https://rotary.de/gesellschaft/ein-teil-von-uns-a-24222.html
Forum

Ein Teil von uns

Forum - Ein Teil von uns
Viehmarkt auf dem Marktplatz in Soest, um 1900: Wer zum Markt ging, tat gut daran, sich mit den dortigen Gepflogenheiten und dem gängigen Jargon vertraut zu machen. Das galt für Händler wie für Bauern, für Juden wie für Nichtjuden © Stadtarchiv Soest

Das Schicksal der jüdischen Landbevölkerung vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zu lange ignoriert. Ein neues Buch stößt in diese Lücke und zeigt, dass sie integraler Bestandteil unserer Gesellschaft war

Johann Michael Möller01.10.2024

Clemens Frenkel war kein bahnbrechender Künstler. Aber er hatte sich als Landschaftsmaler der Münchner Malerschule einen Namen gemacht. In den letzten Monaten des Krieges hatte er in seinen Bergen Zuflucht gesucht, wurde in Cortina d’Ampezzo von den Nazischergen aufgegriffen und in das Vernichtungslager Auschwitz verbracht, wo sich seine Spur verliert.

Der italienische Schriftsteller Primo Levi, der im selben Transport war, hat die Ankunft dieser Häftlinge an der Selektionsrampe beschrieben.

Von Korn- und Viehjuden

Frenkel, der 1872 in Frankfurt am Main geboren wurde, entstammte einer alteingesessenen landjüdischen Familie aus Urspringen in Unterfranken. Er hatte seinen Stammbaum in Gestalt einer deutschen Eiche gemalt, der im Stadtarchiv Zürich überdauerte. Die Frenkels waren über ganz Europa verstreut, aber ihre Wurzeln lagen in Franken. Dort hatten sie über Generationen gelebt und verkörperten jenes Landjudentum, das über Jahrhunderte zum dörflichen Leben in Deutschland gehörte; geduldet, verachtet, verfolgt und dann doch wieder akzeptiert. Aus den Kesselflickern, Viehhändlern und Geldverleihern waren vielfach geachtete Bürger geworden. Das hat sie nicht vor den Nazis geschützt. Viele dieser landjüdischen Gemeinden haben die Schoah nicht überlebt; die Familien wurden ermordet oder in alle Winde zerstreut. Ihre bescheidenen Synagogen hat man noch in der Nachkriegszeit abgerissen oder zweckentfremdet genutzt; und ihre Friedhöfe wurden zum Teil überbaut. Die Erinnerung an diese ländliche Form jüdischen Lebens hat lange gebraucht, um zum Thema der Geschichtsforscher zu werden. Selbst „in den Augen der städtischen Juden“, fasst die Historikerin Monika Richarz diesen Umstand zusammen, „waren die Landjuden fromm, ungebildet und wirtschaftlich zurückgeblieben“. Für die übrige Landbevölkerung repräsentierten sie dagegen „ein städtisches Element auf dem Dorf“. Von beiden Seiten also hat man ihnen Misstrauen entgegengebracht.

Die Geschichte der Juden in Deutschland blieb deshalb in der vordergründigen Wahrnehmung an das urbane Leben geknüpft. Dabei sind die jüdischen Existenzformen auf dem Land sogar sprichwörtlich geworden: die Kornjuden, wie die Getreidehändler hießen; oder die viel geschmähten Viehjuden, von denen es hieß, sie trieben den verschuldeten Bauern das letzte Kalb aus dem Stall. Doch auch den Landjuden gelang mitunter im 19. Jahrhundert der soziale Aufstieg; sie wurden Landwirte, Ärzte, Unternehmer und Fabrikanten. In Minden stellten die Gebrüder Michelsohn die ersten Traktoren her. Man war in der arrivierten Gesellschaft angekommen.

Es ist deshalb auch gar nicht so verwunderlich, dass ein populärer Schriftsteller wie Berthold Auerbach, der eigentlich Moses Baruch Auerbacher hieß und nach dem Vorbild des Großvaters Rabbiner werden sollte, mit seinen berühmten Dorfgeschichten die Schwarzwaldromantik begründet hat. Und dass das typisch bayrische Dirndl um die Wende zum letzten Jahrhundert von zwei jüdischen Tuchhändlern aus Westfalen erfunden wurde, hat man in Bayern gerne aus dem Gedächtnis verdrängt. Dabei war das Ladengeschäft der Gebrüder Wallach über Jahrzehnte die erste Adresse für Trachtenmoden in der Münchner Innenstadt. Ausgerechnet ihnen, die über Jahrzehnte die Schätze der Volkskultur Mitteleuropas zu bewahren und neu zu gestalten versucht hatten, teilte der Reichskunstkammerpräsident Adolf Ziegler 1937 mit, dass ihnen die Eignung zur Förderung deutscher Kultur fehle. Die Arisierung des Unternehmens war kurze Zeit später die zwangsläufige Folge.

Gegen das Vergessen

Nachlesen kann man diese beeindruckenden Geschichten in einem Bildband des Journalisten und Heimathistorikers Gisbert Strotdrees, in dem dieser seine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem jüdischen Landleben in Westfalen zusammengefasst hat. Sicher, man merkt dem Buch noch an, dass es aus einer Artikelserie hervorgegangen ist. Das Episodenhafte in der Kapitelaufteilung überwiegt. Aber Strotdrees breitet eine so profunde Kenntnis vor dem Leser aus, dass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Scheinbar mühelos gelingt es ihm, das Panorama einer vergessenen Welt vor den heutigen Augen wieder aufzuziehen, weshalb man sich fragt, warum es bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein gedauert hat, bis man das Landjudentum als Forschungsthema so richtig entdeckte.

Schon der Begriff ist problematisch und eine sehr junge Wortschöpfung. Und die Idee vom fahrenden Volk und den fliegenden Händlern schuf lange den willkommenen Kontrast zur gängigen Vorstellung bodenständigen Lebens. Die jüdische Gemeinde, die Kehillah, war eben nicht nur auf einen bestimmten Ort beschränkt, sie meinte, wie man auf Schwäbisch noch heute sagt, die ganze umliegende „Medine“.

2024, ein teil von uns, möller
Der Viehhändler Hugo Spiegel wurde 1962 Schützenkönig in Warendorf © Jüdisches Museum Berlin/Nachlass Brill/Leonard Freed

Wie eng diese Leben mit der christlichen Landbevölkerung trotzdem verflochten waren, zeigt der Autor an sehr vielen Beispielen. Die lange Liste der jüdischen Schützenköniginnen und Schützenkönige in Westfalen ist eindrucksvoll. Der Vater Paul Spiegels, des früheren Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland, war Schützenkönig in Warendorf; Westfalen war trotz Verfolgung und Trauer immer seine Heimat geblieben.

Man muss dem Landwirtschaftsverlag in Münster tatsächlich dankbar sein, dass er ein solches Buch möglich gemacht hat. Und dass der Landwirtschaftliche Versicherungsverein dieses Vorhaben unterstützt, verdient gleichwohl allen Respekt. Aber das zeigt auch, woran es immer noch mangelt: am schlichten Verständnis dafür, dass jüdisches Leben in Deutschland kein Randthema ist, sondern ein wesentlicher Faktor unserer eigenen Geschichte. Und dass dieses jüdische Leben eben nicht nur in einer urbanen Tradition stand, sondern sich in weit größerem Umfang auf dem Land und in der bäuerlichen Welt abgespielt hat. Wir können ein Erbe, das wir vernichtet haben, nicht mehr zu neuer Blüte erwecken. Wir sollten es aber wenigstens unterlassen, diese doch über Jahrhunderte mit uns aufs Engste verbundene Lebensform noch nachträglich zu einer fremden zu machen. Bis zu ihrem furchtbaren Ende gehörte diese jüdische Landbevölkerung mitten ins Dorf.


Buchtipp

 

Gisbert Strotdrees:

Jüdisches Landleben. Vergessene Welten in Westfalen

Landwirtschaftsverlag, Münster 2024,

180 Seiten, 24,60 Euro