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Zwischenstühler

Titelthema - Zwischenstühler
Stolzenhagen, Brandenburg: Tereza und Jörg Bodemann leben hier seit den Nullerjahren. Das Paar – er stammt aus Hessen, sie aus Ruanda – ist nicht nur künstlerisch aktiv, sondern betreibt auch ein Gästehaus. Während der gemeinsamen Restaurierungsarbeiten auf dem alten Gutshof seien die Barrieren zu den Anwohnern früh gefallen, berichten sie. © Ina Schoenenburg/Ostkreuz

Von Freude und Enthusiasmus zu Unverständnis und Misstrauen – es fehlt an einer gemeinsamen Erzählung

Johann Michael Möller01.09.2024

Unsere Erinnerungen an den Mauerfall sind einem glücklichen Moment der jüngsten Geschichte geschuldet. Doch sie täuschen über die wahren Umstände jener Zeit hinweg. Im Wendejahr 1989 hatte kaum noch jemand diesseits oder jenseits der innerdeutschen Grenze damit gerechnet, dass die Mauer jemals fallen würde. Man hatte sich mit ihr eingerichtet, auch wenn diesem Eindruck später gerne widersprochen wurde. Wer im Westen an die Wiedervereinigung glaubte, galt als hoffnungsloser Idealist; und den Deutschen in der DDR waren solche Träume ohnehin verboten. Weshalb sich die Bürgerrechtler lieber einreihten in die Freiheitsbewegungen des Ostens.

Der früh verstorbene Regensburger Politikwissenschaftler Jens Hacker hat kurz nach dem Mauerfall aufgeschrieben, wie bereitwillig sich die politischen Eliten der alten Bundesrepublik mit der Teilung unseres Landes und der Existenz zweier deutscher Staaten abgefunden hatten. Selbst die spätere Partei der Einheit, die CDU, überlegte kurz vor dem Mauerfall noch, das Wiedervereinigungsgebot aus ihrem Grundsatzprogramm zu streichen. Der Gedanke an die deutsche Einheit passte nicht mehr in die späte Bundesrepublik. Und das Gedenken daran war – bis auf wenige Ausnahmen – zur politischen Floskel verkommen.

Das Band der Nation war nie zerrissen

Umso überraschender war die Herzlichkeit, mit der sich die Deutschen nach Jahrzehnten der Teilung und Entfremdung plötzlich wieder in den Armen lagen. Es wuchs damals tatsächlich zusammen, was einst zusammengehörte. Der unbeirrbare Patriot Willy Brandt hat dieses Wort zur Stunde geprägt. Er befand sich damals auf einer Rundreise zu den alten Parteitagsstätten der deutschen Arbeiterbewegung und hat viele von uns damals mitgenommen in seine Vision von der Einheit.

Das Band der Nation war nie zerrissen. Auch wenn sich die berufsmäßige Schar der westdeutschen Einheitsverleugner bald daranmachte, die in ihren Augen fatale Entwicklung mit Vehemenz zu bestreiten. Eine Welle der Sympathie und der Hilfsbereitschaft ergoss sich stattdessen über das Land. Beim eilig improvisierten Begrüßungsfest der hessischen CDU im grenznahen Philippsthal hatte man höchstens mit wenigen Tausend Besuchern gerechnet. Die zehnfache Menge war schließlich gekommen. Als sich Monate später Jenaer Studenten mit ihren akademischen Lehrern aus allen Teilen des Landes am Fuße der Wartburg trafen, konnte man sich schon kaum mehr vorstellen, dass nur einen Steinwurf entfernt die tödliche Grenze verlief.

Erstaunen und Unverständnis

Wer in der Rückschau die Wiedervereinigung zu einem großen gesellschaftspolitischen Missverständnis erklärt, hat diese Tage des Glücks nicht erlebt. Oder sie passten ihm nicht in den Kram. Ich kann mich an einen Berliner Kollegen erinnern, der sich in der Nacht der Maueröffnung lieber die Bettdecke über den Kopf zog, anstatt zu berichten. Er wollte, wie er mir später gestand, den Untergang seiner politischen Welt nicht mitansehen müssen. Oder der Leiter eines Arbeitsamtes im damaligen Bezirk Halle, der den wartenden Arbeitssuchenden triumphierend zurief: „Wärt ihr im Herbst nicht auf die Straße gegangen, dann stündet ihr heute nicht hier.“

Wer im Nachgang in den politischen Kommentaren im Westen blättert, stößt immer wieder auf Erstaunen und Unverständnis. Dass die Friedliche Revolution die deutsche Nation wieder auf die Tagesordnung gesetzt hatte, haben ihr die postnationalen Linken nie wirklich verziehen. So bezeichnete die Zeitschrift Kommune die Wiedervereinigung 1990 allen Ernstes als eine „Besetzung der Bundesrepublik durch die DDR“, was derselben gehässigen Behauptung entsprach, die Wiedervereinigung sei eine feindliche Übernahme des Ostens durch den Westen gewesen.

Die große Freude überwog

Die allgemeine Stimmung war damals zum Glück anders, und die Freude über die Freiheit schien riesengroß. Natürlich waren sofort auch die Wende ge - winn ler zur Stelle, die Glücksritter und jene, die sich im Osten eine Sprungkarriere erhofften. Mir ist ein Bewerber für das Amt des Rechtsdezernenten in einer ostthüringischen Stadt in Erinnerung geblieben, dem man im Westen die Zulassung als Anwalt entzogen hatte, und der in aller Offenheit meinte: Für den Osten habe es doch noch gereicht.

Ich kann mich aber genauso an die zahllosen Aufbauhelfer erinnern, die ihren Einsatz in den entstehenden neuen Ländern mit ihrer Gesundheit bezahlten. Viele Ehen sind damals zerbrochen; und viele dieser Enthusiasten sind bald auch wieder gegangen. Es war nicht nur das Buschgeld, das sie in den Osten gelockt hatte. Es war ein gutes Stück Patriotismus.

Erst sehr viel später ist mir aufgefallen, dass wir Wessis so gut wie nie nach unserer Lebensgeschichte befragt wurden. Was wir vor dem Mauerfall gemacht hatten, schien fast schon tabu. Und nach den Gründen, warum wir in den Osten gekommen waren, fragte man uns lieber nicht. Es können, da war man sich offenbar sicher, nur materielle Interessen gewesen sein. Dass auch die eigene Familiengeschichte eine Rolle gespielt haben könnte, glaubte man den Rückkehrern nicht. Als die Gerichtsentscheidung gegen die Rückgabe des alten Grundbesitzes in Straßburg definitiv fiel, sagte mir einer der Kläger: Auch wenn der Stammsitz seiner Familie jetzt verloren sei, bleibe doch die Verantwortung für die Heimat. Damals habe ich zum ersten Mal den Begriff von den „Zwischenstühlern“ gehört. Er klingt lakonischer als das Wort von den Wossis; und er beschreibt die Vergeblichkeit, der einen Seite die jeweils andere erklären zu können. Man befand sich eben zwischen den Stühlen.

Zerbricht das Land ein zweites Mal?

Ich frage mich trotzdem, was seither geschehen ist. Warum es plötzlich nur noch Ostdeutsche geben soll, die unter sich bleiben wollen; und einen Westen, der diesem Landesteil doch lieber den Rücken kehrt. Und ich frage mich auch, ob dieses Bild überhaupt stimmt. Für viele junge Menschen sind das nur die Gespenster von gestern. Nach den jüngsten Europawahlen lässt es sich trotzdem nicht leugnen: Das Land zerbricht gerade entlang der alten deutsch-deutschen Grenze. Vielleicht hätte man diese Entwicklung sehr viel früher erkennen müssen. Die Anzeichen dafür waren schon lange da. Mit der staatlichen Einheit ist eben keine soziale, keine wirtschaftliche Gleichheit entstanden. Das faktische Machtgefälle war viel zu groß. Es gab, auch wenn man das Wort heute kaum mehr hört, einen nicht zu verleugnenden Nachholbedarf. Und was völlig vergessen wird: Es gab das Erbe eines repressiven Regimes. Mit seinen Parteigängern wollte man keinen Neuanfang wagen.

Und es gab die viel beklagte Westarroganz; die gedankenlosen Erniedrigungen und die Überheblichkeit nicht zuletzt in der Treuhand. Aber es gab auch Respekt und Bewunderung für den politischen Mut. Ich war in der Nacht zum 3. Oktober 1990 dabei, als die NVA-Offiziere das Kommando ihrer Mot.-Schützenkaserne in Bad Salzungen an die Bundeswehr übergaben. Es war ein würdevoller, tief bewegender Moment. Zwei deutsche, vor Kurzem noch gegnerische Armeen, gaben sich wieder die Hand.

Viel tragischer dürfte gewesen sein, dass keine gemeinsame große Erzählung entstand. Das hat der postnationale Westen mit aller Kraft zu verhindern gewusst. Man kann die Folgen in der deutschen Geschichtswissenschaft sehen. DDR-Geschichte ist zum Randphänomen geworden, und die Wiedervereinigung erscheint wie ein Betriebsunfall. Der Vorteil der Ostdeutschen, sich einem reicheren Land anschließen zu können, verkehrte sich unversehens in das Gegenteil. Der Osten war zu einer schier endlosen Baustelle geworden. Man reparierte Straßen und Telefonleitungen oder versuchte, Arbeitsplätze zu retten. Dass die Friedliche Revolution ein grandioser Moment gesamtdeutscher Geschichte war, hat man im Westen nie so empfunden. Der nationale Traum verwehte ins Leere. Mir hat damals eine Leipzigerin den unvergesslichen Satz gesagt: Wir müssten doch erst wieder lernen, Deutsche zu sein. Nur dann könnten wir gute Europäer werden.

Es geht um Stolz

Man hat den Ostdeutschen damals die simple Rekapitulation des Westens angeboten, woraufhin sie sich selbst neu erfunden haben. Ihr Wahlverhalten wird man so lange nicht verstehen, wie man es mit Sozialangst oder böser Gesinnung erklärt. Denn es geht um den Stolz. Die Wendeverlierer sammelten sich einst bei den Postkommunisten; die AfD profitiert von der neu entstandenen Ostidentität. Das hat etwas mit den materiellen Unterschieden zu tun, aber viel mehr noch mit Heimat, Würde und dem Wunsch, wieder Herr im eigenen Hause zu sein. Die politische Selbstverantwortung, die man in den ersten Jahren der Einheit viel zu bereitwillig preisgab, wird jetzt mit großem Zorn zurückgefordert. Der Preis dafür könnte bitter sein; er könnte die liberale, die freiheitliche Gesellschaft kosten.

Vielleicht ist es nur eine Generationenfrage. Vielleicht wächst sich das Problem im Laufe der Zeit aus, und ein friedfertiger Alltag kehrt ein. Wenn man heute über einen Campus wie in Halle, Chemnitz oder Frankfurt an der Oder geht, wird man vielen unterschiedlichen Biografien begegnen. Der alte Ost-West-Gegensatz spielt in Wahrheit kaum noch eine Rolle. Aber die Politik richtet sich nicht danach. Die rechtsradikale Gesinnung ist zum Pop-Phänomen geworden, was nichts an ihrer Gefährlichkeit ändert. Um die AfD ist eine fatale Aura des Neuen, des Unangepassten entstanden. Der Osten verändert inzwischen die Republik, was sich der Westen nie hätte träumen lassen. Dringender denn je braucht es die freiheitliche, die demokratische Erzählung. Aber sie muss, was sie nie war, endlich eine gesamtdeutsche Erzählung sein.