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Ein Buch für die Ewigkeit
Der Frankfurter Übersetzer Rainald Simon hat den großen chinesischen Volksroman „Die Räuber vom Liang-Schan-Moor“ in jahrzehntelanger Arbeit ins Deutsche übersetzt. Das Buch ist unter dem Titel „Überlieferung von den Ufern der Flüsse“ erschienen, wirkt zeitlos und ist doch verblüffend aktuell.
Dass Bücher ihre Schicksale haben, gehört zu jenen geflügelten Worten, die im Laufe der Zeit ihren ursprünglichen Sinn eingebüßt haben. Denn nicht die Bücher selbst meinte einst der Verfasser dieser Sentenz, der spätantike Philologe Terentianus Maurus, sondern das Auffassungsvermögen des Lesers, „pro captu lectoris“, wie es im Original heißt.
Es gibt viele Bücher, deren Schicksale sprichwörtlich geworden sind, aber wohl nur wenige, die das Fassungsvermögen der westlichen Leser derart überfordert haben wie die großen Sittenromane der klassischen chinesischen Literatur. Eigentlich sind sie in ihrer Originalfassung nahezu unlesbar und überhaupt nur in freien Übertragungen, also in Nachdichtungen, verständlich, die sie jedoch ihrer komplizierten Erzählstruktur beraubt und unseren europäischen Lesegewohnheiten angepasst haben.
In solchen quasi entschlackten Versionen fanden sie Eingang in die Bibliotheken der, wie man früher sagte, gebildeten Kreise, wo man sie jedoch lieber unter Verschluss hielt, um sie den erotischen Fantasien nachwachsender Leser zu entziehen. In Bibliotheken lagen sie dann im legendären Giftschrank unter Verschluss. Der Traum der roten Kammer, der wohl berühmteste dieser Romane, galt lange Zeit als besonders verrucht. Aber auch das nicht minder bekannte Djin Ping Meh gehörte zu den heimlichen Lektüreerlebnissen von Generationen, die sich ihre sexuelle Aufklärung noch auf exotischen Umwegen besorgen mussten.
Unzüchtiges Schrifttum verbreitet
Dass diese Werke im deutschsprachigen Raum überhaupt zur Kenntnis genommen wurden, verdanken sie dem Leipziger Verleger Anton Kippenberg, der sich in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts sehr wohl im Klaren darüber war, eine schmerzhafte Lücke im europäischen Bildungskanon zu schließen. In dem jungen, damals noch völlig unbekannten Sinologen Franz Kuhn fand er einen kongenialen Übersetzer. Als Kuhn sich dem Verleger vorstellte, soll Kippenberg ihn gefragt haben: „So, sie können also Chinesisch? Können Sie denn auch Deutsch?“
Diese Frage sollte sich bald nicht mehr stellen. Ohne Franz Kuhn, ohne dessen grandiose erzählerische Begabung und seinen Mut zur Komprimierung und Eindeutschung hätten diese ausufernden Werke wohl kaum ihren Platz unter den großen Büchern der Weltliteratur gefunden. Die immer wieder neu aufgelegten Ausgaben des alten Insel Verlags stehen bis heute in den Privatbibliotheken des deutschen Bürgertums.
Was im deutschsprachigen Raum freilich lange gefehlt hatte, waren textgenaue Übertragungen, die einen wirklichen Einblick ermöglichten in die fremdartige Welt dieser chinesischen Literatur, zumal die akademische Zunft der Sinologen dem populären Übersetzer Franz Kuhn mit großer Skepsis entgegentrat, ihn geradezu verachtete, wie die Sinologin Dagmar Lorenz offen bekannte. Als Grundlage für eine seriöse wissenschaftliche Beschäftigung jedenfalls lehnten die meisten Fachleute die Kuhnschen Nachdichtungen ab, und nur wenige Vertreter des Faches hatten später die Größe, anzuerkennen, was Franz Kuhn für die Wahrnehmung der klassischen chinesischen Literatur geleistet hat. Doch originalgetreue Übersetzungen blieben weiterhin ein Desiderat.
Schon in den 30er Jahren und fast zeitgleich mit Kuhn begann deshalb ein anderer Übersetzer, der Jurist Otto Kibat, der viele Jahre für ein Handelsunternehmen in China gearbeitet hatte, zusammen mit seinem Bruder Artur den zweiten großen Roman, das berühmte Djin Ping Meh aus der Ming-Zeit, textgetreu ins Deutsche zu übertragen. Es existierte damals zwar schon eine solche Version aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber die blieb lange verschollen, und auch das Unternehmen der Gebrüder Kibat stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Der Nazi-Zensur waren sowohl das Sujet als auch die Übersetzer suspekt. Sie galten als nicht linientreu. Die Ende der 20er Jahre erschienenen ersten beiden Bände des Djin Ping Meh fielen jedenfalls Bücherverbrennungen zum Opfer. Und für die katholische Kirche standen diese Werke noch lange nach Kriegsende auf dem Index.
Es sollte Jahrzehnte dauern, bis der Zürcher Verlag Die Waage den Mut aufbrachte, die Gesamtübersetzung in einer fünfbändigen Ausgabe (plus Kommentarband) zu veröffentlichen. Das war Ende der 60er Jahre. Noch gut zehn Jahre zuvor hatte der Verleger Felix Wiesner aufgrund eines anderen von Franz Kuhn übersetzten chinesischen Romans einen Prozess wegen Verbreitung unzüchtigen Schrifttums verloren und musste die gesamte Auflage einstampfen. Auch die Kibatsche Ausgabe des Djin Ping Meh fand zunächst wenig Resonanz. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki kommentierte das Erscheinen des Gesamtwerks damals in der Literaturredaktion der FAZ mit der süffisanten Bemerkung: „Chinesische Literatur? Gibt es die überhaupt?“
„Die Räuber“ hatten es leichter
Im Vergleich dazu hatte es der dritte der großen chinesischen Romane, die berühmte Räubergeschichte um die Rebellen vom Liang-Schan-Moor wesentlich leichter. Schon die englische Übertragung von Pearl S. Buck unter dem zugkräftigen Titel All Men Are Brothers trug viel zur Popularität dieses weitschweifenden Rebellenepos bei. In Deutschland war es wieder Franz Kuhn, der mit einer stark komprimierten Fassung den Räubern vom Liang-Schan-Moor zu großer Bekanntheit verhalf. In den 70er Jahren nahm sich sogar das Fernsehen des Stoffes an und produzierte in japanisch-chinesischer Co-Produktion erfolgreiche Serien, die auch in der ARD ausgestrahlt wurden.
Der Stoff bot sich für eine solche Popularisierung geradezu an. Eine Rebellenarmee mit ihren 108 Anführern um die Zentralfigur des ehemaligen Amtsschreibers Sung Kiang (wie er in der Kuhnschen Version heißt), eine Art chinesischer Robin Hood und in all seinen Widersprüchen ein erstaunlich „moderner Charakter“ (Rainald Simon), kämpft gegen die korrupten Verhältnisse der damaligen Zeit. Die Bande verschanzt sich in einer Bergfestung am Liang-SchanMoor, wo sie eine Art Gegenstaat errichten, der sich im neukonfuzianischen Sinne der Rückbesinnung auf die klassischen Tugenden verpflichtet fühlt. Dass es bis auf wenige Ausnahmen eine reine Männerwelt war, hat dem Buch den Vorwurf eingebracht, zutiefst misogyn und frauenfeindlich zu sein. Wie überhaupt Gewaltdarstellungen in ihrer exzessiven Form den gesamten Roman durchziehen.
Auch im Falle der Räuber vom Liang-Schan-Moor fehlte lange eine philologisch getreue Übersetzung, der sich schließlich der Frankfurter Übersetzer Rainald Simon in einer jahrzehntelangen Arbeit annahm. Das gewaltige Werk mit fast schon 2000 Seiten auf Dünndruckpapier ist jetzt im Insel Verlag unter dem spröden Titel Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse erschienen, was eine Verlagsleistung darstellt, die in heutigen Zeiten kaum noch zu erwarten ist.
Recht und Unrecht, immer wieder
Wer aber soll diesen Wälzer kaufen? Die Wissenschaftler wahrscheinlich; und daneben wird es vielleicht noch eine kleine Schar von Liebhabern geben, die diese sehr fremde Welt des alten Chinas kennenlernen wollen. Aber im Grunde, so der Sinologe und Lyriker Wolfgang Kubin, hat da „ein Fachmann vielleicht ein Leben lang für eine Fachfrau als der einzigen Leserin gearbeitet“. Oder anders gesagt: Er hat „für die Ewigkeit geschrieben“.
Dieser Fachmann lässt seine gewöhnlichen Leser zum Glück nicht im Stich und führt sie in seinem Nachwort durch das Labyrinth dieses kolossalen Werks, in dem es eben nicht nur um „Erbitterte Schlachten, Intrigen, Treue und Verrat“ geht, wie der Verlag annonciert, sondern auch um eine politische Gegenwelt zu der bestehenden Ordnung, der die Aufrechten im Lande die Loyalität aufgekündigt haben. Es ist die alte, immer wiederkehrende Geschichte von den anständigen bürgerlichen Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen und wider Willen zu Gesetzlosen werden. Sie handeln gesetzlos, aber berufen sich auf ein höheres moralisches Recht. Und am Ende kehren diese Entrechteten freiwillig in die alte Ordnung zurück.
Man kann die Übersetzungsleistung tatsächlich zeitlos nennen. Aber diese auf den ersten Blick so fremd und antiquiert wirkende Geschichte der Räuber vom Liang-Schan-Moor hat während ihrer langen Wirkungsgeschichte immer wieder eine erstaunliche Brisanz bekommen. Die beiden historischen Fassungen, die von diesem Roman überliefert sind, lesen sich heute wie zwei gewaltige Parabeln auf die jüngste chinesische Geschichte: Entweder fordert man die permanente Revolution wie Mao oder fügt sich am Ende in den Friedensschluss mit der bestehenden Ordnung.
Vielleicht ist es kein reiner Zufall, dass diese schon vor Jahrzehnten begonnene Übersetzung ausgerechnet in diesen Tagen erscheint. Denn vor dem Hintergrund unserer heutigen, zutiefst gespaltenen Gesellschaften bekommt die Geschichte der Räuber vom Liang-Schan-Moor eine verblüffende Aktualität. Man kann dieses Buch tatsächlich zeitlos nennen, weil es uns zu gänzlich verschiedenen Zeiten doch immer wieder in neuer Bedeutung erscheint.
Shī Nàiān und Luó Guànzhōng
Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse
Übersetzt von Rainald Simon,
Insel Verlag 2024,
1879 Seiten, 98 Euro
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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