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Vom „Ende der Arbeit“ zu „Industrie 4.0“

Die Diskussion über die Zukunft der maschinellen Produktion in der post-postindustriellen Gesellschaft.

Joachim Radkau01.08.2016

Ein Buch von 1952 „Die Roboter sind unter uns“, verfasst von einem Rolf Strehl, das sich im Untertitel als „Tatsachenbericht“ ausgibt, aber fortwährend Fakten mit Prognosen vermischt und mit Überschriften wie „Die Roboter sind überall“ blanken Unsinn suggeriert, mündet in tiefen Pessimismus. Ein Kapitel trägt die Überschrift: „Die Diktatur der Automaten“. Bereits für die nähere Zukunft seien „die Perspektiven, die sich aus den Möglichkeiten der elektronischen Maschinengehirne ergeben, erschreckend genug“. Es sei keine Entwicklung, die sich weitsichtig steuern ließe, sondern ein Prozess, dem man „beinahe hilflos ausgeliefert“ sei. Dabei sei es „fast nebensächlich, ob ein globaler Krieg den Menschen die Demonstration der Macht der mechanischen Gehirne in einer brutalen Weise vor Augen führen wird oder ob eine friedliche Entwicklung die menschliche Ohnmacht vor dem dynamischen Prinzip der Technik zwar nicht so brutal, dafür aber um so deutlicher und gründlicher aufdecken wird.“

„Die Technik hat so eine Offensive großen Stils gegen die menschliche Freiheit eröffnet.“ Gerade die Ähnlichkeit der „Elektronen-Gehirne“ mit dem menschlichen Gehirn macht sie vollends unheimlich: „Elektronen-Gehirne werden geisteskrank“, lautet eine Überschrift. Sie vermittelt immerhin eine Ahnung von neuartigen Dimensionen der Störanfälligkeit in der Zukunftstechnik. Seither führt die Diskussion über Automation, Elektronik, Roboter, Kybernetik und künstliche Intelligenz über weite Strecken ihr Eigenleben. Die damit verbundenen Prognosen stehen typischerweise in der biblischen Tradition des Dualismus von Apokalypse und Paradies.

Hoffnung statt Pessimismus
Eine „große Hoffnung“ verheißt dagegen  das 1949 erschienene Opus des prominenten französischen Ökonomen Jean Fourastié (1907-1990) „Le Grand Espoir du XXe siècle – Progrès technique, progrès économique, progrès social“, das für viele Zukunftsvisionäre zum Klassiker wurde.

Fourastié war ein Protagonist der Pariser planification; kein Wunder, dass er in den Errungenschaften der Kybernetik vor allem die Chancen sah: „Die sture Fließarbeit namenloser, zur stundenlangen Wiederholung immer gleicher Bewegungen verdammter Ungelernter schien eine Vorwegnahme der Zukunft zu sein. Diese Ansicht rechtfertigt sich beim Anblick der hässlichen, lärmerfüllten und staubigen Fabriken von 1920 … ; sie dürfte jedoch heute überholt sein.“

Fourastié ging aus von den drei Sektoren Rohstoffgewinnung, Rohstoffverarbeitung und Dienstleistung und erblickte den durch die Automation gesetzmäßig vorangetriebenen Fortschritt darin, dass die bislang zu beobachtende Verlagerung des ökonomischen Schwergewichts vom ersten auf den zweiten Sektor sich nunmehr in einer „Tertiarisierung“, einer Verlagerung auf den dritten Sektor fortsetze. Wenn er diesen Prozess als „große Hoffnung“ darstellt, erkennt man einen versteckten Elitarismus: die Zuversicht, dass die Automation nur solche Tätigkeiten betrifft, die für Intellektuelle ohnehin uninteressant sind. Zwar enthält auch der Dienstleistungssektor zahlreiche subalterne Jobs; aber diese sind weder für die Politik noch für die Prognosen der Gesellschaft ein großes Thema.

In der Bundesrepublik fand Fourastié vergleichsweise wenig Beachtung. Später erblickten manche ein deutsches Verhängnis darin, dass man hierzulande noch viel zu sehr in der Maschinen-Tradition weitermache und nicht begreife, dass dem tertiären Sektor die Zukunft gehöre. Noch später dagegen wurde als deutsche Voraussicht entdeckt, dass man Fourastiés Tertiarisierungs-These nicht gar zu ernst genommen habe.

Zu dieser revisionistischen Wende gehört das zuerst 1984 erschienene Buch der Industriesoziologen Horst Kern und Michael Schumann: „Das Ende der Arbeits-teilung“. Ihm ist die Widmung vorangestellt: „wider falsche Propheten“. Wer ist gemeint? Sicherlich solche Prognostiker, die vorgeben, die Zukunft der Arbeit mit Sicherheit zu kennen, und die sich einbilden, als Folge fortschreitender Automatisierung das Ende der Arbeitsteilung oder überhaupt das Ende der Arbeit vorhersagen zu können. Da lässt sich mit ziemlicher Sicherheit nur die negative Prognose stellen: dass das nicht der Fall sein wird. In einem Fall glauben die Autoren, eine positive Prognose riskieren zu können: „Wir befinden uns im Werkzeugmaschinenbau am Anfang eines Umbruchs, der in seiner Wucht und Dimensionierung gar nicht überschätzt werden kann.“ Von den Folgewirkungen entwerfen sie zwei Szenarien, bei denen die Tradition der Himmel-Hölle-Alternative anklingt: In erklärter Distanz zur „Hexenküche der Rationalisierungsexperten“ stellen sie das „technokratisch-bornierte“ dem „empirisch-unideologischen“ Produktionskonzept“ gegenüber. Keine Frage, welcher Alternative ihre Sympathie gehört.

Gegen Schluss schießen sie scharf, und da ahnt der Leser, wer mit den „falschen Propheten“ gemeint ist. Es beginnt mit dem Satz: „Visionen sind wieder gefragt.“ Dann nehmen die Autoren die „Theoretiker des ‚Postindustrialismus’“ aufs Korn, allen voran André Gorz, den 1924 in Wien geborenen Vordenker der französischen Linken, der gerade 1983 ein Büchlein „Les chemins du paradis“, „Wege ins Paradies“, publiziert hat, wo er die Abschaffung der Lohnarbeit als Ziel setzt, da diese durch die Automation überflüssig gemacht werde. Das steht ganz in der Tradition von Fourastiés „Großer Hoffnung“. Gorz bekennt sich emphatisch zur Orientierung auf die Zukunft; purer Realismus werde in der „mikroelektronischen Revolution“ der Gegenwart destruktiv. Kern und Schumann dagegen machen aus ihm einen Ideologen, der ganz vom Horror vor der Vergangenheit her denkt, nicht im Blick auf ein klar durchdachtes Konzept von der Zukunft.

Begriffswirrwarr
„Post“-Begriffskomposita werden zu jener Zeit große Mode: „Postmoderne“, „Postfordismus“, „Posthistoire“, sogar „Posthumanismus“. Die neuen Zukunftsbegriffe definieren sich nicht durch ein vor, sondern durch ein nach. Dem setzen Kern und Schumann ihre „Neoindustrialisierung“ entgegen. Kein Zweifel: Die Industrialisierung ist nicht zu Ende; was allerdings die Essenz des neuen „Neuen“ ist, bleibt in der Schwebe. Kern und Schumann werfen Gorz vor, bei ihm werde die „Banalisierung von Arbeit“ – tatsächlich ein Gorz’scher Begriff – „geradezu zum politischen Programm“: als ob in Zukunft der qualifizierte Facharbeiter nicht mehr gefragt sei. Aus einer Analyse der aktuellen Arbeitswelt lasse sich das nicht im Mindesten begründen: „Hier hilft offenbar nur der große Zug aus der Pulle Zukunft.“ Ein flapsiger Seitenhieb, wie geschaffen zum Motto einer kritischen Zukunftsgeschichte! In der Tat hat das Dauerpalaver über die „Zukunft der Arbeit“ – als ob es „die“ Zukunft „der“ Arbeit gebe! – nicht selten von einem genauen Hinschauen auf die Gegenwart der Arbeit abgehalten.

Zum Schluss ein Sprung zu einem zukunftssicheren Signal der Gegenwart: Auf der Hannovermesse 2011 gab Bundeswirtschaftsminister Gabriel die Parole „Industrie 4.0“ aus: Das war ein modisches Kürzel für die Vierte Industrielle Revolution und zugleich Richtziel für einen neuen Schub staatlicher Innovationsförderung. Der Begriff schlug prompt ein und war bald in aller Munde, ob in Wirtschafts- oder Gewerkschaftskreisen. Manche, die „Industrie 4.0“ für eine modische Begriffsblase halten, klagen heute, man werde in Debatten über die aktuelle Ökonomie nicht mehr für voll genommen, wenn man nicht von „Industrie 4.0“ rede; andere sind bei diesem Thema hin und her gerissen zwischen Emphase und Sarkasmus.

Wikipedia liefert seit geraumer Zeit immer neuew Definitionen; neuerdings die folgende: „Industrie 4.0“ soll die Verzahnung der industriellen Produktion „mit modernster Informations- und Kommunikationstechnik“ bezeichnen. Dabei sind die Ziele nicht neu: Es handele sich vielmehr im Wesentlichen um „klassische Ziele der produzierenden Industrie wie Qualität, Kosten- und Zeiteffizienz, Flexibilität, Wandlungsfähigkeit sowie Robustheit (oder Resilienz) in volatilen Märkten.“ Von der Ligna, der Holzmaschinenmesse in Hannover, wird 2015 mit ironischem Ton berichtet, „wieder einmal“ „reden sie  … alle über Industrie 4.0. Wie üblich versteht jeder etwas anderes darunter. Es fällt allerdings auf, wie vertraut die Möbelindustrie mit ‚vollständig verketteter, automatisierter, sich selbst optimierender … Fertigung ist“. Da bekomme man zu hören, dass „die ostwestfälischen Küchenfirmen … ihre 4.0-Projekte seit den 90er Jahren ganz ohne öffentliche Förderprojekte … realisiert“ hätten.

Ausgerechnet in der regionalen Möbelbranche, die kein High-tech-Image besitzt und der die natürliche Unregelmäßigkeit des Holzes zu schaffen macht, „Industrie 4.0“ als alter Hut? Oder doch weit mehr? Wenn darunter ein Nonplusultra an Rationalisierung zugleich mit Flexibilität und prompter Befriedigung individueller Kundenwünsche begriffen wird, besitzt die mit „Industrie 4.0“ suggerierte Zukunft bei allem scheinbar stocknüchternen Realismus insgeheim eine eschatologische Qualität: Was kann danach noch groß kommen?


Weitere Beispiele
… für Künstliche Intelligenz in der Anwendung finden Sie auf unserer Website unter www.rotary.de/ki

Joachim Radkau
Joachim Radkau ist Emeritus der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Zuletzt erschien „Geschichte der Zukunft: Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute“, (Carl Hanser Verlag, 2. Auflage 2017). joachim-radkau.de