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Fachkraft oder Fachidiot?

Forum - Fachkraft oder Fachidiot?
Dringend benötigt werden ausgebildete Fachkräfte in den Pflegeberufen © Stock 48-rf

Der Fall der Meisterpflicht im Handwerk, gesunkene Anforderungen, krude Aus- und Weiterbildungen mit dubiosen Zertifikaten: Der Fachkräftemangel ist nicht länger quantitativer Natur, sondern qualitativer.

Jörn-Axel Meyer01.06.2019

Unternehmen beklagen ihn seit Jahren, Studien bestätigen ihn regelmäßig: Deutschland leidet unter einem Mangel an Fachkräften, vom Gesellen oder Meister bis hin zu Absolventen der Fachhochschulen und Universitäten. Dabei ist der Fachkräftemangel nicht nur in den technischen Berufen, bei Technikern, Ingenieuren und IT-Spezialisten besonders groß, sondern auch in Pflegeberufen, im Handwerk und in der Erziehung und Bildung.

Immer mehr Studierende
Gleichwohl, die erschreckenden Prognosen, die noch vor fünf bis zehn Jahren mehrere Millionen fehlende Akademiker und sonstige Fachkräfte vorhersagten, sind bislang nicht eingetreten. Und so relativieren jüngere Studien die früheren Zahlen und erkennen den Mangel primär in den oben genannten Berufsfeldern. Einige ernst zu nehmende Journalisten stellen den Fachkräftemangel sogar grundsätzlich infrage.

Ist nunmehr der angekündigte Fachkräftemangel „ausgefallen“? Mitnichten, aber es gibt auch Entwicklungen, die dem prognostizierten Mangel entgegenwirken: Auf der Angebotsseite sehen wir mehr Studierende an den Hochschulen, mit kürzerem Studium und erleichtertem Zugang, unter anderem durch Substitution wissenschaftlicher Vorbildung durch Praxiserfahrung (etwa für den Zugang zu wissenschaftlichen Hochschulen oder zur Promotion), durch die erleichterte Anerkennung ausländischer Abschlüsse und die generelle Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland. Hinzu kommen neu akkreditierte, häufig nicht öffentlich getragene Bildungseinrichtungen, die Senkung der Fachanforderungen für die Ausübung bestimmter Berufe und die gezielte Nachqualifizierung von Arbeitskräften ohne Abschluss. Auf der Nachfrageseite entspannen unter anderem die Fortbildung bestehender, älterer Mitarbeiter und die damit verbundene Abkehr vom Jugendwahn angelsächsischer Personalphilosophien die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Anhebung der Renteneintrittsalter den Markt.

Masse statt Klasse
Allen Entwicklungen, ob sinnvoll oder nicht, ist eines gemein: Dem Mangel wird dadurch begegnet, dass möglichst viele Menschen schnell und leicht Abschlüsse und Grade erlangen, indem die Durchlässigkeit im Bildungssystem erhöht wird. Was grundsätzlich sinnvoll und erstrebenswert ist, kann allerdings dazu führen, dass das Land mit Titeln, Graden und Abschlüssen überflutet wird, die am Ende nicht die gewünschten oder erwarteten Fachkompetenzen repräsentieren und zudem kaum mehr zu differenzieren sind. Nicht der Titel, sondern die Qualität der Ausbildung führt zur Fachkraft.

Fachkräftemangel wird dann aber zu einem qualitativen Mangel, wenn Unternehmen zwar genügend Bewerber finden, aber nur wenige geeignet sind. Wie viele Unternehmer, aber auch Personalberater derzeit bemängeln, mangelt es Firmen oft nicht an der absoluten Zahl von Bewerbern, sondern an geeigneten Kandidaten – es ist ein qualitativer Fachkräftemangel. Viele Unternehmen beklagen jenseits fehlender grundlegender Fähigkeiten im Fach auch mangelnden Willen, fehlende Motivation und seltene Fähigkeiten, über den Tellerrand hinauszuschauen – oft gepaart mit Selbstüberschätzung.

Das Problem ist nicht neu, erhält aber in Zeiten des rein quantitativen Rufs nach mehr Fachkräften und in einem Umfeld mit einem signifikant gestiegenen Streben nach akademischen Ehren in der Gesellschaft zusätzlichen Antrieb mit der Folge fataler Fehlentwicklungen in der Ausbildung und deren Darstellung in der Gesellschaft: Statt das Niveau der Ausbildung zu fördern und der Komplexität der Gesellschaft anzupassen sowie die unterschiedlichen Ansprüche der Bildungsangebote nachvollziehbar zu differenzieren, wird das Land mit in ihrer Qualität nicht mehr unterscheidbaren Abschlüssen und Titeln überschüttet, jegliches Bemühen um mehr Wissen sogleich ambitioniert tituliert und werden Voraussetzungen zur Berufsausübung, zum Beispiel der Meisterabschluss im Handwerk, fallen gelassen. So werden zwar faktisch mehr so bezeichnete Fachkräfte produziert, die Qualität dieser aber nicht gefördert. Und nicht jeder mag zum wissenschaftlichen Studium geeignet sein, und letztendlich wird auch eine Elite-Universität aus unbegabten Studierenden kaum begabte machen können.

So mündet die Forderung nach mehr Hochschulabsolventen nicht nur ins Streben der Hochschulen nach mehr Studierenden, einem schnelleren Studium und vereinfachtem Zugang, sondern führt zu verschulten, fachlich engen und ausschließlich auf die Wissensvermittlung ausgerichteten Ausbildungen, statt – wie heute so wichtig – Denken, Urteilskraft und akademische Grundwerte zu vermitteln.

In diesem Sinne wurden in letzter Zeit immer wieder einige der im Zuge des Bologna-Prozesses eingerichtete Masterund Bachelor-Studiengänge kritisiert. Denn in dessen Folge entstanden viele Curricula, die nur eine Aneinanderreihung von Kursen ohne ein ganzheitliches Verständnis des Fachs bieten, und deren Inhalte von Dozenten vermittelt werden, deren Qualität darin besteht, dass sie sich mit Blick auf schöne Titel aus der Lehrtätigkeit als Pädagogen berufen fühlen. Gerade das Fehlen eines ganzheitlichen Denkens rächt sich später für die Unternehmen, wenn die Mitarbeiter im Studium nur Wissen statt Denkweise und das Abarbeiten und -haken von Einzelkursen statt grundsätzlichem Verständnis gelernt haben. Eine komplexe und interdisziplinäre Welt verlangt aber flexibel und plural denkende Mitarbeiter.

Dass es anders geht, zeigt sich in den USA: Selbst die Bachelor-Ausbildung wird zunehmend zu einer „Education of the Mind“. Die Unternehmen übernehmen es, den Absolventen die unternehmensrelevanten, praxisspezifischen Inhalte zu vermitteln. Kombiniert mit der Pflicht zu umfassenden Praktika, wäre dies auch in Deutschland sinnvoll, allerdings wird hier noch unter der Flagge einer wie auch immer zu definierenden Praxisorientierung versucht, isolierte und kurzfristige Bedarfe einzelner Branchen in die Bachelor- und sogar Master-Ausbildung einzubauen.

Master für Körperpflege
Welche Qualität hinter den Ausbildungen steht, ist so kaum mehr zu beurteilen. Und die Unsicherheit erstreckt sich nicht nur auf die Studiengänge selbst, sondern auch auf die in den letzten Jahren schnell gestiegene Zahl neuer, zum Teil selbst ernannter Hochschulen. Es sind Bildungsstätten mit dem wie auch immer erlangten Recht, geschützte deutsche oder internationale Abschlüsse zu verleihen, was nur zu gern in Prospekten und auf Internetseiten mit Bildern von aufmerksamen und fleißigen Studierenden hervorgehoben wird. Für Externe ist eine Bewertung des tatsächlichen Anspruchs und der Bedingungen der dortigen Ausbildung nur schwer möglich, für unbekannte, im Ausland ansässige Institutionen unmöglich. So besteht die Gefahr, dass Titel und Verpackung über ein anspruchsloses Curriculum und eine fehlende fundierte, akademische Ausbildung hinwegtäuschen.

Und so präsentieren sich vermehrt Absolventen am Markt mit BA- und MA-Abschlüssen in fantasievollen Anglizismen, die bei wohlklingenden Institutionen erworben wurden, deren Rang und Herkunft kaum einzuschätzen sind. Bei einigen neuen Studiengängen darf da schon mal a priori akademischer Anspruch und Sinnhaftigkeit hinterfragt werden, so zum Beispiel beim Master für Körperpflege, für vegane Ernährung, für europäische Hebammenwissenschaften, für angewandte Sexualwissenschaften, für angewandte Freizeitwissenschaften oder (in Großbritannien) beim Master of Arts in Beatles, Popular Music and Society. Auch mag die Frage berechtigt sein, ob Event-Management ein wissenschaftliches Studium begründet, ebenso die Ausbildung zum Master of Akupressur (in Skandinavien kein seltenes Bildungsangebot) oder Diplom-Freizeitbetreuer.

Auf anderen Ausbildungsebenen jenseits der Hochschulen finden sich ebenso fantasievolle Blüten, womit wohl auch eine verbale Nähe zu den Hochschulabschlüssen erzeugt werden soll. So ist leicht der ungeschützte „Betriebswirt“ mit dem „Dipl.-Betriebswirt“ (geschützt) zu verwechseln. Nur zu oft bleibt unklar, was sich hinter den Bezeichnungen „zertifiziert“ oder „anerkannt“ verbirgt, wer dies geprüft oder verliehen hat. Beispielsweise gibt es auch zertifizierte Stripteaselehrer. Auch darf bei Zusätzen wie „diplomiert“ oder gar „akademisch geprüftem Kaufmann“ sowie „Diplom Service Berater“ genauer nachgefragt werden. Und ein „staatlich geprüfter“ Schluchten- beziehungsweise Schneeschuhführer mag zwar eine Vertrauen verdienende Fachkraft sein, die Bezeichnung allein wirkt aber etwas überambitioniert.

Im Schlepptau dieser Entwicklung ist ebenso eine Renaissance der Abschlüsse, Grade und Titel zu erkennen, die nicht geschützt sind, keine fachlichen Voraussetzungen verlangen, aber den Eindruck einer formal anerkannten Fachkraft vermitteln sollen. Gerne verwendet von sehr kommerziell getriebenen Ausbildungsstätten, aber auch von Privatpersonen mit quälendem Statusbedürfnis. So finden wir in Deutschland Schulen, die ihre Schüler als „Students“ bezeichnen und diese sich zur „Verleihung“ des Abiturs oder IBs in Talar und Doktorhut einfinden.

Was draufsteht, muss auch drin sein
Die vielen neuen Abschlüsse, Titel und Bildungsstätten werden zum Problem, wenn sie nicht mehr ohne profundes Wissen zu differenzieren sind oder über die Fachkompetenz hinwegtäuschen – etwa für jeden Bürger, der eine Heilbehandlung sucht. Die falsche Wahl kann da schnell zur Gefahr für die Gesundheit werden. Es ist aber besonders ein Problem für Unternehmen und Freiberufler, die ohne HR-Spezialisten Mitarbeiter suchen oder sich dazu an einen Berater oder Coach wenden. Die falsche Auswahl kann zu erheblichen Kosten, ja sogar zum Verlust von Kunden führen, wenn der Bewerber – einmal eingestellt – die Erwartungen nicht erfüllt. Projekte bleiben liegen und neue Mitarbeiter müssen gesucht und eingearbeitet werden.

Was zu ändern ist? Wir brauchen keine neuen Grade, Abschlüsse und Titel. Es ergibt auch wenig Sinn, Zugangsbedingungen und das Ausbildungsniveau zu senken, nur um mehr Fachkräfte leichter und schneller zu produzieren. Ausbildungen und Bildungsstätten müssen vielmehr allgemein verbindlichen, verlässlichen und transparenten Qualitätskriterien und Zugangsvoraussetzungen unterliegen – und damit eindeutiger und besser differenzierbar und bewertbar sein. Was draufsteht, muss auch drin sein – das gilt auch hier.

Jörn-Axel Meyer
Dr. Jörn-Axel Meyer (RC Berlin-Tiergarten) ist Universitätsprofessor und wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für kleine und mittlere Unternehmen in Berlin. dikmu.de