentlichen Intellektuellen entstehen, so dürfte nun die digitale Vernetzung Protagonisten geistigen Lebens aufsteigen lassen, die das neue Transmedium zur kulturellen Selbstaufklärung nutzen. Vor über zwanzig Jahren prägte ein Redakteur der New York Times für diesen neuen Typus – in Analogie zu den Begriffen „Literati“ und „Glitterati“ – den Ausdruck „Digerati“. John Brockman zählte Mitte der neunziger Jahre zu ihnen digitale Vordenker wie John Perry Barlow, Howard Rheingold, Stewart Brand, Kevin Kelly, Esther Dyson, John Markoff, Sherry Turkle und Jaron Lanier, der nun – sozusagen als Renegat – den Friedenspreis des deutschen Buchhandels empfangen soll. In den USA wären seitdem viele andere zu nennen – und eine Vielzahl einflussreicher digitaler Plattformen.
Ihre deutschsprachigen Äquivalente, Medien und Denker, die fundamentale Fragen digitaler Kultur reflektieren, so diverse Probleme wie etwa Urheberrecht und Genetik, Datensouveränität, künstliche Intelligenz oder Transhumanismus, lassen sich freilich bis heute kaum auffinden. Zum einen verweigern sich die wenigen intellektuellen Publikationen des deutschen Sprachraums – etwa Lettre, Merkur oder das wiedergängerische Kursbuch – im Gegensatz zu ihren erfolgreicheren angelsächsischen Gegenstücken – etwa The Atlantic, The New Yorker oder New Republic – dem Netz und seinen Nutzern. Zum zweiten fehlen hierzulande weiterhin genuin neue Plattformen, transmediale Äquivalente zu den Zeitungen und Zeitschriften der intellektuellen Debatten des 20. Jahrhunderts.
Die wenigen Beispiele – Thierry Chervels und Anja Seligers „Perlentaucher“, das einst von Robin Meyer-Lucht begründete „Carta“ oder Markus Beckedahls gerade mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnete Portal „Netzpolitik.org“ – krebsen aller Qualität zum Trotz mehr schlecht als recht. Damit eröffnet sich Ablegern amerikanischer Plattformen wie „Huffington Post“ oder „Politico“ eine historische Chance, sich zu positionieren – im Niemandsland zwischen Kolonialisierung und Globalisierung der deutschen Debatten.
Was also müsste sich ändern, um die intellektuelle Reflektion digitaler Kultur zu befördern? Zweierlei wohl. Zum einen die Verzagtheit und Unterfinanzierung der in Deutschland immer noch recht machtlosen Onliner. Zum andern die Verbocktheit der weiterhin recht einflussreichen, aber finanzieller Degradierung entgegen hinkenden Offliner.
In letzterer Hinsicht besteht nun neue Hoffnung. Zwar ist der Tod eines Individuums nie zu etwas gut. Der Tod ist unser aller Feind. Die Lücke aber, die Frank Schirrmachers Sterben in die fatale Phalanx des Zombie-Denkens gerissen hat, könnte sich als intellektuelle Öffnung erweisen, als Ende einer Ära, als Fluchtweg aus dem Gefängnis der Gestrigkeit, dessen versierter Konstrukteur und Wärter er war. Wir haben einmal mehr die Gelegenheit, einen Ausweg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu finden.
© IFS – Internationale Filmschule Köln
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