Über das Leben als Migrant im weltweit vernetzten Datenraum
Heimat im globalen Dazwischen
Gedanken zur Identität unserer Gesellschaft, die sich nicht nur in diesen Tagen auf dramatische Weise verändert, sondern auch in der Vergangenheit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterlag.
Vor einem Vierteljahrhundert bin ich in die USA ausgewandert. Meine neue Heimat aber, in der ich bis heute lebe, habe ich erst später gefunden. Zunächst zog ich damals, Anfang der neunziger Jahre, auf eine abgelegene Ranch in Arizona. Die nächste Stadt war Autostunden entfernt: keine Bibliothek weit und breit, kein Zeitschriftenladen, keine Kneipe, kein Kino, kein Kaufhaus. Wer im vergangenen Jahrhundert die Metropolen verließ, war ein „Aussteiger“, der auf all jene Annehmlichkeiten verzichtete, die nur größere Menschenansammlungen boten: gutbezahlte Jobs, ein reichhaltiges Waren- und Unterhaltungsangebot, eine Vielzahl geschäftlicher und privater Kontakte. Doch genau das wollte ich ja: Ruhe, um schreiben zu können.
Dabei verlor ich bald Kontakt zu meinen Verwandten und Bekannten in Deutschland. Transkontinentale Ferngespräche waren so gut wie unbezahlbar. Neben Brief und Fax – das ohnehin kaum jemand privat in Deutschland besaß – existierten als Kommunikationsmöglichkeit lediglich proprietäre Online-Anbieter wie CompuServe und America Online, zu denen man Zugang über teure Einwahlknoten erhielt. Vom World Wide Web war zwar bald viel zu lesen, aber erstmal nicht viel zu sehen. Die wenigen Webseiten, die es überhaupt gab, bauten sich so langsam auf, dass ich mir dabei einen Espresso machen und den gemütlich austrinken konnte. Wenn ich dann an die paar Leute, die in Europa schon E-Mail nutzten, einen Text mailte, musste ich anschließend kurz durchrufen, damit sie sich einwählten und die Mail herunterluden. Denn in Deutschland war das Online-Leben noch teurer als in den USA. Unter diesen Bedingungen war es kaum möglich, mit fernen Freunden zu kommunizieren oder die Vertrautheit mit den kulturellen und politischen Geschehnissen in der alten Heimat aufrechtzuerhalten.
Entstehung einer neuen Zivilisation
Doch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begann eine Entwicklung, die alles verändern sollte. Modems wurden schneller und lokale Einwahlknoten machten es erschwinglich, den ganzen Tag für Mail-Pingpong oder Chat erreichbar zu sein. Mehr und mehr Institutionen gingen online. Zeitungen und Zeitschriften, Bibliotheken und Archive, Banken und Buchhändler wurden virtuell zugänglich. Mit dem Siegeszug des WWW formte sich eine neue Zivilisation, in der Geographie nicht mehr Schicksal sein musste.
Plötzlich lebte ich nicht mehr nur in Arizona, sondern kommunizierte zugleich viele Stunden am Tag in Echtzeit mit Berlin oder Los Angeles, New York oder Hamburg. Aus dieser Erfahrung entstand 1996 mein Buch „Cyberland“. „Physische Nähe ist immer weniger Bedingung psychischer Nähe“, schrieb ich rückblickend: „Indem wir immer größere Teile unseres Arbeits- und Privatlebens in die Netze verlegen, werden wir zunehmend unabhängig von unserer materiellen Umwelt. 9000 Kilometer von Deutschland entfernt, in den Bergen von Arizona, habe ich in den vergangenen Jahren am medialen Geschehen in Deutschland und an persönlichen Diskussionen teilgenommen, als hockte ich in einem Berliner Zimmer.“
Die Reaktionen aus Deutschland zeigten, dass nicht wenige Leser mich für verrückt hielten. Dabei war mein neuer „lifestyle“ keine Ausnahme. Millionen von Migranten integrierten damals schneller als ihre sesshafteren Mitmenschen die neuen Kommunikationstechniken in ihren Alltag. Damit lebten sie nicht mehr an einem Ort allein, sondern pendelten zwischen vielen Orten. Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Modem. Wir richteten uns im Dazwischen ein, im Mittleren, in einem Medium – dem Internet.
Ideelle Heimat
Nun war es immer schon das Schicksal von Migranten, zumindest in der ersten Generation, zwischen den Kulturen überleben zu müssen. Eltern und viele Verwandte sind in der alten Heimat zurückgeblieben, mit Leib und Seele. Die Kinder oder Enkelkinder hingegen wachsen in der neuen Heimat auf, ebenso mit Leib und Seele. Nur die Eingewanderten selbst pendeln. Ihre Identität changiert zwischen den Heimaten. Der Schriftsteller Hans Sahl, 1933 vor den Nazis aus Berlin geflohen, sagte mir kurz vor seinem Tod in New York: „Ich bin ein Gast in fremden Kulturen.“ Sein Pendeln zwischen alter und neuer Heimat spielte sich – wie das der vielen Generationen von Migranten im 19. und 20. Jahrhundert – primär mental ab: im distanzierenden Wechsel zwischen erinnerter und verinnerlichter alter Heimat und dem Erleben der neuen Heimat. Allerdings hatte schon dieses Dazwischensein oft einen medialen Fixpunkt. „Eine geographische Heimat kenne ich nicht mehr“, sagte Sahl: „Die deutsche Sprache ist meine Heimat, von den Kindesbeinen bis heute.“
Dass nicht ein Land, sondern eine Sprache und eine Kultur die Heimat bedeuten und damit zur Quelle der eigenen Identität werden – diese Haltung hat vor allem in Deutschland eine lange bildungsbürgerliche Tradition. Sie rührt aus der jahrhundertelangen Zersplitterung des deutschen Sprachraums. In der feudalen Kleinstaaterei hatten Sprache und Literatur zu stiften, was die Politik ihren Bürgern verweigerte: die Nation; Einheit und Identität. „Ich liebe die deutsche Kunst“, schrieb etwa Theodor Fontane, „das ist mein eigentliches Vaterland, und es aufgeben, hieße mich selbst aufgeben.”
Mit der Industrialisierung des Transports und schließlich der Durchsetzung digitaler Vernetzung wurde ein solches Aufgeben immer weniger notwendig. Heute kann man migrieren und doch den alltäglichen Kontakt mit der alten Heimat halten. Diesen „Shuttle zwischen den Welten“ beschrieb die New York Times schon um die Jahrtausendwende, lange vor der Etablierung mobiler Breitbandvernetzung: „Bewaffnet mit Discount-Telefonkarten und Frequent-Flyer-Meilen, mit Modems, Faxmaschinen und Videokameras können Immigranten heute mit einer Unmittelbarkeit, die keiner vorherigen Generation zu Gebote stand, an dem Leben ihrer Familien zuhause weiter teilnehmen – sei das nun auf Barbados oder in Tibet.“ Dem Spiegel sagte Edward Snowden denn auch jüngst aus seinem Moskauer Exil: „Wenn mich Leute fragen, wo ich wohne, ist die ehrlichste Antwort: im Internet.“
Not oder Neigung folgend haben moderne Migranten wie ich ihren Körper von dem Staatsgebiet auf ein anderes verfrachtet. Doch im Kopf wie in der Kommunikation pendeln wir unentwegt zwischen den Heimaten – intellektuell wie emotional, privat wie beruflich; wobei die spezifischen bi-kulturellen Kenntnisse sich immer wieder zu Einsichten und Geschäften nutzen lassen, bei denen Menschen mit nur einer Heimat schwer konkurrieren können.
Aus diesem Sein moderner Migranten entsteht ein Bewusstsein, das sich von dem der sesshafteren, monokulturellen Bevölkerungsmehrheit wesentlich unterscheidet. Anthropologen haben das Auftauchen übernationaler Lebensformen Transnationalismus beziehungsweise Transnationalität getauft. An die Stelle naturwüchsig-blinder Identifikation mit dem nationalen Kollektiv, in das einer zufällig hineingeboren wurde, treten hybride Identitäten – individuell geformte Varianten von Zustimmung und Opposition, von Übernahme und Abwehr kultureller Werte. Migranten arrangieren sich die Soziotope, an denen sie partizipieren, als Wirklichkeit nach Maß – ein Alltag, so persönlich wie kommerzielle Webseiten, die sich jedem Besucher anders und auf seine hochgerechneten Bedürfnisse zugeschnitten zeigen.
Leben in Telesphären
Der Vergleich belegt: Längst sind Migranten nicht mehr die einzigen, die ihren Tag in Telesphären verbringen – in elektronisch vermittelten Gemeinschaften aus Freunden und Kunden, geprägt von der Auseinandersetzung mit immateriellen Symbolen, Zahlenkolonnen, Bilderfolgen oder Textmengen. Zudem entortet die Verbilligung mobiler Vernetzung auch das Alltagsleben. Der Tendenz nach können wir von jedem Ort der Welt aus auf den gesamten Wissensbestand der Menschheit zugreifen und ebenso unentwegt mit anderen Menschen kommunizieren, wo er oder sie sich auch gerade aufhalten mögen. Immer weniger sind wir daher auf die angewiesen, die gerade neben uns sitzen, Fremde wie Freunde. Näher in jedem Sinne sind uns oft andere, die abwesend-anwesend sind. Das Ergebnis lässt sich als arbiträre Globalisierung bezeichnen, d.h. als Erzeugung einer virtuell gestifteten Nähe, die der physischen Nähe an einem bestimmten Ort zunehmend den Rang abläuft. Was wiederum dem jeweiligen Ort, der Heimatstadt, dem Heimatland, die identitätsstiftende Bedeutung nimmt.
Vor einem guten Jahrzehnt kehrte ich dann, nach 15 Jahren und aus beruflichen Gründen, als amerikanisch-deutscher Doppelstaatsbürger nach Deutschland zurück. Seitdem pendele ich wie Millionen andere Berufsnomaden; in meinem Fall zwischen Köln und Berlin. Einen nicht geringen Teil meiner wöchentlichen Arbeitszeit verbringe ich so online im ICE, im geographischen wie medialen Dazwischen. Ernest Hemingway schrieb einmal über das Paris, das er verlassen musste, die Stadt sei ein „moveable feast” – eine geistige Heimat, die man mitnehmen könne, die einen nie verlasse. In diesem Sinne ist das Netz, der Datenraum, mein „moveable feast“, meine Heimat, die ich immer bei mir trage.
Gerade jetzt, da ich mir diesen Gedanken notiere, auf einem Bahnsteig in Köln, sehe ich junge Männer mit Rucksäcken und Familien mit kleinen Kindern und schweren Taschen. Während sie auf den Zug warten, mailen, texten, tweeten, skypen die meisten von ihnen auf ihren Smartphones. Irgendwo in der fernen alten Heimat sind Menschen zurückgeblieben, die sich um sie ängstigen. Irgendwo am fernen Ziel der Reise, das zur neuen Heimat werden soll, warten andere schon sehnsüchtig auf sie. 2013 lebten 3 von 100 Menschen auf diesem Planeten in einem anderen Land als dem, in das sie einmal zufällig hineingeboren wurden. Viele sind freiwillig migriert, viele geflohen. 232 Millionen Migranten bewohnen heute die Zwischenwelt, die seit bald 20 Jahren meine Heimat ist; glückliche wie unglückliche.
heimat auf allen kanälen
Die ARD-Themenwoche 2015
Heimat kann überall sein, mit einem bestimmten Geruch, einem Geräusch, einem Geschmack, einer Landschaft, mit Freunden und Familie verbunden werden. Für die einen ist der Begriff Heimat emotional, warm, vertraut. Für andere verloren, fremd und kalt. Unweigerlich denkt man dabei an die Situation der Flüchtlinge. Ihr Schicksal und das Thema Heimat gehören untrennbar zusammen.
Die ARD-Themenwoche vom 4. bis 10. Oktober nähert sich dem Begriff Heimat aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Die Hörfunkprogramme der ARD berichten u.a. darüber, wie Deutsche im Ausland leben und wie heimisch sich Zugewanderte in Deutschland fühlen. Für die jungen Radiowellen der ARD reiste der Musiker Sido quer durch Deutschland und verarbeitete seine Eindrücke in einem Heimat-Rap. Wie unser Alltag in Deutschland aussieht und welche Heimatverbundenheit wir haben, zeigt Das ERSTE am 4. Oktober: Von 6 bis 18 Uhr werden 99 Bürgerinnen und Bürger in Echtzeit durch ihren Sonntag begleitet. Die ARD-Themenwoche soll, im besten Falle, identitätsstiftend sein, zum Nachdenken anregen, Diskussionen anstoßen. Denn sich mit dem Heimatbegriff auseinanderzusetzen, ist nicht altmodisch, sondern aktueller denn je.
Joachim Knuth (RC Hamburg-Hafentor),
Programmdirektor Hörfunk des NDR und
Vorsitzender der ARD-Hörfunkkommission.
themenwoche.ARD.de
© IFS – Internationale Filmschule Köln
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